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Das Strafgesetz.

IX. Des bestehenden Gesetzes anerkennenswertster Zweck und grausame Wirkung.

§ 59. Das bestehende Gesetz setzt voraus: bei uns sei noch die allgemeine Geschlechts-Natur vorhanden, die nichturnische, als eine zurückgedrängte; und nun verfolgt es den Zweck:

zur Natur, von der wir abtrünnig geworden seien, uns durch Strafandrohung gewaltsam zurückzuführen.

Dieser Zweck wäre jedenfalls zu billigen. (Ob auch dieses Mittel? bleibe dahingestellt.) Wäre nur die Voraussetzung eine richtige!

Nun aber trifft die Voraussetzung nicht zu, indem wir auf dem Standpunkt der Natur schon stehn. Wir können zur Natur daher nicht mehr zurückgeführt werden.

§ 60. Thatsächlich verfolgt somit das Gesetz den widersinnigen, und noch dazu absolut unerreichbaren, Zweck:

in einer Classe von Menschen die ihnen von höherer Hand eingepflanzte wahrhafte Natur gewaltsam auszurotten, beziehungsweise in eine andre, ihr ewig fremde, gewaltsam hinüberzudrängen.

Da nun aber auch die urnische Statur, eben weil sie wahre und unwandelbare Natur ist, vor Gott und Menschen ihre Rechte hat, so ist nicht nur jener thatsächlich verfolgte Zweck des bestehenden Gesetzes widersinnig und unerreichbar: vielmehr ist das Gesetz selbst (mag es immerhin von der redlichsten Absicht eingegeben sein) in Wahrheit offenbar grausam und rechtsverletzend.

Des Gesetzes thatsächlich, ganz gegen seine wohlmeinende Absicht, verfolgter Zweck ist eine directe Verletzung der Menschenrechte.

§ 61. Der Gesetzgeber hat gar nicht das Recht, das allen Menschen angeborne Menschenrecht auf das höchste Glück, das die Erde beut, aus Liebe und Liebesglück, gerade dem Urning lebenslang abzuschneiden. Das Leben ist so kurz: und gerade die duftendsten Früchte, die es zeitigt, während ihr an voller Tafel sie kostet, uns wollte er sie zwar zeigen, auf Lebenszeit aber von ihnen zu kosten uns verbieten? uns den Qualen des Tantalus überliefern? Wer gab ihm ein Recht dazu?

Wie gesagt: es ist dies auch keinesweges des Gesetzgebers Absicht! Nun, wohlan: so lasse er seine Gesetze mit seinen gerechten Absichten denn auch thatsächlich übereinstimmen! Er gebe uns unser Menschenrecht zurück! und den wegen urnischer Liebe im Kerker schmachtenden die Freiheit!

X. Straflosigkeit mannmännlicher Liebe in Frankreich und Baiern

§ 62. Das Verdienst, urnische Liebe zuerst für straflos erklärt zu haben, gebührt Frankreich. Der code pénal von 1810 ließ alle betr. früheren Strafbestimmungen einfach aus. Vermeiden wollte er, wie Chauveau und Hélie mittheilen Théorie du code pénal. Paris 1835–1842, vol. VI. page 110.:

» die schmutzigen und scandalösen Untersuchungen, welche so häufig das Familienleben durchwühlen und erst recht Aergerniß geben

Nach dem Zeugniß aller französischen Practiker fühlt man von der Freigebung keinen Nachtheil. So versichert ausdrücklich Mittermaier in seiner Herausgabe von Feuerbach's peinl. Recht, 1847, zu § 467.

§ 63. 1813 folgte Baiern Auch dort wurden die Strafbestimmungen gegen mannmännliche Liebe einfach gestrichen, und zwar aus folgendem Grunde: Anmerkungen zum Strafgesetzbuch für das Königreich Baiern (von 1813). Nach den Protokollen etc. etc. (Amtliche Ausgabe.) Bd. II. S. 59.

»So lange der Mensch durch unzüchtige Handlungen nur die Gebote der Moral überschreitet, ohne eines andren Rechte zu verletzen, ist im gegenwärtigen Gesetz über dieselben nichts bestimmt worden.« (D. h. sind sie nicht für strafbar erklärt worden.) .... » Zur Sphäre der Gesetzgebung gehören sie nicht, so lange durch sie nicht andrer Rechte verletzt werden

Um wie viel weniger aber verdient mannmännliche Liebe bestraft zu werden, wenn sie nur ein Genügeleisten ist gegen die Winke reiner Natur, wenn sie entspricht dem Rechte der Natur, ohne Menschenwürde oder Sittengesetz zu verletzen?

