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Vorwort

Ulrichs Auftritt vor dem Deutschen Juristentag in München am 29. August 1867, den er in Gladius furens auf dramatische Weise schildert, muß als eines der denkwürdigsten Ereignisse in der Geschichte der Homosexuellenemanzipation angesehen werden: Zum erstenmal forderte ein Homosexueller öffentlich für sich und seine Gefährten die moralischen und gesetzlichen Rechte ein. Diese Tat, die ohne Vorbild war, macht Ulrichs zum Pionier der modernen Schwulenbewegung. Er war damit seiner Zeit weit voraus, denn seine heroische Aktion führte damals noch keineswegs zu einer Bewegung oder zu einer Organisation, die sich für die Rechte der Homosexuellen einsetzte. Das geschah erst gegen Ende des Jahrhunderts, als Magnus Hirschfeld und andere das Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee gründeten. Und Ulrichs’ Beispiel eines öffentlichen ›Coming out‹ fand erst ein Jahrhundert später zahlreiche Nachahmer. (Es sei daran erinnert, daß auch Hirschfeld seine Homosexualität nie öffentlich zugestanden hat.) Wenn Hirschfeld als ›Vater‹ der Schwulenemanzipation bezeichnet wird, kann Ulrichs zu Recht als der ›Großvater‹ der Schwulenemanzipation betrachtet werden Anmerk. d. Herausgebers: John Lauritsen – David Thorstad, Die frühe Homosexuellenbewegung, 1864-1935 (1984) S. 10. .

Hirschfeld selbst hat dies auch so gesehen, als er 1909 schrieb: »Sollte sich später einmal ein Geschichtsschreiber mit dem Emanzipationskampf beschäftigen, dem wir unsere Arbeit gewidmet haben, so dürfte er in der Komitee-Tätigkeit wohl den zweiten Vorstoß und Waffengang gegen den verhängnisvollen Erkenntnismangel erblicken, welcher so vielen Menschen Leben und Lebensglück gekostet hat. Den ersten Ansturm unternahm Karl Heinrich Ulrichs in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.« Anmerk. d. Herausgebers: Zitiert bei Lauritsen – Thorstad S. 67.

Die zwei Jahre zwischen seinen ersten fünf Schriften mit »Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe« Anmerk. d. Herausgebers: Zusammengefaßt in Band I dieser Neuausgabe. und seinem Auftritt vor dem Deutschen Juristentag waren für Ulrichs sehr ereignisreich. Nachdem er die Wahrheit über den Urning entdeckt zu haben glaubte, war er wie viele Reformer optimistisch, die Wahrheit werde akzeptiert und seine Sache werde siegen. Er wurde - wie konnte es anders sein - enttäuscht. Gewiß, es gab einzelne Leser, die sich in seinen Schriften wiedererkannten und ihm in diesem Sinne schrieben, doch die Gesellschaft wollte nicht hören, was er zu sagen hatte. Typisch dafür ist die Reaktion des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt am Main.

Am 20. Oktober 1859 ließ sich Ulrichs in Frankfurt nieder, das für die nächsten Jahre sein Wohnsitz blieb. Eine seiner ersten Aktivitäten dort war sein Beitritt zum ›Freien Deutschen Hochstift für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung‹, das 1859 gegründet worden war. Ulrichs ergriff auf den Sitzungen des Hochstifts, die mindestens einmal im Monat stattfanden, oft das Wort, und seine Beiträge zeigen den weiten Kreis seiner Interessen. Noch bevor Vindex und Inclusa, seine ersten Schriften, erschienen, reagierte man in Frankfurt negativ auf Ulrichs' Ideen: Sein oft formulierter Appell, auch die andere Seite anzuhören (›audiatur et altera pars‹), stieß im Hochstift auf taube Ohren: die Leitung erkannte ihm auf der Sitzung vom 22. März 1864 seine Mitgliedschaft ab. Der folgende Auszug aus dem Protokoll wurde Ulrichs am 5. April 1864 nach Achim geschickt:

Auf Vorlage eines literar. Eingangs von Hrn. Asses. Ulrichs ward befunden, daß der Absender wegen der gegen ihn schwebenden criminellen Verfolgung nicht mehr als Mitglied des Hochstifts zu betrachten sei, und in Folge dessen beschlossen, diesen Satz aus dem heutigen Sitzungs-Berichte Herrn Assessor a. D. C. Ulrichs zu Achim zur Kenntnisnahme mitzutheilen. Anmerk. d. Herausgebers: Zitiert in: H. Kennedy, Karl Heinrich Ulrichs (1990) S. 66.

