Iwan Turgenjew
Aufzeichnungen eines Jägers
Iwan Turgenjew

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Der Hamlet des Schtschigrowschen Kreises

Auf einer meiner Fahrten wurde ich vom reichen Gutsbesitzer und Jagdliebhaber Alexander Michailytsch G*** zum Essen geladen. Sein Gut lag etwa fünf Werst von dem kleinen Dörfchen, in dem ich damals wohnte. Ich zog meinen Frack an, ohne den ich niemand rate, sogar zur Jagd auszufahren, und begab mich zu Alexander Michailytsch. Das Mittagessen war für sechs Uhr angesetzt; ich kam um fünf und traf bereits eine große Anzahl von Edelleuten in Uniform, in Zivilkleidern und in anderen, weniger charakteristischen Anzügen vor. Der Hausherr empfing mich freundlich, lief aber gleich in das Dienstbotenzimmer. Er erwartete irgendeinen hohen Würdenträger und befand sich daher in einer gewissen Aufregung, die zu seiner unabhängigen Stellung in der Gesellschaft und seinem Reichtum gar nicht paßte. Alexander Michailytsch war nie verheiratet gewesen und liebte keine Frauen; bei ihm versammelten sich lauter Herren. Er lebte auf großem Fuß, vergrößerte seinen Ahnensitz und stattete ihn mit großem Pomp aus, verschrieb sich alljährlich für etwa fünfzehntausend Rubel Wein aus Moskau und genoß überhaupt das größte Ansehen. Alexander Michailytsch hatte schon längst den Dienst quittiert und strebte nach keinen Ehren . . . Was veranlaßte ihn dann, sich den Besuch des hochgestellten Gastes zu erbetteln und sich am Tag des feierlichen Mittagessens vom Morgen an so aufzuregen? Das bleibt vom Dunkel der Ungewißheit verhüllt, wie mein Bekannter, ein Gerichtsbeamter, zu antworten pflegte, wenn man ihn fragte, ob er von freiwilligen Gebern Geldgeschenke annehme.

Als mich der Hausherr verlassen hatte, begann ich durch die Zimmer herumzuirren. Fast alle Gäste waren mir unbekannt; an die zwanzig Mann saßen schon beim Kartenspiel. Unter diesen Liebhabern von Préférence befanden sich zwei Militärs mit adligen, aber etwas abgelebten Gesichtern, einige Zivilisten in hohen, engen Halsbinden mit herabhängenden, gefärbten Schnurrbärten, wie man sie nur bei entschlossenen, aber wohlgesinnten Herren sieht (diese wohlgesinnten Herren lasen mit Wichtigkeit die Karten vom Tisch auf und warfen, ohne den Kopf zu wenden, Seitenblicke auf die Vorbeigehenden); fünf oder sechs Kreisbeamte mit runden Bäuchlein, vollen, schweißigen Händchen und bescheiden unbeweglichen Beinchen (diese Herren sprachen mit sanfter Stimme, lächelten mild nach allen Seiten, hielten ihre Karten dicht vor den Vorhemdchen und schlugen, wenn sie einen Trumpf ausspielten, nicht auf den Tisch, sondern ließen vielmehr ihre Karten wellenförmig auf das grüne Tuch fallen und erzeugten, wenn sie die Stiche zusammenlegten, ein leichtes, wohlanständiges und höfliches Knistern). Die übrigen Edelleute saßen auf den Sofas und drängten sich gruppenweise an den Türen und Fenstern; ein nicht mehr junger Gutsbesitzer von frauenhaftem Aussehen stand in einer Ecke, zuckte zuweilen zusammen, errötete und spielte verlegen mit dem Petschaft der Uhrkette auf seinem Magen, obwohl ihn niemand beachtete; einige Herren in runden Fräcken und karierten Pantalons, einem Erzeugnis des Moskauer Schneiders Firs Kljuschin, unterhielten sich äußerst ungezwungen und lebhaft, wobei sie ihre kahlen und fetten Nacken frei bewegten; ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren, kurzsichtig und blond, vom Kopf bis zu den Füßen schwarz gekleidet, zeigte große Schüchternheit, lächelte aber giftig . . .

Ich fing schon an, mich zu langweilen, als sich zu mir plötzlich ein gewisser Woinizyn gesellte, ein junger Mann, der seine Studien nicht beendet hatte und im Hause Alexander Michailytschs in Eigenschaft eines . . . es ist schwer zu sagen, in welcher Eigenschaft er da lebte. Er schoß vorzüglich und verstand sich auf die Dressur von Hunden. Ich hatte ihn schon in Moskau gekannt. Er gehörte zu jenen jungen Leuten, die bei jedem Examen von einem Starrkrampf befallen wurden, das heißt, kein Wort auf die Fragen des Professors zu sagen wußten. Diese Herren nannte man des schönen Stiles wegen auch ›Backenbartisten‹. (Es ist schon lange her, wie Sie zu sehen belieben.) Das spielte sich auf folgende Weise ab: Es wurde z. B. Woinizyn aufgerufen. Woinizyn, der bis dahin unbeweglich und gerade, vom Kopf bis zu den Füßen in Schweiß gebadet auf seiner Bank gesessen und langsam, aber gedankenlos seine Augen hatte herumschweifen lassen; erhob sich, knöpfte hastig seinen Uniformrock bis oben zu und näherte sich seitwärts dem Tisch der Examinatoren. – »Wollen Sie sich ein Billett nehmen«, sagte der Professor freundlich zu ihm. Woinizyn streckte die Hand aus und berührte zitternd den Haufen der Billette mit seinen Fingern. – »Suchen Sie sich bitte eines heraus«, bemerkte mit zitternder Stimme irgendein unbeteiligter, aber reizbarer Greis, ein Professor von einer anderen Fakultät, von einem plötzlichen Haß gegen den unglücklichen Backenbartisten erfüllt. Woinizyn ergab sich in sein Schicksal, nahm ein Billett, zeigte die Nummer vor und setzte sich ans Fenster, während sein Vorgänger examiniert wurde. Am Fenster blickte Woinizyn unverwandt auf sein Billett, ließ nur ab und zu langsam seinen Blick umherschweifen und rührte im übrigen kein Glied. Sein Vorgänger ist nun fertig geworden, und man sagt zu ihm: »Gut, Sie können gehen« oder sogar: »Gut, sehr gut«, je nach seinen Fähigkeiten. Nun wird Woinizyn aufgerufen; Woinizyn steht auf und nähert sich mit festen Schritten dem Tisch. – »Lesen Sie Ihr Billett vor«, sagt man zu ihm. Woinizyn hebt das Billett mit beiden Händen dicht vor die Nase, liest es langsam vor und senkt langsam die Augen. – »Nun, jetzt wollen Sie antworten«, sagt träge derselbe Professor, den Oberkörper zurückwerfend und die Arme auf der Brust kreuzend. Es tritt eine Grabesstille ein. – »Nun?« – Woinizyn schweigt. Der unbeteiligte Greis beginnt zu zucken. – »Sagen Sie doch etwas!« – Mein Woinizyn schweigt wie erstarrt. Sein kurzgeschorener Nacken ragt unbeweglich gegen die neugierigen Blicke aller Kollegen. Dem unbeteiligten Greis wollen die Augen aus dem Kopf springen, nun ist er ganz vom Haß gegen Woinizyn erfüllt. – »Es ist immerhin sonderbar«, bemerkt ein anderer Examinator: »Warum stehen Sie wie stumm da? Sie wissen nichts? Sagen Sie es doch geradeheraus.« – »Gestatten Sie, daß ich mir ein anderes Billett nehme«, sagt der Unglückliche mit dumpfer Stimme. Die Professoren wechseln Blicke. – »Nun, nehmen Sie nur«, antwortet der Hauptexaminator mit einer resignierten Handbewegung. Woinizyn nimmt wieder ein Billett, geht wieder zum Fenster, kehrt zum Tisch zurück und schweigt wieder wie ein Toter. Der unbeteiligte Greis ist imstande, ihn beim lebendigen Leibe aufzufressen. Schließlich läßt man ihn gehen und setzt ihm eine Null. Glaubt ihr etwa, daß er wenigstens jetzt fortgehen wird? Keine Spur! Er kehrt auf seinen Platz zurück und schweigt wieder wie ein Toter, sitzt unbeweglich bis zum Schluß des Examens und ruft beim Weggehen: »Diese Plage! Diese Schinderei!« – Dann geht er den ganzen Tag durch die Straßen von Moskau, greift sich ab und zu an den Kopf und verwünscht sein unglückseliges Schicksal. Natürlich nimmt er aber kein Buch in die Hand, und am nächsten Tag wiederholt sich genau die gleiche Geschichte.