Baiern erließ am 10. Nov. 1861 ein neues Strafgesetzbuch. Die Regierung hatte in einem Entwurf dazu von 1855, im Art. 217, die alte Bestrafung der urnischen Liebe wiederherstellen wollen; wogegen der Ausschuß der II. Kammer von 1856 und 1857 sich indeß entschieden sträubte; in Folge dessen 1861 die Bestrafung denn auch nicht wieder eingeführt ward. Anmerk. d. Herausgebers: nicht wieder eingeführt ward: Hirschfeld merkt in der Neuausgabe von 1898 (S. 77) an: »Mit dem deutschen Reichstrafgesetzbuch trat in Bayern erst die alte Bestrafung wieder in Kraft.«

Der code pénal gilt heute mit seiner Freigebung urnischer Liebe namentlich in Frankreich, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden.

§ 64. Nach code pénal und bairischem Gesetz wird urnische Liebesübung nur unter denselben Voraussetzungen bestraft, unter welchen Liebesübung an Weibern bestraft wird, nämlich: wenn entweder Rechte verletzt sind (durch ausgeübten oder angedrohten Zwang, durch Mißbrauch von Kindern u. dgl.) oder wenn geschlechtliche Handlungen vor den Augen des Publicums, also in schamloser Weise, ausgeübt wurden. In allen andren Fällen ist die eine wie die andre Liebe vollkommen straffrei.

§ 65. In Frankreich, in Luxemburg und in Baiern bleibt der Urning also im ruhigen Besitz seiner Freiheit und der Achtung seiner Mitbürger: während er z. B. in Bremen in's Zuchthaus gesperrt wird und der rohe Haufe, nicht nur ungebildeter, sondern auch gebildeter, ihn betrachtet als einen infamen, der seine Ehre verwirkt und auf Menschenglück hinfort nicht mehr Anspruch habe. Ist's nicht haarsträubend?

Wie lange wird Norddeutschland säumen, den Vorbildern geläuterter Gesetzgebung nachzufolgen und durch Streichung ererbter Strafbestimmungen ererbte Schuld zu sühnen?

§ 66. De lege lata. Doch wird es einer ausdrücklichen Streichung kaum bedürfen, wenn die Gerichte Grolmann's wohlbegründeten Lehrsatz des geltenden Rechts zur Anwendung bringen Criminalrechtswissenschaft 1798; § 559.:

»Ein Gesetz, welches auf einer anerkannt unrichtigen Vorstellung von der Sache, von der es redet, beruht, hat für uns nicht mehr Gesetzeskraft

Sobald der urnischen Liebe Angeborensein anerkannt sein wird, würde mit diesem einen Lehrsätze ganz allein das ererbte Verfolgungs-System zu Boden geschlagen sein: gleichwie einst das System der Hexenverfolgungen mit eben diesem Lehrsätze abstarb, sobald man anerkannte, man habe zuvor unrichtige Vorstellungen gehegt über Hexenkünste. Dort vermeintliche Hexenkünste: hier vermeintliche Abweichung von der Natur, vermeintliches Auflehnen gegen die Natur, vermeintliche Naturwidrigkeit.

XI. Trauriger Ruhm Bremens; Selbstmord von 1866. Morgenröthe eines besseren Tages von Oesterreich her.

§ 67. Einen traurigen Ruhm erwirbt sich gegenwärtig, wenn auch in der Ueberzeugung recht zu handeln, die freie Stadt Bremen, indem sie in der Verfolgung der Natur sich ganz besonders hervorthut.

Auch die mauergekrönte und auf Martyrergräbern aufgebaute Stadt, in der ich diese Worte schreibe, hat sich dereinst einen trüb glänzenden Ruhm erworben, indem sie, ebenfalls in der Ueberzeugung recht zu handeln, sich hervorthat im Verbrennen von Hexen.