Der »literarische Eingang« war offenbar das lange Gedicht Antinous, das Ulrichs am 8. Dezember 1863 in Achim geschrieben hatte (und das er später in Ara spei veröffentlichte). In diesem Gedicht schildert er den Tod des Antinous, des Günstlings des Kaisers Hadrian, der im Jahre 138 im Nil ertrank. Über Antinous heißt es:

Steht er nicht da, wie erzeugt aus dem Blut der Olympischen Götter?
Mit dem lockigen Haar und der blühenden Fülle der Glieder,
Mit dem leuchtenden Aug voll himmlisch blickender Unschuld
Mit den jungen Rosen auf thauig schwellenden Wangen?
Eros thront auf ihnen, entsendend zündende Blitze
In die Herzen der Weiber und aller Uranussöhne!

Ulrichs erzählt von Hadrians Liebe zu Antinous und von dessen Tod, als drei Nymphen ihn unter Wasser zogen. Die Götter erbarmten sich und schufen am Himmel ein Gestirn, das nach ihm benannt wurde:

Unserm Geschlecht eine Sprache, die, einstige Wonne verkündend,
Sehnsucht lindert und weckt, uranischer Liebe ein Zeugniß,
Bis die Erde vergeht und bis die Gestirne erbleichen. Anmerk. d. Herausgebers: Ara spei S. 89 und 93

Die Erwähnung der »Uranussöhne« und der »uranischen Liebe« bedurfte einer Erklärung, und zweifellos hat Ulrichs sie in einem Begleitschreiben gegeben. Er muß auch einen Brief des Justizministeriums in Hannover erwähnt haben; dies würde den Hinweis des Hochstifts auf die »gegen ihn schwebende criminelle Verfolgung« erklären. Vielleicht hatte man auch von Ulrichs’ sexuellen Aktivitäten erfahren. Sein Antwortschreiben an das Hochstift läßt dies vermuten, aber in seinen gedruckten Schriften gibt es keinen Hinweis darauf.

In seiner Antwort an das Hochstift stellt Ulrichs richtig, es handle sich nicht um eine »criminelle Verfolgung«, sondern um eine »Criminaluntersuchung«. Er schrieb allerdings nicht gleich nach dem Beschluß des Hochstifts, sondern es dauerte ein Jahr, ehe er am 28. März 1865 einen »Motivirten Protest« schickte. Die Verzögerung ergab sich aus seiner Absicht, alle fünf Schriften zur mannmännlichen Liebe der Jahre 1864/65 zur Klarstellung seiner Position seinem Protest beizufügen. Er verlangte, sie müßten geprüft werden, bevor das Stift begründet entscheiden könne, ob man ihn hinauswerfe oder nicht, und er bestand darauf, daß nicht eine, sondern zwei Personen diese Prüfung vornehmen müßten, wobei er seine persönlichen Feinde, den Medizinalrat Clemens und den Obmann Dr. Otto Volger, mit Entschiedenheit als Gutachter ablehnte.

Die Reaktion des Hochstifts ließ schon ahnen, wie man später allgemein auf Ulrichs’ gesammelte Schriften reagieren würde: Ohne auf seine Argumente einzugehen, warum die früher vorgebrachten Gründe für seine Entlassung nicht zuträfen (vermutlich war die ›Criminaluntersuchung‹ im Sande verlaufen), las man gerade genug von seinen Schriften, um einen anderen Vorwand zu finden, ihn hinauszuwerfen.

Auf der Sitzung des Freien Deutschen Hochstifts am 18. April 1865 wurde dann der folgende Beschluß gefaßt:

(a) Da Herr Ulrichs in seinen Schriften behauptet, daß es außer den bisher allein anerkannt gewesenen beiden Geschlechtern auch noch eine besondere, denselben nicht angehörige Art von menschlichen Wesen gebe, welche er Urninge nennt und da derselbe erklärt, selber zu diesen zu gehören, so sei wohl zu beachten, daß die Satzungen des F. D. H. von einer Zulässigkeit der Mitgliedschaft dieser Wesen keine Erwähnung thun und die Verwaltung den Herrn Ulrichs somit nicht als zur Mitgliedschaft berechtigt ansehen könne.