Dieser selbe Woinizyn gesellte sich also zu mir. Wir sprachen von Moskau und von der Jagd.

»Wollen Sie«, flüsterte er mir plötzlich zu, »daß ich Sie mit dem ersten Witzling dieser Gegend bekannt mache?«

»Ich bitte sehr.«

Woinizyn führte mich zu einem kleinen Mann mit hohem Schopf und Schnurrbart, in einem braunen Frack und bunter Halsbinde. Seine galligen, beweglichen Züge atmeten wirklich Geist und Bosheit. Ein flüchtiges, giftiges Lächeln verzerrte fortwährend seine Lippen; die schwarzen, zusammengekniffenen Äuglein blickten frech unter den ungleichen Wimpern hervor. Neben ihm stand ein breitschultriger, gedunsener, einäugiger Gutsbesitzer, süßlich wie ein Stück Zucker. Er lachte schon im voraus über die Witze des kleinen Mannes und schmolz gleichsam vor Vergnügen. Woinizyn stellte mich dem Witzling vor, welcher Pjotr Petrowitsch Lupichin hieß. Wir machten Bekanntschaft und tauschten die ersten höflichen Worte.

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen besten Freund vorstelle«, begann plötzlich Lupichin, indem er den süßen Gutsbesitzer bei der Hand faßte. »Sträuben Sie sich nicht, Kirilla Selifanytsch«, fügte er hinzu, »man wird Sie nicht beißen. Hier«, fuhr er fort, während der verlegene Kirilla Selifanytsch sich so ungeschickt verbeugte, als wollte ihm der Bauch abfallen, »ich empfehle Ihnen einen vorzüglichen Edelmann. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr erfreute er sich einer vortrefflichen Gesundheit, da fiel es ihm plötzlich ein, sich seine Augen behandeln zu lassen. Infolgedessen wurde er auf einem Auge blind. Seitdem behandelt er seine Bauern mit dem gleichen Erfolg. Diese sind natürlich mit der gleichen Anhänglichkeit . . .«

»Ach, dieser . . .« murmelte Kirilla Selifanytsch und lachte.

»Sprechen Sie nur aus, mein Freund, sprechen Sie nur aus«, fiel ihm Lupichin ins Wort. »Man wird Sie vielleicht noch zum Richter wählen, man wird Sie ganz sicher wählen, Sie werden es sehen. Für Sie werden natürlich die Beisitzer denken; aber man muß ja gegebenenfalls auch einen fremden Gedanken auszusprechen verstehen. Es kann ja der Gouverneur kommen und fragen: ›Warum stottert der Richter?‹ Nun, nehmen wir an, daß man ihm antworte: ›Er hat einen Schlaganfall gehabt‹, dann wird der Gouverneur aber sagen: ›Nun, dann lasse man ihn zur Ader.‹ Gestehen Sie selbst, daß das in Ihrer Stellung unpassend wäre.«

Der süße Gutsbesitzer wälzte sich vor Lachen.

»Er lacht«, fuhr Lupichin fort mit einem boshaften Blick auf den zitternden Bauch Kirilla Selifanytschs. »Warum soll er auch nicht lachen?« fügte er, an mich gewandt, hinzu: »Er ist satt und gesund, hat keine Kinder, seine Bauern sind nicht verpfändet, er kuriert sie selbst, seine Frau ist nicht ganz gescheit . . .« Kirilla Selifanytsch wandte sich etwas auf die Seite, als hätte er nichts gehört, und fuhr fort zu lachen. »Ich lache doch auch . . . mir ist aber meine Frau mit einem Feldmesser durchgegangen.« Er grinste. »Haben Sie es denn nicht gewußt? Gewiß! Jawohl, sie ist durchgebrannt und hat mir einen Brief hinterlassen: ›Lieber Pjotr Petrowitsch, verzeihe mir; von Leidenschaft überwältigt, entferne ich mich mit dem Freund meines Herzens . . .‹ Der Feldmesser hatte sie aber nur dadurch erobert, daß er sich nie die Nägel schnitt und enganliegende Hosen trug. Sie wundern sich? Sie denken sich wohl: Ist das ein offenherziger Mensch . . . Mein Gott! So ein Steppenmensch wie ich sagt immer die Wahrheit. Wollen wir jedoch auf die Seite gehen . . . Was sollen wir neben dem zukünftigen Richter stehen?«

Er nahm mich unter den Arm, und wir traten ans Fenster.

»Ich gelte hier als Witzling«, sagte er mir im Verlauf des Gesprächs, »glauben Sie es nicht. Ich bin einfach ein erbitterter Mensch und schimpfe laut: Dann bin ich auch so ungeniert. Und warum sollte ich mich auch genieren? Ich gebe nichts auf die Meinung der anderen und strebe nach nichts; ich bin boshaft, was ist dabei! Ein boshafter Mensch braucht wenigstens keinen Verstand zu haben. Das ist aber so erfrischend, Sie werden es gar nicht glauben . . . Schauen Sie sich zum Beispiel unseren Gastgeber an! Warum rennt er so herum, ich bitte Sie! Jeden Augenblick schaut er auf die Uhr, er lächelt, schwitzt, setzt sich eine wichtige Miene auf und läßt uns verhungern! Als ob man einen solchen Würdenträger noch nie gesehen hätte! Da rennt er wieder vorbei, er humpelt sogar, sehen Sie nur!«

Lupichin lachte mit hoher Stimme.

»Eines ist schade«, fuhr er mit einem tiefen Seufzer fort, »es ist ein Junggesellendiner ohne Damen – aber das wäre für unsereinen ein Fressen. Schauen Sie nur, schauen Sie nur«, rief er plötzlich, »da kommt der Fürst Koseljskij – dieser große Mann mit dem Bart, mit den gelben Handschuhen. Man sieht gleich, daß er im Ausland gewesen ist . . . immer kommt er so spät. Ich sage Ihnen, er ist allein so dumm wie ein Paar Kaufmannspferde; Sie hätten aber sehen sollen, wie herablassend er mit unsereinem spricht, wie großmütig er über die Liebenswürdigkeiten unserer hungrigen Mütterchen und Töchter zu lächeln geruht . . .! Auch er selbst macht zuweilen Witze, obwohl er sich hier nur auf der Durchreise befindet; die Witze sind aber auch danach! Es ist, wie wenn man mit einem stumpfen Messer einen Bindfaden entzweisägte. Mich kann er nicht ausstehen . . . Ich will mal hingehen und ihn begrüßen.«

Lupichin lief dem Fürsten entgegen.

