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Erster Hauptabschnitt: Die Heldensage.

Um der Betrachtung dieses ältesten und ursprünglichst-einheimischen Kreises deutscher Dichtung freie Bahn zu öffnen und zum voraus jede Beschränkung wegzuräumen, welche aus der herkömmlichen Lehre von der Epopöe als einer Kunstform hervorgehen könnte, sprechen wir zuerst vom Wesen der Volkspoesie im allgemeinen.

Wie über einer großen Bergkette, aus dem Schoße derselben und ihrem Zuge folgend, nur mit kühneren Zacken und Zinnen, ein leuchtendes Wolkengebirge emporsteigt, so über und aus dem Leben der Völker ihre Poesie. Der Drang, der dem einzelnen Menschen innewohnt, ein geistiges Bild seines Wesens zu erzeugen, ist auch in ganzen Völkern als solchen schöpferisch wirksam, und es ist nicht bloße Redeform, daß die Völker dichten. Darin eben, in dem gemeinsamen Hervorbringen, nicht in dem nur äußerlichen Merkmale der Verbreitung, haftet der Begriff der Volkspoesie, und aus ihrem Ursprung ergeben sich ihre Eigenschaften.

Wohl kann auch sie nur mittels einzelner sich äußern, aber die Persönlichkeit der einzelnen ist nicht wie in der Dichtkunst literarisch gebildeter Zeiten vorwiegend, sondern verschwindet im allgemeinen Volkscharakter. Auch aus den Zeiten der Volksdichtung haben sich berühmte Sängernamen erhalten, und wo dieselbe noch jetzt blüht, werden beliebte Sänger namhaft gemacht.

Meist jedoch sind die Urheber der Volksgesänge unbekannt oder bestritten, Vgl. Wüllner, De cyclo epico poetisque cyclicis. Monaster. 1825. S. 45. und die Genannten selbst, auch wo die Namen nicht ins Mythische sich verlieren, erscheinen überall nur als Vertreter der Gattung, die einzelnen stören nicht die Gleichartigkeit der poetischen Masse, sie pflanzen das Überlieferte fort und reihen ihm das Ihrige nach Geist und Form übereinstimmend an, sie führen nicht abgesonderte Werke auf, sondern schaffen am gemeinsamen Bau, der niemals beschlossen ist. Dichter von gänzlich hervorstechender Eigentümlichkeit können hier schon darum nicht als dauernde Erscheinung gedacht werden, weil die mündliche Fortpflanzung der Poesie das Eigentümliche nach der allgemeinen Sinnesart zuschleift und nur ein allmähliches Wachstum gestattet.

Vornehmlich aber läßt ein innerer Grund die Überlegenheit der einzelnen nicht aufkommen. Die allgemeinste Teilnahme eines Volkes an der Poesie, wie sie zur Erzeugung eines blühenden Volksgesanges erforderlich ist, findet notwendig dann statt, wenn die Poesie noch ausschließlich Bewahrerin und Ausspenderin des gesamten geistigen Besitztums ist. Eine bedeutende Abstufung und Ungleichheit der Geistesbildung ist aber in diesem Jugendalter eines Volkes nicht gedenkbar; sie kann erst mit der vorgerückten künstlerischen und wissenschaftlichen Entwicklung eintreten. Denn wenn auch zu allen Zeiten die einzelnen Naturen mehr oder weniger begünstigt erscheinen, die einen gebend, die andern empfangend, die geistigen Anregungen aber das Geschäft der Edleren sind, so muß doch in jenem einfacheren Zustande die poetische Anschauung bei allen lebendiger, bei den einzelnen mehr im allgemeinen befangen gedacht werden. Die Harfe geht noch von Hand zu Hand wie bei den Gastmahlen der Angelsachsen; die ganze Masse ist noch wie ein Zug von Wandervögeln in der poetischen Schwebung begriffen, und die einzelnen fliegen abwechselnd an der Spitze. Die geistigen Richtungen sind noch ungeschieden und darum der Eigentümlichkeit keine besondern Bahnen eröffnet; das künstlerische Bewußtsein steht noch nicht dem Stoffe gegenüber, darum auch keine absichtliche Mannigfaltigkeit der Gestaltung; der Stoff selbst, im Gesamtleben des Volkes festbegründet, durch lange Überlieferung geheiligt, gibt keiner freieren Willkür Raum. Und so bleibt zwar die Tätigkeit der Begabteren unverloren, aber sie mehrt und fördert nur unvermerkt; die reichste Quelle, die den Strom des Gesanges schwellt, ist doch in ihm nicht auszuscheiden.