(b) Zu einer Prüfung der von Herrn Ulrichs aufgeworfenen Frage könne sich das F. D. H. nicht wohl herbeilassen.

(c) Sei somit über den Protest des Herrn Ulrichs zur Tagesordnung überzugehen und wolle sich die Verwaltung überhaupt, selbst auf allfällige weitere Veranlassung mit diesem, das Gefühl verletzenden Gegenstand nicht weiter behelligt sehen, weshalb etwaige fernere Zuschriften des Herrn Ulrichs zurückzuweisen oder bei Seite zu legen seien. Anmerk. d. Herausgebers: Zitiert in: Kennedy, Ulrichs 8. 68.

Dieser Beschluß wurde vom Sekretär Th. Schiedeck am 28. April 1865 Ulrichs zugeschickt. Ulrichs schrieb sofort eine »Gegendarstellung«, die er am 3. Mai nicht direkt an das Hochstift sandte, sondern an Schiedeck, zusammen mit einem Anschreiben, in dem er Schiedeck bat, ihm das Ergebnis mitzuteilen. Ulrichs wies natürlich darauf hin, daß die Begründung für seinen Ausschluß absurd sei, und fuhr weiter fort, mit derselben Begründung müßten sie auch eines ihrer ältesten Mitglieder ausschließen, das als Zierde für das Hochstift angesehen werde und schon früh in den Stiftsrat berufen worden sei. Er nannte nicht dessen Namen, drohte aber, dies zu tun, und sagte, es gebe Zeugen, die beweisen könnten, daß dieser ein Urning sei. Im Hochstift muß man gewußt haben, wen Ulrichs meinte.

Über den weiteren Verlauf der Auseinandersetzung wissen wir nichts, denn dies ist das letzte Dokument im Hochstift- Archiv, das Ulrichs betrifft. Es gibt keine Aufzeichnungen über etwaige spätere Aktionen, weder vom Hochstift noch von Ulrichs, und es war nicht Ulrichs’ Art, Urninge zu zwingen, aus ihrem Versteck herauszukommen.

Die staatlichen Behörden gaben Ulrichs keine Chance, entsprechend seinen Fähigkeiten in der Verwaltung ein Auskommen zu finden. Nach sechs Jahren im Staatsdienst im Königreich Hannover gab er im Dezember 1854 seine Stellung auf, um einem Disziplinarverfahren zuvorzukommen. Seine Vorgesetzten waren über seine sexuellen Aktivitäten informiert worden, und dieses Wissen wurde mehrfach gegen ihn verwendet. So schrieb Ulrichs z. B. am 8. März 1865 an das Justizministerium in Hannover:

Da ich gegenwärtig aufgefordert bin, mich um die erledigte Bürgermeisterstelle der Stadt Uslar zu bewerben, mir auch bereits Aussicht, von den wahlberechtigten Collegien gewählt zu werden, eröffnet ist, so bitte ich ehrfurchtsvoll: aus der fraglichen Zeit mir geneigtest über meine dienstliche Thätigkeit im Justizdienste ein kurzes Zeugnis ertheilen zu wollen. Anmerk. d. Herausgebers: Zitiert in: Kennedy, Ulrichs S. 90.

Aber die zuständigen Stellen waren entschlossen, auf jede denkbare Art Ulrichs daran zu hindern, seine früheren Erfahrungen und Kenntnisse zu verwenden, um sich so seinen Lebensunterhalt sichern zu können. Schon drei Tage später kam die sarkastische Antwort:

Wir erwiedern Ihnen auf das Gesuch vom 6. d. M., daß wir in einem Dienstzeugnisse diejenigen Vorgänge, welche bei Gelegenheit Ihrer Entlassung wider Sie zur Sprache gekommen sind, nicht werden übergehen können.

Wir möchten daher Ihrem Ermessen überlassen, ob ein diese Vorgänge erwähnender Hinweis für Sie von Nutzen sein kann. Anmerk. d. Herausgebers: Zitiert in: Kennedy, Ulrichs S. 90.

Dieser Fall von ›amtlicher Erpressung‹ hatte offenbar die angestrebte Wirkung.