»Dort geht aber mein persönlicher Feind«, sagte er, als er plötzlich wieder neben mir stand. »Sehen Sie jenen dicken Mann mit dem dunklen Gesicht und den Borsten auf dem Kopf – der seine Mütze in der Hand hält, an der Wand entlangschleicht und wie ein Wolf nach allen Seiten blickt? Ich habe ihm für vierhundert Rubel ein Pferd verkauft, welches tausend Rubel wert war, und dieses dumme Geschöpf hat das volle Recht, mich zu verachten; dabei ist er aber so vollkommen hirnlos, besonders morgens, nach dem Tee, oder gleich nach dem Mittagessen, daß er, wenn man ihm guten Tag sagt, antwortet: ›Was?‹ – Da kommt aber ein General«, fuhr Lupichin fort, »ein Zivilgeneral a. D., ein General, der sein Vermögen verloren hat. Er hat eine Tochter aus Rübenzucker und eine skrofulöse Fabrik . . . Entschuldigen Sie, ich habe mich versprochen, aber Sie verstehen mich schon. Ah! Auch der Architekt ist hier! Ist ein Deutscher, trägt aber einen Schnurrbart und versteht seine Sache nicht – ein blaues Wunder . . .! Was soll er übrigens seine Sache verstehen, wenn er nur versteht, Bestechungsgelder zu nehmen und recht viele Säulen und Pfeiler für unsere Edelleute, die Pfeiler der Gesellschaft, aufzustellen!«

Lupichin lachte wieder . . . Plötzlich verbreitete sich eine Unruhe durch das ganze Haus. Der Würdenträger war angekommen. Der Hausherr stürzte ins Vorzimmer. Einige ergebene Hausfreunde und eifrige Gäste folgten ihm nach . . . Das geräuschvolle Gespräch verwandelte sich in ein leises, angenehmes Raunen, so summen die Bienen zur Frühlingszeit in ihren heimatlichen Stöcken. Nur eine rastlose Wespe, Lupichin, und eine prächtige Hummel, Koseljskij, dämpften ihre Stimmen nicht . . . Endlich trat die Bienenkönigin, der Würdenträger, herein. Alle Herzen flogen ihm entgegen, die sitzenden Oberkörper hoben sich; selbst der Gutsbesitzer, der von Lupichin so billig das Pferd gekauft hatte, selbst dieser Gutsbesitzer – drückte sein Kinn gegen die Brust. Der Würdenträger bewahrte seine Würde vortrefflich; den Kopf in den Nacken werfend, als ob er grüßte, sprach er einige lobende Worte, von denen ein jedes mit dem Laut A begann, den er gedehnt und durch die Nase sprach; mit einer Empörung, die an Hunger grenzte, blickte er auf den Bart des Fürsten Koseljskij und reichte dem ruinierten Zivilgeneral mit der Fabrik und der Tochter den Zeigefinger der linken Hand. Nach einigen Minuten, innerhalb deren der Würdenträger zweimal die Bemerkung gemacht hatte, er sei sehr froh, daß er zum Mittagessen nicht zu spät gekommen sei, begab sich die ganze Gesellschaft unter Vorantritt der großen Tiere in den Speisesaal.

Brauche ich denn noch dem Leser zu erzählen, wie man den Würdenträger auf den Ehrenplatz zwischen den Zivilgeneral und den Adelsmarschall des Gouvernements, einen Menschen mit einem unabhängigen und würdigen Ausdruck des Gesichts, das vollkommen seiner gestärkten Hemdbrust, seiner unermeßlichen Weste und der runden Tabaksdose mit französischem Schnupftabak entsprach, plazierte – wie der Hausherr geschäftig herumlief, aus der Haut fuhr, die Gäste nötigte, im Vorbeigehen den Rücken des Würdenträgers anlächelte und, wie ein Schuljunge im Winkel stehend, hastig einen Teller Suppe oder ein Stückchen Fleisch hinunterschlang – wie der Haushofmeister einen Fisch von anderthalb Arschin Länge mit einem Bukett im Maul auftrug; wie die livrierten Diener mit strengen Mienen jedem Edelmann mürrisch bald Drymadeira, bald Malaga aufdrängten, und wie fast alle Edelleute, besonders die älteren, als müßten sie sich unwillig einer Pflicht unterziehen, ein Glas nach dem anderen leerten; wie schließlich die Champagnerpropfen knallten und die Toaste begannen: Dies alles ist dem Leser wohl allzu bekannt. Besonders bemerkenswert erschien mir aber die Anekdote, die der Würdenträger selbst inmitten eines allgemeinen, freudigen Schweigens zum besten gab. Jemand, ich glaube ein General, der sein Vermögen verloren hatte, ein mit der neuesten Literatur vertrauter Mann, erwähnte den Einfluß der Frauen im allgemeinen und auf die jungen Leute im besonderen. »Ja, ja«, fiel ihm der Würdenträger ins Wort, »das ist wahr, aber man muß die jungen Leute in strenger Zucht halten, sonst werden sie von jedem Weiberrock verrückt.« Ein kindlich-heiteres Lächeln glitt über die Gesichter aller Gäste; die Augen eines Gutsbesitzers drückten sogar Dankbarkeit aus. »Denn die jungen Leute sind dumm.« Der Würdenträger betonte zuweilen, wohl der Wichtigkeit wegen, gewisse Worte anders, als es sonst üblich ist. »Da habe ich zum Beispiel einen Sohn Iwan«, fuhr er fort, »der Dummkopf ist kaum zwanzig Jahre alt, aber plötzlich sagt er mir: ›Papachen, erlauben Sie mir zu heiraten.‹ Ich sage ihm: ›Dummkopf, diene erst dem Staat . . .‹ Natürlich Verzweiflung und Tränen . . . aber ich bin in solchen Fällen . . .« Das Wort ›Fällen‹ sprach der Würdenträger mehr mit dem Bauch als mit den Lippen; dann machte er eine Pause und blickte majestätisch seinen Nachbarn, den General an, wobei er seine Brauen viel höher hob, als man es erwartet hätte. Der Zivilgeneral neigte den Kopf freundlich auf die Seite und zwinkerte außerordentlich schnell mit dem Auge, das dem Würdenträger zugewandt war. »Und was glauben Sie?« begann der Würdenträger von neuem: »Jetzt schreibt er mir selbst: ›Ich danke Ihnen, Papachen, daß Sie mich Dummkopf belehrt haben . . .‹ Ja, so muß man handeln.« – Alle Gäste stimmten natürlich dem Erzähler zu und schienen von dem empfangenen Vergnügen und der Belehrung neu belebt . . . Nach dem Essen stand die ganze Gesellschaft auf und begab sich ins Gastzimmer mit einem etwas lauteren, aber immer noch anständigen und in einem solchen Falle gleichsam erlaubten Geräusch . . . Man setzte sich an die Kartentische.

Ich schlug irgendwie die Zeit bis zum Abend tot, befahl meinem Kutscher, den Wagen am anderen Morgen um fünf Uhr anzuspannen, und begab mich zur Ruhe.