Wenn es in Würzburger Chroniken über das Jahr 1634 heißt:

»Im ersten Brande 3 Hexen gebrannt, im zweiten Brande 5 dito.«

so frage ich: welche Stadt hat sich ein tieferes Brandmal ausgeprägt? Würzburg, wenn es in der Zeit der Finsterniß, im Wahne Gott wohlgefällig zu handeln, 3 und 5 und 100 Hexen verbrannte, oder Bremen, wenn es in der Zeit der Aufklärung, des Fortschritts, des Rechtsstaats, mit einem Wort wenn es im 19. Jahrhundert in dem Zeitraum von December 1864 bis December 1867 allein 4 berechtigten Staatsbürgern, 4 Menschen – welche den Forderungen der Natur und dem Rechte der Natur gefolgt waren und welche in Wahrheit in gar nichts sich vergangen hatten – durch Criminaluntersuchungen Ehre und Lebensglück mit Füßen getreten hat?

§ 68. O Schande, o Blutschuld! Am 19. Dec. 1864 haben die Richter Focke, Migault und v. Gröning den Ludwig Alexa wegen mannmännlicher Liebesübung zu 9monatigem Zuchthaus verurtheilt.

Im Jahre 1866 hat man über 2 Urninge wegen des gleichen Betreffs Criminaluntersuchung verhängt und sie in den Kerker geworfen. Diese Schande wollte der eine nicht überleben; weßhalb er im Sept. 1866 im Gefängniß sich selbst entleibt hat! Kaufmann Mühlberg, Bürger, 40 Jahre alt (unverheirathet), angeklagt: mit 3 Soldaten Umgang gepflogen zu haben. Wenn früher diejenigen, die man wegen vermeintlicher Hexerei in Untersuchungshaft schmachten ließ, sich selbst entleibt hatten, so sagte man:

»Siehe da! der Teufel hat sie geholt!« Wer aber hat denn diesen geholt, dessen entstellten Leichnam man in der Dämmerung aus der Zelle hinausschaffen mußte? Wie will man vom Fußboden dieser Zelle den Blutfleck abwaschen? Man sagt mir: »Aber er nahm einen Strick; er endete ohne einen Tropfen Blutes zu vergießen.« Ja so! Ich irrte mich. Und Lady Macbeth irrte ebenfalls. Wie kann man nur so einfältig phantasiren! Ihre Hand war ja so weiß, so sauber, so frei von jedem zurückgebliebenen Blut, von jeder Spur eines rothen Flecks, wie – nun ja, wie die Zelle des Criminal-Untersuchungsgefängnisses zu Bremen! – – Und mich will bedünken: es klebte doch etwas daran, was an andren Händen und an andren Zellen nicht klebt!

O diese Zelle! diese laut redende Zeugin von der Criminaljustiz des 19. Jahrhunderts! In Genf zeigt man durchreisenden Fremden noch – als Rarität – den Kerker, in welchem die Criminaljustiz des 16. Jahrhunderts einen Servet gefangen hielt, weil sein Trinitätsbegriff von dem der Reformirten abwich, bis sie ihn endlich, in bester Form Rechtens und im strengsten Pflichtgefühl, »wegen Ketzerei« zum Schaffot führten. Auch Bremen besitzt jetzt eine Rarität. Auch in Bremen wird man künftig eine Zelle zeigen: die Zelle, in der durch eine Criminaluntersuchung – die die Justiz des 19. Jahrhunderts in bester Form Rechtens verhängte und gleichfalls im strengsten Pflichtgefühl – die Natur zu Tode gequält ward!

§ 69. Und kaum ist ein Jahr vorüber, kaum hat jene blutfreie Zelle durch einjähriges Leerstehen ihren Leichengeruch verloren: so bringen sie am 3. October 1867 auf's neue einen Menschen hinein – den besten Staatsbürger, den treuesten Freund, den redlichsten Charakter – wegen vermeintlicher Naturwidrigkeit. Angeklagte sind:
     1) Theaterdirector Feldtmann zu Bremen als liebender Theil; als geliebter Theil:
     2) Gruner aus Erichsburg im Königreich Hannover,
     3) Seib aus Bremen,
     4) Bengnot aus New-Orleans, alle drei 19 Jahre alt.
Und noch heute muß er darin schmachten, am 7. Dec. Welche Sühne wird man ihm gewähren? und welche Sühne dem Alexa? und welche Sühne dem bleichen Schatten des zum Selbstmord getriebenen?