Im Juni 1865 bot Ulrichs der Allgemeinen Zeitung (Augsburg) seine Dienste als Korrespondent für das Schützenfest an, das im Juli in Bremen stattfinden sollte. Im Sommer 1862 hatte er über das Frankfurter Schützenfest berichtet, zunächst täglich, in der zweiten Hälfte sogar zweimal täglich. Alle Berichte waren auch veröffentlicht worden, und später wurde er für seine Arbeit ausdrücklich gelobt. Daher konnte er wohl das Schützenfest in Bremen als eine Möglichkeit ansehen, seine Finanzen aufzubessern, und tatsächlich nahm die Zeitung in einem Brief vom 20. Juni 1865 sein Angebot an.

Vielleicht ermutigt durch die zunehmende Zahl der Urninge, die er kennenlernte, dachte Ulrichs jetzt an die Möglichkeit, sie zu organisieren, um besser für ihre Interessen eintreten zu können. So entwarf er im September 1865 Satzungen für den Urningsbund. Wahrscheinlich hat es diesen geplanten Bund nie gegeben; Ulrichs erwähnt die Satzung nirgendwo in seinen veröffentlichten Schriften. Er schickte aber an Karl Maria Kertbeny eine handschriftliche Kopie, die sich jetzt in der Ungarischen Nationalbibliothek im Kertbeny-Nachlaß befindet. Insgesamt zeigt das Dokument eine Mischung aus hohem Idealismus und praktischen Vorschlägen, um den Urningen bessere Bedingungen zu verschaffen. Der Entwurf ist historisch bedeutend als erster Versuch, sich zu organisieren, um gleiche Rechte für Homosexuelle zu erkämpfen.

Ulrichs’ Bemühungen, seinen Gefährten zu helfen, fanden 1866 ein vorläufiges Ende, als Preußen das Königreich Hannover annektierte. Ulrichs wurde bald in die Geschehnisse verwickelt, die in den nächsten Jahren die politische Landkarte Deutschlands verändern sollten und insbesondere seine Heimat Hannover betrafen. Als Ulrichs sich 1894 um die Mitgliedschaft in der Accademia Pontaniana (Neapel) bewarb, beschrieb er in einem Curriculum vitae literarium seine Reaktion auf die Besetzung Hannovers so:

Als die Preußen 1866 mein Vaterland besetzt hatten, hielt ich öffentliche Versammlungen ab, in denen ich mich deutlich als Gegner dieser Invasion und der feindlichen Unterjochung bezeichnet und als treuen Untertanen des Königs von Hannover. Dies nahm mir der Führer der Preußen sehr übel und sperrte mich in einer preußischen Festung ein. Anmerk. d. Herausgebers: Zitiert in: Kennedy, Ulrichs S. 103.

Ulrichs war 1867 zweimal im Gefängnis: vom 4. Februar bis zum 20. März und vom 23. April bis zum 13. Juli. Am 28. März 1867 berichtete die Allgemeine Zeitung;

Am 20. d. M. ist die Mehrzahl der nach Minden abgeführten Hannoveraner, 13 Personen, wieder in Freiheit gesetzt worden, nämlich elf vormalige hannoverische Soldaten (Kämpfer von Langensalza), sodann der Pastor Nicolassen aus Fischerhude und der Amtsassessor a. D. Ulrichs aus Burgdorf. ... Ohne auf die Entlassung irgend vorbereitet zu seyn, ward ihnen plötzlich die Freilassung eröffnet. Einzelnen wurde auch erst eben bei der Freilassung gesagt, weßhalb sie überhaupt verhaftet worden, so z. B. dem genannten Hrn. Ulrichs; »wegen preußenfeindlicher Agitation in der Presse und in Vereinen«. Gegen letztem ... schwebt übrigens noch nach der Freilassung ein gerichtliches Verfahren vor dem ordentlichen Civilgericht, nämlich ... – auf Antrag eines kgl. preußischen Regimentscommando’s - »wegen Verleitung Militärpflichtiger (aus dem Hannoverischen) zum Ungehorsam«. Anmerk. d. Herausgebers: Zitiert in: Kennedy, Ulrichs S. 106 f.

So verließ Ulrichs im Juli 1867 Hannover, das jetzt eine preußische Provinz geworden war; er sollte es nicht Wiedersehen. Nie hat er die preußische Eroberung vergessen oder vergeben; sie war für ihn »ein nie zu rechtfertigender Gewaltakt«. Mit seiner Vertreibung aus dem jetzt preußischen Hannover gab Ulrichs wohl alle Bemühungen auf, den König wieder an die Macht zu bringen. Dafür setzte er sich, nachdem er sich in Würzburg niedergelassen hatte, mit frischer Kraft für die Anerkennung gleicher Rechte für die Urninge ein. Sein nächster Schritt bestand darin, die Sache vor dem Deutschen Juristentag in München Ende August 1867 vorzubringen.