Aber es war mir beschieden, noch am gleichen Tag einen sehr merkwürdigen Menschen kennenzulernen.

Infolge der großen Zahl der Gäste schlief niemand allein. In dem kleinen, grünlichen, etwas feuchten Zimmer, in das mich der Haushofmeister Alexander Michailytschs geleitet hatte, befand sich schon ein anderer Gast, der schon völlig entkleidet war. Als er mich sah, tauchte er schnell unter seine Bettdecke, zog sie sich bis über die Nase, rückte noch eine Weile auf dem weichen Pfühle hin und her und beruhigte sich dann, blickte aber aufmerksam unter dem runden Saum seiner baumwollenen Nachtmütze hervor. Ich trat an das andere Bett (es waren nur zwei Betten im Zimmer), zog mich aus und legte mich auf das feuchte Laken. Mein Nachbar bewegte sich in seinem Bett . . . Ich wünschte ihm gute Nacht.

So verging eine halbe Stunde. Trotz meiner Bemühungen konnte ich unmöglich einschlafen: In einem endlosen Reigen zogen sich unnütze und verworrene Gedanken hin, hartnäckig und einförmig wie die Eimer einer Schöpfmaschine.

»Mir scheint, Sie schlafen nicht?« fragte mein Nachbar.

»Wie Sie sehen«, antwortete ich. »Aber auch Sie sind noch nicht schläfrig?«

»Ich bin niemals schläfrig.«

»Wieso?«

»So. Ich weiß selbst nicht, wie ich einschlafe; ich liege, liege und schlafe plötzlich ein.«

»Warum legen Sie sich dann zu Bett, ehe Sie schläfrig sind?«

»Was soll ich denn machen?«

Ich beantwortete diese Frage meines Nachbars nicht.

»Ich wundere mich«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »warum es hier keine Flöhe gibt. Man sollte glauben, daß gerade hier welche sein müßten.«

»Sie scheinen sie sehr zu vermissen«, bemerkte ich.

»Nein, ich vermisse sie nicht; aber ich liebe in allen Dingen die Konsequenz.«

So, so, dachte ich mir, solche Worte gebraucht er also!

Der Nachbar schwieg wieder.

»Wollen Sie mit mir wetten?« begann er von neuem ziemlich laut.

»Worüber?«

Mein Nachbar fing an, mich zu amüsieren.

»Hm . . . worüber? Nun, ich bin überzeugt, daß Sie mich für einen Dummkopf halten.«

»Ich bitte Sie!« murmelte ich erstaunt.

»Für einen Steppenmenschen, für einen ungebildeten Kerl . . . Gestehen Sie es nur . . .«

»Ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen«, entgegnete ich. »Woraus konnten Sie denn schließen . . .«

»Woraus! Schon aus dem Ton Ihrer Stimme; Sie antworten mir so nachlässig . . . Ich bin aber etwas ganz anderes als das, für was Sie mich halten . . .«

»Erlauben Sie . . .«

»Nein, erlauben Sie. Erstens spreche ich Französisch nicht schlimmer als Sie, Deutsch sogar besser als Sie; zweitens habe ich drei Jahre im Ausland verbracht, in Berlin allein habe ich acht Monate verlebt. Ich habe Hegel studiert, sehr verehrter Herr, und kann Goethe auswendig; außerdem war ich lange in die Tochter eines deutschen Professors verliebt und habe hier zu Hause ein schwindsüchtiges Mädchen geheiratet, eine kahlköpfige, aber sehr bemerkenswerte Person. Folglich bin ich aus dem gleichen Holz wie Sie; ich bin kein Steppenmensch, wie Sie es wohl annehmen . . . Auch ich bin von der Reflexion vergiftet, und es ist nichts Ursprüngliches in mir.«

Ich hob den Kopf und sah den merkwürdigen Menschen mit doppelter Aufmerksamkeit an. Beim trüben Schein des Nachtlichtes konnte ich seine Züge kaum unterscheiden.

»Jetzt sehen Sie mich an«, fuhr er fort, indem er seine Nachtmütze zurechtrückte, »und fragen sich wohl: Wie habe ich ihn heute am Tag nicht bemerkt? Ich will Ihnen sagen, warum Sie mich nicht bemerkt haben: Weil ich meine Stimme nicht erhebe; weil ich mich hinter den anderen verstecke, hinter der Tür stehe und mit niemandem spreche; weil der Haushofmeister, wenn er mit dem Tablett an mir vorüberkommt, im voraus schon seinen Ellenbogen in die Höhe meiner Brust hebt . . . Woher kommt aber das alles? Aus zwei Ursachen: Erstens bin ich arm, und zweitens habe ich mich gedemütigt . . . Sagen Sie doch die Wahrheit: Sie haben mich nicht bemerkt?«

»Ich hatte wirklich nicht das Vergnügen . . .«

»Nun ja, nun ja«, unterbrach er mich, »ich habe es gewußt.«

Er setzte sich auf und kreuzte die Arme; der lange Schatten seiner Nachtmütze bog sich von der Wand weg auf die Decke hinüber.

»Gestehen Sie doch«, fügte er hinzu, mich plötzlich von der Seite anblickend, »Sie müssen mich für einen großen Sonderling, was man ein Original nennt, halten, vielleicht sogar für etwas Schlimmeres; vielleicht glauben Sie gar, daß ich den Sonderling bloß spiele?«

»Ich muß Ihnen noch einmal sagen, daß ich Sie nicht kenne . . .«

Er senkte auf einen Augenblick das Gesicht.

»Warum ich mit Ihnen, einem mir völlig unbekannten Menschen, so unerwartet ins Gespräch gekommen bin – das weiß der liebe Gott allein!« Er seufzte. »Doch nicht infolge der Verwandtschaft unserer Seelen! Sie und ich, wir sind beide anständige Menschen, das heißt Egoisten: Ich kümmere mich nicht um Sie, und Sie kümmern sich nicht um mich, nicht wahr? Aber wir können beide nicht einschlafen . . . Warum soll man dann nicht ein wenig plaudern? Ich bin in Stimmung, und das kommt bei mir selten vor. Ich bin, sehen Sie, schüchtern, schüchtern nicht aus dem Grunde, daß ich ein armer, titelloser Provinzler bin, sondern weil ich schrecklich selbstsüchtig bin. Aber zuweilen, unter dem Einfluß günstiger Umstände und Zufälligkeiten, die ich übrigens selbst weder zu bestimmen noch vorauszusehen vermag, verschwindet meine Schüchternheit, wie zum Beispiel jetzt, vollkommen. Sie können mich jetzt dem Dalai-Lama selbst gegenüberstellen, und ich werde ihn um eine Prise bitten. Aber vielleicht wollen Sie schon schlafen?«

»Im Gegenteil«, beeilte ich mich zu erwidern, »es ist mir sehr angenehm, mich mit Ihnen zu unterhalten.«

»Das heißt, ich amüsiere Sie, wollten Sie wohl sagen . . . Um so besser. Ich will Ihnen also sagen, daß man mich hier ein Original nennt, das heißt, so nennen mich diejenigen, denen unter anderm Unsinn auch mein Name auf die Zunge kommt. Um mein Schicksal ist niemand allzusehr besorgt . . . Sie glauben mich damit zu kränken . . . Mein Gott, wenn sie wüßten . . . ja, ich gehe eben darum zugrunde, weil in mir gerade nichts Originelles ist, nichts außer solchen Ausfällen wie zum Beispiel mein jetziges Gespräch mit Ihnen; aber diese Ausfälle sind keinen roten Heller wert, das ist die billigste und gemeinste Art der Originalität.«

Er wandte mir sein Gesicht zu und schwang die Hände.