§ 70. Dieser aber wird nicht zum Strick greifen: denn, siehe! schon bricht in der Ferne die Morgenröthe eines besseren Tages an, von der ein Strahl auch bis in die Kerkereinsamkeit seiner dunklen Zelle gedrungen ist. Er wird, er muß das letzte der Opfer sein, die dem Wahn von der Naturwidrigkeit unsrer Liebe dargebracht werden.

Und jenes Licht: von Oesterreich geht es aus.

Am 26. Juni 1867 hat der österreichische Justizminister dem Reichsrath den Gesetzentwurf zu einem neuen Strafgesetz vorgelegt mit den Worten:

»Die kaiserl. Regierung ist den Forschungen der Wissenschaft mit Aufmerksamkeit gefolgt. Die Ergebnisse dieser Forschungen hat sie in diesem Gesetzentwurf verwerthet.«

Dieser Gesetzentwurf wird gegenwärtig im Ausschuß berathen. Man hat ihn mir aus Wien zugesandt. Dieser Regierungsentwurf hat sich entschlossen, die von der Wissenschaft bereits verworfene, die als Barbarei erkannte Verfolgung dieser Liebe gänzlich fallen zu lassen. Auch er, gleich dem französischen und bairischen Gesetz, hat urnische Liebesübung aus der Reihe der Verbrechen gänzlich gestrichen.

Wie lange wird Bremen, wie lange wird Preußen, wie lange wird Norddeutschland an den Forschungen der Wissenschaft, die zu dieser Streichung führen, kalt vorübergehn? Wann endlich wird in diesen Landen die Verfolgung gesättigt sein?

Du aber seist mir gepriesen, o Oesterreich! Anmerk. d. Herausgebers: Du aber seist mir gepriesen, o Oesterreich!: Hirschfeld merkt in der Neuausgabe von 1898 (S. 81) an: »Dieser Strafgesetzentwurf des Justizministers von Komer fand nicht die Annahme des Reichsrats, sodaß in Oesterreich noch heute die Bestimmung fortbesteht, welche nicht nur den homosexuellen Verkehr der Männer, sondern auch den der Frauen mit Strafe bedroht.«

XII. Aufforderung tut Deutschlands Gesetzgeber.

§ 71. Ich muß nun zwar anerkennen, daß einer Gesetzgebung aus dieser von den Vätern ererbten Verfolgung ein erheblicher Vorwurf an sich nicht zu machen ist, so lange die betheiligte Menschenclasse selber so feig ist, mit ihrer Stimme schüchtern zurückzuhalten. Ebenso aber wird man andrerseits bereit sein anzuerkennen, daß – will jemand den Entschluß fassen und zur That werden lassen: der erste zu sein, um den Gesetzgeber furchtlos und freimüthig um Gehör zu bitten – solchem Beginnen wenigstens ein redliches Bestreben zum Grunde liege und auch eine sittliche Berechtigung ihm innewohne.

Ich aber habe es einmal zur Aufgabe meines Lebens gemacht, in dieser Sache für die verfolgten um Gerechtigkeit zu bitten.

Ich stehe nicht vereinzelt da. Es stehn Hunderte, ja tausende, hinter mir. Sie alle flehen mit mir um Gerechtigkeit!

§ 72. Hienach ergeht an alle Gesetzgeber des übrigen Deutschlands, unter Erinnerung an ihre Verantwortlichkeit und unter Appell an ihr Gerechtigkeitsgefühl, die Aufforderung:

1) nach dem Muster Oesterreichs, Bayerns u. Luxemburgs, und in Erwägung des nur zu lange schon unbeachtet gebliebenen und von der Strafjustiz verletzten Rechts der Natur – mannmännlicher Liebe Gleichheit vor dem Gesetz zu gewähren mit der Liebe zu Weibern, demnach alle Bestimmungen, welche speciell mannmännliche Liebesübung für strafbar erklären, fordersamst aufzuheben;

2) alle diejenigen aber, welche unter der Anklage mannmännlicher Liebesübung in Untersuchungs- oder in Straf-Haft sich befinden, – unter Niederschlagung der Untersuchung, beziehungsweise unter Vernichtung des Straferkenntnisses, sowie unter Rückgabe der ihnen etwa entzogenen Ehrenrechte, – fordersamst in Freiheit zu setzen.

Jeder zögernde ist verantwortlich vor dem ungerecht verfolgten für des Zögerns jegliche Minute!

Würzburg, 7. Dec. 1867.

Karl Heinrich Ulrichs.


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