Auf keiner Stufe der poetischen Literatur, selbst nicht bei dem schärfsten Gepräge dichterischer Eigentümlichkeiten, kann der Zusammenhang des einzelnen mit der Gesamtbildung seines Volkes völlig verleugnet werden. Erscheinungen, die in Nähe und Gegenwart schroff auseinanderstehen, treten in der Ferne der Zeit und des Raumes in größern Gruppen zusammen, und diese Gruppen selbst zeigen unter sich einen gemeinsamen Charakter. Stellt man sich so dem gesamten poetischen Erzeugnis eines Volkes gegenüber und vergleicht man es nach außen mit den Gesamtleistungen andrer Völker, so betrachtet man dasselbe als Nationalpoesie; für unsern Zweck war es um den innern Gegensatz zu tun, um die Volkspoesie in ihrem Verhältnisse zur dichterischen Persönlichkeit.

Daß die Volkspoesie nur in mündlichem Vortrag lebe, ist bereits angedeutet worden. Man könnte sagen: aus dem einfachen Grunde, weil solche Völker die Schrift noch gar nicht kennen oder nicht allgemeiner zu gebrauchen wissen. Aber wessen der menschliche Geist bedarf, das erfindet oder erlernt er; reicht ihm Sang und Sage nicht mehr aus, so erfindet er die Schreibkunst; bei gesteigertem Bedürfnis erfand er den Bücherdruck. Auf derjenigen Bildungsstufe nun, auf welcher der Volksgesang gedeiht, wird der Buchstabe gar nicht vermißt. Hier gilt einzig die große Bilderschrift mächtiger Gestalten der Natur und des Menschenlebens. Die Betrachtung der Welt geschieht nicht mit dem Meßnetze des Gedankens, sondern mit dem Spiegel der Phantasie; was vor dieser in klarem Bilde steht, wird im tönenden Worte weiter und weiter mitgeteilt. Wie sollte das volle, farbige Lebensbild in den toten Schriftzug zusammenschrumpfen? Die Rune, wenn sie auch bekannt ist, wird mit Scheu betrachtet als ein bannender Zauber. Noch grünt die Aesche, die im Runenalphabet zum A erstarrt.

Das nun, daß die Gebilde der Volkspoesie lediglich mittels der Phantasie und des angeregten Gemütes durch Jahrhunderte getragen werden, bewährt dieselben als probehaltig. Was nicht klar mit dem innern Auge geschaut, was nicht mit regem Herzen empfunden werden kann, woran sollte das sein Dasein und seine Dauer knüpfen? Die Schrift, die auch das Entseelte in Balsam aufbewahrt, die Kunstform, die auch dem Leblosen den Schein des Lebens leiht, sind nicht vorhanden. Auch nicht Wort und Tonweise, im Gedächtnis festgehalten, können das Nichtige retten; denn das schlichte Wort ist in jenen Zeiten keine Schönheit für sich, es lebt und stirbt mit seinem Gegenstande; die einfache Tonweise, wenn sie selbst Dauer haben soll, muß ursprünglich einem Lebendigen gedient haben. Je fester und lebensvoller jene echten Gebilde dastehen, je weniger kann das Scheinleben in ihrem Kreise aufkommen und geduldet werden.