»Verehrter Herr«, rief er aus, »ich bin der Ansicht, daß nur die Originale allein ein gutes Leben und ein Recht zu leben haben. Mon verre n'est pas grand, mais je bois dans mon verre, hat jemand gesagt. – Hören Sie«, fügte er halblaut hinzu, »wie rein ich das Französische ausspreche. Was habe ich davon, daß dein Kopf groß und geräumig ist, daß du alles verstehst, viel weißt, mit deiner Zeit Schritt hältst, wenn du nichts Originelles, Besonderes hast? Es ist wohl ein Abladeplatz für die Gemeinplätze in der Welt mehr, wer hat aber etwas davon? Nein, sei meinetwegen dumm, sei es aber auf deine eigene Weise! Habe deinen Geruch, deinen eigenen Geruch, das ist es! – Glauben Sie nur nicht, daß ich in bezug auf diesen Geruch allzu große Forderungen stelle . . . Gott behüte! Solche Originale gibt es eine Menge, wo man auch hinsieht, ist ein Original; jeder lebendige Mensch ist ein Original, ich bin aber nicht darunter!«

»Und doch habe ich«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »in meiner Jugend gewisse Hoffnungen geweckt! Was für eine hohe Meinung habe ich selbst von meiner Person vor meiner Abreise nach dem Ausland gehabt und auch in der ersten Zeit nach meiner Rückkehr! Nun, im Ausland war ich auf der Hut, suchte mir meinen Weg selbst, wie es auch unsereinem ziemt, der alles zu begreifen sucht und zuletzt, wie es sich herausstellt, doch nichts begriffen hat!«

»Ein Original, ein Original!« fuhr er fort, vorwurfsvoll den Kopf schüttelnd. »Alle nennen mich ein Original, aber in Wirklichkeit zeigt es sich, daß es in der Welt keinen weniger originellen Menschen gibt als Ihren ergebensten Diener. Wahrscheinlich bin ich auch nur als eine Kopie eines anderen geboren . . . Bei Gott! Ich lebe auch gleichsam als Nachahmung verschiedener Schriftsteller, die ich studiert habe, ich lebe im Schweiß meines Angesichts; ich habe studiert, habe mich verliebt und schließlich auch geheiratet, gleichsam nicht nach eigenem Willen, sondern als wenn ich damit eine Pflicht oder eine Aufgabe zu erfüllen hätte – wer kann daraus klug werden!« Er riß sich die Nachtmütze vom Kopf.

»Wollen Sie, daß ich Ihnen mein Leben erzähle«, fragte er mich kurz, »oder, noch besser, einige Züge aus meinem Leben?«

»Tun Sie mir den Gefallen!«

»Oder nein, ich will Ihnen lieber erzählen, wie ich geheiratet habe. Die Heirat ist doch eine wichtige Sache, ein Prüfstein des ganzen Menschen; in ihr spiegelt sich wie in einem Spiegelglas . . . aber dieser Vergleich ist zu abgegriffen . . . Gestatten Sie, daß ich mir eine Prise nehme.«

Er holte unter dem Kissen seine Tabaksdose hervor, öffnete sie und begann wieder zu sprechen, die geöffnete Tabaksdose in der Hand schwingend.

»Versetzen Sie sich doch in meine Lage, sehr geehrter Herr . . . Urteilen Sie selbst, sagen Sie mir doch, was für einen Nutzen konnte ich aus Hegels Enzyklopädie ziehen? Was hat diese Enzyklopädie mit dem russischen Leben gemein? Wie wollen Sie sie auf unser Leben anwenden, und nicht nur diese Enzyklopädie allein, sondern die deutsche Philosophie überhaupt . . . ich sage noch mehr: die Wissenschaft?«

Er sprang in seinem Bett auf und begann halblaut, die Zähne boshaft zusammengebissen, zu murmeln: »Ja, so ist es, so ist es . . .! Warum hast du dich denn im Ausland herumgetrieben? Warum hast du nicht zu Hause gesessen und das dich umgebende Leben an Ort und Stelle studiert? Dann hättest du alle seine Einzelheiten, auch seine Zukunft kennengelernt und wärest dir auch über deine sogenannte Bestimmung klargeworden . . . Erlauben Sie doch«, fuhr er fort, mit wieder veränderter Stimme, als rechtfertige er sich und verzage, »wo soll unsereins das studieren, was noch kein einziger kluger Mensch in ein Buch geschrieben hat? Ich hätte mich ja sehr gerne vom russischen Leben belehren lassen, aber dieses liebe Leben schweigt. Es sagt: ›Erfasse mich von selber!‹ Ich habe aber nicht die Kraft dazu; man gebe mir die Deduktionen, ziehe mir die Schlüsse . . . Die Schlüsse? Da hast du, sagt man mir, die Schlüsse: Höre doch mal unsere Moskauer an, sind sie vielleicht keine Nachtigallen? – Das ist aber das Unglück, daß sie wie die Kursker Nachtigallen schmettern, aber nicht wie Menschen reden . . . So überlegte ich und sagte mir, die Wissenschaft sei doch überall die gleiche, auch die Wahrheit sei die gleiche, und begab mich in Gottes Namen in die Fremde zu den Ungläubigen . . . Was wollen Sie! Die Jugend, der Stolz war mir zu Kopf gestiegen. Wissen Sie, ich wollte nicht vor der Zeit Fett ansetzen, obwohl man sagt, es sei gesund. Übrigens: Wem die Natur kein Fleisch gegeben hat, der wird niemals Fett an seinem Leib sehen!«

»Aber ich glaube«, fuhr er nach einigem Nachdenken fort, »ich versprach, Ihnen zu erzählen, auf welche Weise ich geheiratet habe. Hören Sie zu. Erstens muß ich Ihnen sagen, daß meine Frau nicht mehr unter den Lebenden weilt; zweitens . . . zweitens sehe ich, daß ich Ihnen von meiner Jugend erzählen muß, sonst werden Sie nichts verstehen . . . Sie wollen doch noch nicht schlafen?«

»Nein.«

»Schön. Hören Sie mal . . . da schnarcht im Nebenzimmer Herr Kantagrjuchin, wie ordinär! Ich wurde von armen Eltern geboren, ich sage Eltern, weil ich laut Überlieferung außer der Mutter auch einen Vater gehabt habe. Ich kann mich seiner nicht erinnern; man sagt, er sei ein beschränkter Mensch mit einer großen Nase und Sommersprossen im Gesicht gewesen, rotes Haar hätte er gehabt und den Tabak nur mit einem Nasenloch geschnupft; im Schlafzimmer meiner Mutter hing sein Bildnis, in roter Uniform mit einem schwarzen Kragen bis an die Ohren, ein ungewöhnlich häßlicher Mensch. Ich wurde an diesem Bildnis vorbeigeführt, sooft ich die Rute bekommen sollte, und meine Mutter zeigte in solchen Fällen immer auf ihn und sagte: ›Er hätte dich noch ganz anders bestraft.‹ Sie können sich vorstellen, wie mich das ermutigte. Ich hatte weder Bruder noch Schwester, das heißt, eigentlich hatte ich einen Bruder, der nicht viel taugte, mit der englischen Krankheit im Nacken, aber der starb sehr bald . . . Wie kommt auch die englische Krankheit in den Schtschigrowschen Kreis des Kursker Gouvernements? Aber nicht davon will ich sprechen. Meine Mutter leitete selbst meine Erziehung mit dem ganzen Eifer einer Steppengutsbesitzerin: Sie befaßte sich damit von dem herrlichen Tag meiner Geburt bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr . . . Folgen Sie dem Gang meiner Erzählung?«