 

Inzwischen hatte Ulrichs so viele andere Homosexuelle kennengelernt, daß er seine frühere Theorie revidieren mußte. Das geschah in Memnon, seiner umfangreichsten Schrift zu diesem Thema, in der er seiner Theorie die im wesentlichen endgültige Ausformulierung gab.

Die auffallendste Änderung ist eine Vereinfachung: Nach wie vor beruht Ulrichs' Theorie auf der Überzeugung, daß die Urningsliebe angeboren sei; auch die Vorstellung von der ›anima muliebris virili corpore inclusa‹ ist geblieben, aber die Zahl der »Keime«, die für die Entwicklung des Urnings maßgeblich sind, ist auf die Anzahl reduziert, die nötig ist, um die beiden Grundkonzepte zu erklären. So gibt es keine getrennten Keime mehr für den aktiven und passiven Liebestrieb. Übrig geblieben sind die vier ursprünglichen Geschlechtskeime, die nach wie vor in den ersten drei bis vier Monaten der Embryonalentwicklung als ruhend angesehen werden: a) für die Entwicklung des Penis, b) für die Entwicklung der Vagina, c) der Keim, der zu diesem Zeitpunkt noch keinem Geschlecht zugeordnet ist, aber für die Entwicklung der Hoden und Eierstöcke verantwortlich ist, d) der körperlose Keim, der die Richtung des Liebestriebes bestimmt und der auf dieser Stufe ebenfalls geschlechtslos ist. Wenn diese Keime ›erwachen‹, erlaubt die Natur einem der ersten beiden, sich zu entwickeln, und unterdrückt den anderen, während die beiden letzten sich unabhängig voneinander in eine Richtung entwickeln können. Ulrichs begnügt sich hier mit einer Beschreibung und erklärt die verschiedenen Formen der Urninge als Ergebnis aller Möglichkeiten, die im Embryo vorhanden sind. Anfangs hatte er versucht, für jeden Urningstyp eine besondere Erklärung zu finden. Er hält es für möglich, daß es zwei unabhängige körperlose Keime für den Liebestrieb geben könnte (für den »sinnlichen« und den »sehnsüchtigen«), doch sind »über diese Frage die Akten noch nicht geschlossen« (S. 22). Auf jeden Fall glaubt Ulrichs wohl, daß es nicht nötig sei, bis ins letzte Erklärungen zu suchen, um die Existenz und die Handlungen des Urnings zu rechtfertigen – und das ist der zentrale Punkt. Ulrichs liegt es am Herzen, die Tatsache, daß die Urningsliebe angeboren sei, zu beweisen.

Die große Vielfalt der Urninge, die Ulrichs seit seinen ersten Veröffentlichungen kennengelernt hatte, beeinflußte nicht nur seine Theorie, sondern auch seine Auffassung über sich selbst. Am 20./21. Dezember 1873 schrieb er an den Schriftsteller Carl Robert Egells: »In den Heften Vindex und Inclusa war ich noch einseitig. Ich kannte nur Weiblinge, glaubte selber Weibling zu sein, kannte auch noch keine Abstufungen« Anmerk. d. Herausgebers: Zitiert in: Kennedy, Ulrichs S. 134 Anmerk. d. Herausgebers: . Inzwischen hatten sich seine früheren Ansichten über die einseitige Unterscheidung zwischen dem körperlichen Geschlecht und der ›Seele‹ verwischt, und zwar in beide Richtungen, weil nicht nur die ›Seele‹ den Körper des Mannes beeinflußt, sondern der Körper auch die ‘Seele’ beeinflussen kann. Diese Auffassung ermöglichte es Ulrichs, alle denkbaren Arten von Urningen zu erklären.

Memnon ist nicht zuletzt ein unschätzbarer historischer Bericht, erzählt Ulrichs doch zum Beispiel von seinen Anstrengungen, dem Bremer Theaterdirektor »Fritz« Feldtmann zu helfen. So wie uns Gladius furens ein lebendiges Bild des kämpferischen Ulrichs zeigt, erkennen wir in Memnon seine humanitären Impulse.

Hubert Kennedy


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