Worin liegt aber der Gehalt und die Kraft, vermöge deren sie durch viele Geschlechter unvertilgbar fortbestehen? Ohne Zweifel darin, daß sie die Grundzüge des Volkscharakters, ja die Urformen naturkräftiger Menschheit wahr und ausdrucksvoll vorzeichnen. Naturanschauungen, Charaktere, Leidenschaften, menschliche Verhältnisse treten hier gleichsam in urweltlicher Größe und Nacktheit hervor! unverwitterte Bildwerke, gleich der erhabenen Arbeit des Urgebirgs. Darum kann gerade den Zeiten, welche durch gesellige, künstlerische und wissenschaftliche Verfeinerung solchen ursprünglichern Zuständen am fernsten und fremdesten stehen, der Rückblick auf diese lehrreich und erquicklich sein; so ungefähr wie der größte der römischen Geschichtschreiber aus seinem welken Römerreich in die frischen germanischen Wälder, auf die riesenhaften Gestalten, einfachen Sitten und gesunden Charakterzüge ihrer Bewohner vorhaltend und weissagend hinüberzeigte.

Wenn wir uns im bisherigen die Volkspoesie nach ihrem vollsten Begriffe gedacht haben, so ist doch leicht zu erachten, daß sie in ihrer geschichtlichen Erscheinung bei verschiedenen Völkern, nach Gehalt und Umfang, in sehr mannigfachen Abstufungen und Übergängen sich darstelle. Wie das Leben jedes Volkes wird auch das Bild dieses Lebens, die Poesie, beschaffen sein. Ein Hirtenvolk, in dessen einsame Gebirgstäler der Kampf der Welt nur fernher in dumpfen Widerhallen eindringt, wird in seinen Liedern die beschränkten Verhältnisse ländlichen Lebens, die Mahnungen der Naturgeister, die einfachsten Empfindungen und Gemütszustände niederlegen; sein Gesang wird idyllisch- lyrisch austönen.

Ein Volk dagegen, das seit unvordenklicher Zeit in weltgeschichtlichen Schwingungen sich bewegt, mit gewaltigen Schicksalen kämpft und große Erinnerungen bewahrt, wird auch eine reiche und großartige Heldensage, voll mächtiger Charaktere, Taten und Leidenschaften, aus sich erschaffen, und wie sein Leben weitere Kreise zieht und größere Zusammenhänge bildet, wird auch seine Sage sich zum Epos, zum epischen Zyklus, verknüpfen und ausdehnen. Diese Entfaltung zu einem umfassenden Epos, das Bedeutendste, was die Volkspoesie erzeugen kann, ist uns nun auch in den Heldenliedern des deutschen Mittelalters aufbewahrt.

Ich gedenke später einmal, in einem besondern Kursus, eine geschichtliche Übersicht der gesamten Volkspoesie der neueuropäischen Völker zu geben. Es werden sich bei diesen alle Spielarten und Abstufungen des Volksgesanges, teils untergegangen, teils noch bestehend, nachweisen lassen. Es wird sich dann auch zeigen, wie überall die Volkspoesie in dem Maße zurückgewichen, in welchem die literarische Bildung und die mit ihr verbundene Herrschaft dichterischer Persönlichkeit vorgeschritten, und daß dieselbe nur da noch lebe und blühe, wo eine Literatur noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist. Bedeutende Aufschlüsse geben in letzterer Beziehung die neueren Mitteilungen aus dem Volksgesange zweier Völker, welche eben erst im Begriffe sind, nach harten Kämpfen ihre Stelle unter den kultivierten Nationen des heutigen Europas einzunehmen; ich meine die Neugriechen und die Serben. Bei den erstern ist der Fall von Suli (Dez. 1803), der Tod des Markos Bozaris (1823) kaum erlebt und schon auch in herkömmlicher, volksmäßiger Weise gesungen. Im serbischen Gesange werden, neben den vielen Liedern aus dem häuslichen Leben, fortwährend die heimischen Taten gefeiert, von den halb fabelhaften der alten Helden Duschan und Marko bis zu den neuesten des letzten Aufstandskrieges. Bei beiden Völkern ist auch gewiß dieser fortlebende vaterländische Gesang nicht ohne merklichen Einfluß auf die Erhaltung und den neuen Aufschwung des Nationalgefühls geblieben. Von Heldenliedern und Märchen, wie sie in Schweden, Nordbritannien, auf den Faröen noch heute zum Tanze gesungen werden, sind in Deutschland nur noch verlorene Klänge hörbar. Hier hat zwar die Volkspoesie einst einen der großartigsten epischen Kreise gebildet, aber dieser ist längst abgeschlossen. Gedeihen und Absterben der Volkspoesie hängen überall davon ab, ob die Grundbedingung derselben, Teilnahme des gesamten Volkes, feststehe oder versage; ziehen die edleren Kräfte sich von ihr zurück, dem Schriftentum zugewendet, so versinkt sie notwendig in Armut und Gemeinheit.