»Gewiß, fahren Sie nur fort.«

»Nun gut. Sobald ich sechzehn Jahre alt geworden war, jagte meine Mutter meinen französischen Hofmeister, den Deutschen Philippowitsch, der eigentlich ein Njeschiner Grieche war, aus dem Hause; sie brachte mich nach Moskau, ließ mich bei der Universität einschreiben und befahl ihre Seele dem Allmächtigen, nachdem sie mich meinem Onkel, dem Advokaten Koltun-Babura, einem nicht nur im Schtschigrowschen Kreise bekannten Vogel, überlassen hatte. Mein leiblicher Onkel, der Advokat Koltun-Babura, plünderte mich, wie es so geht, bis aufs Hemd aus . . . Aber ich will nicht davon sprechen. Auf die Universität kam ich – das muß ich meiner Mutter lassen – recht gut vorbereitet; aber schon damals machte sich bei mir ein Mangel an Originalität bemerkbar. Meine Kindheit unterschied sich durch nichts von der Kindheit anderer Jünglinge: Ich wuchs ebenso dumm und matt wie unter einem Federbett heran, fing ebenso früh an, Gedichte auswendig zu lernen und zu versauern, unter der Vorspiegelung einer träumerischen Hinneigung . . . wozu doch? – ja, zum Schönen . . . und so weiter. In der Universität schlug ich keinen andern Weg ein: Ich geriet sogleich in einen ›Zirkel‹. Damals waren andere Zeiten . . . Sie wissen aber vielleicht nicht, was so ein Zirkel ist? – Ich glaube, Schiller hat irgendwo gesagt:

Gefährlich ist's, den Leu zu wecken,
Verderblich ist des Tigers Zahn,
Jedoch der schrecklichste der Schrecken,
Das ist der Mensch in seinem Wahn!

Ich versichere Ihnen, er hat gar nicht das sagen wollen; er hat sagen wollen: Das ist ein ›Zirkel‹ in der Stadt Moskau!«

»Was finden Sie so Schreckliches an einem Zirkel?« fragte ich.

Mein Nachbar ergriff seine Schlafmütze und zog sie sich über die Nase.

»Was ich daran Schreckliches finde?« rief er. »Nun, hören Sie also: So ein Zirkel ist der Ruin einer jeden selbständigen Entwicklung; ein Zirkel ist ein häßlicher Ersatz für die Gesellschaft, für die Frau, für das Leben; der Zirkel . . . warten Sie, ich will Ihnen sagen, was so ein Zirkel ist! Ein Zirkel ist ein träges und mattes Leben miteinander und nebeneinander, dem man das Aussehen und die Bedeutung einer vernünftigen Sache gibt; ein Zirkel ersetzt Gespräche durch Räsonnements, er gewöhnt an fruchtloses Geschwätz, lenkt einen von der einsamen, segensreichen Arbeit ab, impft einem die literarische Krätze ein, nimmt einem schließlich die Frische und die jungfräuliche Kraft der Seele. Ein Zirkel ist Banalität and Langweile unter dem Namen von Verbrüderung und Freundschaft, eine Verkettung von Mißverständnissen und Anmaßungen unter dem Vorwand von Aufrichtigkeit und Teilnahme; in einem Zirkel hat jeder Freund das Recht, zu jeder Zeit und zu jeder Stunde seine ungewaschenen Finger in das Innerste eines Freundes zu stecken, und darum hat niemand eine reine, unberührte Stelle in seiner Seele; in einem Zirkel betet man jeden hohlen Schönredner, jeden eingebildeten Witzling, jeden frühreifen Greis an, man trägt jeden talentlosen Dichter, der aber ›geheime‹ Ideen hat, auf den Händen; in einem Zirkel reden siebzehnjährige Burschen unverständlich und geschraubt von den Frauen und von der Liebe, wenn sie aber mit Frauen zusammenkommen, so reden sie oder reden mit ihnen wie mit einem Buch – und worüber sprechen sie! In einem Zirkel blüht eine geschraubte Beredsamkeit; in einem Zirkel beobachtet einer den andern, wie ein Polizeibeamter . . . Oh, Zirkel! Du bist kein Zirkel, du bist ein Zauberkreis, in dem schon mehr als ein anständiger Mensch zugrunde gegangen ist!«

»Gestatten Sie die Bemerkung: Sie übertreiben«, unterbrach ich ihn.

Mein Nachbar sah mich schweigend an.

»Vielleicht, Gott mag es wissen, vielleicht. Unsereinem ist doch nur die eine Freude geblieben – zu übertreiben. So lebte ich die vier Jahre in Moskau. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, verehrter Herr, wie schnell für mich diese Zeit verging; es ist mir sogar schmerzvoll und verdrießlich, daran zu denken. Wenn ich am Morgen aufstand, so glitten die folgenden Tagesstunden wie ein Schlitten einen Eisberg hinunter . . . Eh ich mich dessen versah, war der Tag schon zu Ende; schon ist der Abend da, der verschlafene Diener hilft dir in den Rock, du ziehst ihn an und schleppst dich zu einem Freund, um bei ihm ein Pfeifchen zu rauchen, ein Glas dünnen Tee nach dem anderen zu trinken und von der deutschen Philosophie zu sprechen, von der Liebe, von der ewigen Sonne des Geistes und von ähnlichen fernliegenden Gegenständen. Hier traf ich aber auch originelle, selbständige Menschen; mancher tat sich noch so sehr Gewalt an, um sich nach der Schablone zu biegen, aber die Natur forderte doch ihr Recht; nur ich allein knetete an mir herum wie an weichem Wachs, und meine elende Natur leistete nicht den geringsten Widerstand! Indessen wurde ich einundzwanzig Jahre alt. Ich trat in den Besitz meiner Erbschaft ein oder, richtiger gesagt, des Teiles meiner Erbschaft, den mein Vormund für gut befunden hatte, mir zu lassen, gab meinem freigelassenen Leibeigenen Wassilij Kudrjaschew Vollmacht zur Verwaltung meiner Güter und fuhr ins Ausland, nach Berlin. Im Ausland blieb ich, wie ich schon das Vergnügen hatte, Ihnen zu melden, drei Jahre. Und was glauben Sie? Auch dort im Ausland blieb ich das gleiche unoriginelle Geschöpf. Erstens brauche ich wohl gar nicht zu sagen, daß ich das eigentliche Europa, das europäische Leben in keiner Weise kennenlernte; ich hörte die Vorlesungen deutscher Professoren und las die deutschen Bücher an ihrem Entstehungsort . . . das war der ganze Unterschied. Ich lebte zurückgezogen wie ein Mönch; ich verkehrte nur mit verabschiedeten russischen Leutnants, die gleich mir von Wissensdurst gequält, im übrigen schwer von Begriff waren und keine Gabe der Rede besaßen; ich gab mich mit stumpfsinnigen Familien aus Pensa und anderen broterzeugenden Gouvernements ab; ich trieb mich in Kaffeehäusern herum, las Zeitschriften und besuchte abends das Theater. Mit den Einheimischen verkehrte ich wenig, sprach mit ihnen gezwungen und empfing bei mir niemand von ihnen, mit Ausnahme von zwei oder drei aufdringlichen Jünglingen jüdischer Abstammung, die jeden Augenblick bei mir erschienen, um Geld von mir zu pumpen, denn der Russe pumpt. Ein seltsames Spiel des Zufalls führte mich endlich in das Haus eines meiner Professoren; das kam so: Ich ging zu ihm, um bei ihm das Kolleg zu belegen, er aber lud mich zu einer Abendgesellschaft ein. Dieser Professor hatte zwei Töchter von etwa siebenundzwanzig Jahren, kräftige Mädels – Gott mit ihnen –, großartige Nasen, gekräuselte Haare und blaßblaue Augen, die Hände aber rot mit weißen Nägeln. Die eine hieß Linchen, die andere Minchen. Ich fing an, bei diesem Professor zu verkehren. Ich muß Ihnen sagen, dieser Professor war nicht dumm, aber irgendwie vernagelt; vom Katheder herab sprach er recht zusammenhängend, zu Hause aber hatte er eine unverständliche Aussprache und trug die Brille immer auf der Stirn; dabei war er ein sehr gelehrter Mann . . . Und was glauben Sie? Plötzlich schien es mir, ich hätte mich in Linchen verliebt – ganze sechs Monate schien es mir. Ich unterhielt mich mit ihr freilich wenig –, sah sie meistens nur an, aber ich las ihr verschiedene rührende Werke vor, drückte ihr heimlich die Hände und saß an Abenden schwärmend neben ihr, unverwandt auf den Mond oder auch einfach auf den Himmel blickend. Außerdem kochte sie ausgezeichnet Kaffee . . .! Was brauchte ich noch mehr? Eines nur machte mir Bedenken: In den Augenblicken der, was man so nennt, unaussprechlichen Seligkeit fühlte ich ein Unbehagen in der Herzgrube, und ein kaltes, banges Zittern lief mir über den Magen. Zuletzt hielt ich dieses Glück nicht aus und floh. Ganze zwei Jahre verbrachte ich darauf im Ausland; ich war in Italien, stand in Rom vor der Verklärung Christi und in Florenz vor der Venus; zuweilen verfiel ich in ein übertriebenes Entzücken, das wie Wut über mich kam; an Abenden schrieb ich Verse und fing ein Tagebuch an; mit einem Wort, ich benahm mich wie alle. Sehen Sie, wie leicht es ist, originell zu sein. Ich verstehe zum Beispiel nichts von Malerei und Skulptur . . . Das hätte ich doch laut sagen können . . . aber das kann man doch nicht! Nimm dir einen Cicerone und lauf hin, um die Fresken anzusehen . . .«

Er senkte wieder den Kopf und warf die Schlafmütze wieder ab.

»So kehrte ich schließlich in die Heimat zurück«, fuhr er mit müder Stimme fort, »und kam nach Moskau. In Moskau geschah mit mir eine merkwürdige Veränderung. Im Ausland hatte ich meistens geschwiegen, hier wurde ich aber plötzlich redselig und bildete mir zugleich Gott weiß was alles ein. Es fanden sich nachsichtige Menschen, die mich fast für ein Genie hielten; Damen hörten mit Teilnahme meinen Reden zu; ich verstand es aber nicht, mich auf der Höhe meines Ruhmes zu halten. Eines schönen Morgens kam eine Klatscherei über mich zur Welt – ich weiß nicht, wer sie gezeugt hatte; wahrscheinlich irgendeine alte Jungfer männlichen Geschlechts, solche alte Jungfern gibt es in Moskau massenhaft; die Klatscherei kam auf und begann wie eine Erdbeerpflanze Schößlinge und Sprossen zu treiben. Ich verwickelte mich darin – wollte mich befreien und die zähen Fäden zerreißen, das gelang mir aber nicht . . . Ich reiste ab. Hier erwies ich mich als ein alberner, untauglicher Mensch; ich hätte ruhig den Verlauf dieser Plage abwarten sollen, wie man das Ende des Nesselfiebers abwartet, und die gleichen nachsichtigen Menschen hätten mir wieder ihre Arme geöffnet, die gleichen Damen hätten wieder meinen Reden zugelächelt . . . Aber das ist eben das Unglück, daß ich ein unorigineller Mensch bin. Mein Gewissen, sehen Sie, war plötzlich erwacht: Ich schämte mich, unaufhörlich zu schwatzen, gestern auf dem Arbat, heute auf der Truba, morgen auf dem Siwzew-Wraschek, und immer über dieselben Dinge . . . Wenn das aber verlangt wird? Schauen Sie nur die echten Helden auf diesem Gebiet an – das macht ihnen nichts; im Gegenteil, das ist es, was sie brauchen; mancher arbeitet zwanzig Jahre mit der Zunge und immer in der gleichen Richtung! Was machen doch Selbstvertrauen und Ehrgeiz aus! Auch in mir war Ehrgeiz, und er ist auch heute noch nicht zur Ruhe gekommen . . . Schlimm aber ist, daß ich, ich sage es wieder, ein unorigineller Mensch bin und auf halbem Wege stehenblieb – die Natur hätte mir viel mehr Ehrgeiz verleihen oder mir gar keinen Ehrgeiz geben sollen. Aber in der ersten Zeit fiel es mir wirklich schwer; außerdem hatte die Reise ins Ausland endgültig meine Mittel erschöpft, und eine Kaufmannstochter mit einem jungen, aber wie Gelee schwammigen Körper wollte ich doch nicht heiraten. – Ich zog mich also auf mein Gut zurück. Ich glaube«, fügte mein Nachbar hinzu, mich wieder von der Seite anblickend, »ich darf wohl die ersten Eindrücke des Landlebens übergehen, die Hinweise auf die Schönheit der Natur, auf den stillen Reiz der Einsamkeit und so weiter . . .«

»Sie dürfen es«, sagte ich.

»Um so mehr«, fuhr der Erzähler fort, »als es alles Unsinn ist, wenigstens soweit es mich betrifft. Auf dem Land langweilte ich mich wie ein eingesperrter junger Hund, obwohl ich gestehen muß, daß mir, als ich auf dem Rückweg zum erstenmal im Frühling durch das mir bekannte Birkengehölz fuhr, der Kopf schwindelte und das Herz vor süßer unbestimmter Erwartung klopfte. Aber diese unbestimmten Erwartungen gehen, wie Sie wissen, niemals in Erfüllung, dagegen erfüllen sich andere Dinge, die man gar nicht erwartet hat: wie Viehseuchen, Steuerrückstände, öffentliche Subhastationen und so weiter. Indem ich mich mit Hilfe des Burmistrs Jakow, der an Stelle des früheren Verwalters getreten war und sich mit der Zeit als der gleiche, wenn nicht noch größere Spitzbube als dieser erwies und der obendrein mein Leben durch den Geruch seiner geteerten Stiefel vergiftete, von einem Tag zum anderen durchschlug, erinnerte ich mich eines Tages einer mir bekannten Nachbarfamilie, die aus einer Oberstin a. D. und deren zwei Töchtern bestand; ich ließ meine Droschke anspannen und fuhr zu den Nachbarn. Dieser Tag soll mir ewig im Gedächtnis bleiben: Nach sechs Monaten heiratete ich die zweite Tochter der Oberstin . . .!«

Der Erzähler senkte den Kopf und hob die Arme zum Himmel.