Wenn nun auch eine vergleichende Zusammenstellung des deutschen Epos mit der epischen Volksdichtung andrer Völker der Alten und Neuen Welt nicht in unsrer dermaligen Aufgabe liegt, und wenn nicht zu bestreiten ist, daß die Geschichte der poetischen Entwicklung jedes Volkes zunächst aus dessen eigensten Zustanden entnommen werden solle, so ist doch nicht minder gewiß, daß die von allen Seiten neuerschlossenen Quellen des Volksgesangs auch für die richtige Ansicht des längst Vorhandenen und Bekannten von größter Wichtigkeit sind, daß die entsprechenden Erscheinungen bei so vielen Völkern auf ähnlicher Stufe des geselligen Zustandes sich gegenseitig erklären und auf gemeinsame Bildungsgesetze hinweisen, und daß daher der Blick auf diesen größern Zusammenhang geöffnet sein muß, wenn die historische Behandlung der Poesie eines einzelnen Volkes vor Willkür und Vorurteil gesichert sein soll. Die bekannte Frage über die Abfassung der homerischen Gedichte wird ohne solchen Ausblick auf die Universalgeschichte der Volkspoesie niemals zu einer einleuchtenden Entscheidung gelangen können. Bei der nachfolgenden Erörterung des einheimischen Epos wird uns derselbe, auch ohne ausdrückliche Bezugnahme im einzelnen, stets zur Leitung dienen. Umgekehrt aber wird die deutsche Heldensage, die in reicher, durch viele Jahrhunderte verfolgbarer Entwicklung vor uns liegt, auch von ihrer Seite als eine der bedeutendsten Quellen zur rechten Einsicht in das Wesen und den Bildungsgang der epischen Volkspoesie anzuerkennen sein. W. Grimm sagt in seiner Schrift über die deutsche Heldensage (S 336):

»Wir genießen den Vorteil, die Veränderungen der Sage in Denkmälern beobachten zu können, welche von den ersten Spuren bis zu dem völligen Verschwinden den Raum von etwa tausend Jahren einnehmen. Es gibt kein andres Volk, das sich dieses Vorteils in solcher Ausdehnung erfreue.«

In der Betrachtung dieses deutschen Epos werde ich nun den Gang nehmen, daß ich zuvörderst den Inhalt der Heldenlieder, da ich solchen nicht als bekannt voraussetzen darf, im Umriß darlege; sodann denselben nach seinen Hauptelementen, dem geschichtlichen, dem mythischen und dem ethischen, erläutre; endlich die Formen entwickle, in welchen dieser poetische Stoff dargestellt, ausgebildet und zuletzt mittels schriftlicher Auffassung festgehalten worden ist.

Ich werde dann aber auch im gegenwärtigen ersten Hauptabschnitte der Betrachtung des umfassendern, in sich abgeschlossenen epischen Zyklus in besonderer Aufzahlung diejenigen heroischen Dichtungen anreihen, welche, gleichfalls auf einheimischer Sage beruhend, doch für sich vereinzelt stehen geblieben sind oder einen größern Kreis zu bilden nur versucht haben. Hier begegnen wir einer Reihenfolge geschichtlicher Helden bis in das Geschlecht der Hohenstaufen selbst, und diese sichtbar erst aus der spätern Geschichte sich entwickelnde Sagendichtung bahnt uns den Übergang zu den noch halb fabelhaften Reimchroniken, in welchen umgekehrt die Historie aus der Sagenpoesie sich abzulösen beginnt.


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