»Indessen«, fuhr er erregt fort, »ich möchte Ihnen keine schlechte Meinung von der Verstorbenen einflößen. Gott behüte! Sie war das edelste, gütigste Geschöpf, ein liebendes Wesen, zu allen Opfern fähig, obwohl ich, unter uns gesagt, gestehen muß, daß ich, wenn ich nicht das Unglück gehabt hätte, sie zu verlieren, wohl nicht imstande gewesen wäre, mich heute mit Ihnen zu unterhalten, denn in meinem Schuppen ist auch heute noch der Balken ganz, an dem ich mich mehr als einmal habe aufhängen wollen!«

»Gewisse Birnen«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »müssen einige Zeit im Keller lagern, bis sie ihren rechten Geschmack bekommen; auch meine Selige gehörte offenbar zu ähnlichen Naturprodukten. Jetzt erst lasse ich ihr volle Gerechtigkeit widerfahren. Jetzt erst wecken zum Beispiel die Erinnerungen an manche Abende, die ich mit ihr vor der Hochzeit verbrachte, nicht nur nicht die geringste Bitterkeit in mir, sondern rühren mich im Gegenteil fast bis zu Tränen. Die Leute waren nicht reich; ihr sehr altes, hölzernes, aber bequemes Haus stand auf einer Anhöhe zwischen einem verwilderten Garten und einem mit Unkraut bewachsenen Hof. Unten lief ein Fluß, der durch das Laub kaum zu sehen war. Eine große Terrasse führte aus dem Hause in den Garten, vor der Terrasse prangte ein längliches, mit Rosen bepflanztes Beet; an beiden Enden des Beetes wuchsen zwei Akazien, die der verstorbene Besitzer noch in ihrer Jugend in Schraubenform gezogen hatte. Etwas weiter, im Dickicht einer verwahrlosten und verwilderten Himbeerpflanzung stand eine innen kunstvoll ausgemalte, von außen aber dermaßen baufällige und morsche Gartenlaube, daß es unheimlich war, sie anzusehen. Eine Glastür führte von der Terrasse in das Gastzimmer; im Gastzimmer bot sich aber dem neugierigen Blick des Beschauers folgendes dar: In den Ecken Kachelöfen, rechts ein verstimmtes, mit handschriftlichen Noten beladenes Piano, ein mit verblichenem, blauem, weißgemustertem Stoff überzogenes Sofa, ein runder Tisch, zwei Etageren mit Nippsachen aus Porzellan und Glasperlen aus den Zeiten der Kaiserin Katharina; an der Wand das bekannte Bildnis eines blonden Mädchens mit einem Täubchen an der Brust und verdrehten Augen, auf dem Tisch eine Vase mit frischen Rosen . . . Sehen Sie, wie ausführlich ich es beschreibe. In diesem Gastzimmer, auf dieser Terrasse spielte sich die ganze Tragikomödie meiner Liebe ab. Die Nachbarin selbst war ein böses Frauenzimmer, das vor lauter Bosheit immer heiser war, ein lästiges und zänkisches Geschöpf; die eine Tochter, Wjera, unterschied sich durch nichts von den gewöhnlichen Provinzfräulein; die andere hieß Sofja, und in diese Sofja verliebte ich mich. Die beiden Schwestern hatten ein gemeinsames Schlafzimmer mit zwei keuschen hölzernen Bettchen, vergilbten Poesiealben, Reseden, ziemlich schlechten Bleistiftbildnissen ihrer Freunde und Freundinnen – unter diesen fiel ein Herr mit einem ungewöhnlich energischen Gesichtsausdruck und einer noch energischeren Unterschrift auf, der in seiner Jugend außerordentliche Erwartungen geweckt hatte und es, wie wir alle, zu nichts brachte – mit Büsten von Goethe und Schiller, deutschen Büchern, trockenen Kränzen und anderen Gegenständen, die zur Erinnerung aufbewahrt wurden. In dieses Zimmer kam ich jedoch selten und ungern; ich konnte darin, ich weiß selbst nicht warum, kaum atmen. Außerdem – eine seltsame Sache! Sofja gefiel mir am meisten, wenn ich mit dem Rücken zu ihr saß, und vielleicht auch noch, wenn ich an sie dachte oder vielmehr von ihr träumte, besonders an Abenden auf der Terrasse. Ich blickte damals auf das Abendrot, auf die Bäume, auf die grünen, kleinen Blätter, die schon dunkel geworden waren, sich aber noch immer scharf vom rosa Himmel abhoben; im Gastzimmer am Klavier saß Sofja und spielte fortwährend irgendeinen Lieblingssatz von Beethoven, leidenschaftlich und nachdenklich zugleich; die böse Alte schnarchte friedlich auf dem Sofa sitzend; in dem von rotem Licht durchfluteten Eßzimmer wirtschaftete Wjera am Teetisch; der Samowar sang kunstvoll, als freute er sich über etwas; mit lustigem Knistern brachen die Brezeln, die Löffel schlugen melodisch an die Tassen; der Kanarienvogel, der den ganzen Tag über unbarmherzig geschmettert hatte, wurde plötzlich still und zwitscherte nur ab und zu, als fragte er etwas; aus einem durchsichtigen, leichten Wölkchen fielen im Vorüberziehen einige Tröpfchen herab . . . Ich aber saß und lauschte und sah zu, mein Herz wurde mir weit, und es schien mir wieder, daß ich liebe. Unter dem Eindruck eines solchen Abends hielt ich einmal bei der Alten um die Hand ihrer Tochter an und war nach zwei Monaten schon verheiratet. Mir schien, daß ich sie liebte . . . Jetzt wäre es wirklich Zeit, daß ich es wisse, aber ich weiß bei Gott auch jetzt nicht, ob ich Sofja geliebt habe. Sie war ein gütiges, kluges, schweigsames Geschöpf mit einem warmen Herzen; aber Gott weiß warum, ob infolge des langen Lebens auf dem Land oder aus irgendeiner anderen Ursache, barg sich auf dem Grund ihrer Seele – wenn die Seele überhaupt einen Grund hat – eine Wunde, oder es blutete, genauer gesagt, eine Wunde, die man durch nichts heilen konnte, die weder sie selbst noch ich zu nennen vermochte. Von der Existenz dieser Wunde erfuhr ich natürlich erst nach der Hochzeit. Wie sehr ich mich mit ihr auch abmühte, nichts wollte helfen! In meiner Kindheit hatte ich einmal einen Zeisig, den einmal eine Katze in ihren Pfoten gehalten hatte; man hatte ihn gerettet und geheilt, aber der arme Zeisig erholte sich nie wieder. Er saß traurig da, kränkelte und sang nicht mehr . . . Es endete damit, daß eines Nachts in den offenen Käfig eine Ratte eindrang und ihm den Schnabel abbiß, was ihn endlich zu sterben bewog. Ich weiß nicht, was für eine Katze meine Frau in den Pfoten gehabt hatte, aber auch sie war immer traurig und siechte dahin wie mein unglücklicher Zeisig. Manchmal hatte sie sichtlich Lust, sich aufzuraffen, sich in der frischen Luft, in der Sonne und Freiheit zu vergnügen; sie versuchte es und schrumpfte gleich wieder zu einem Knäuel zusammen. Sie hatte mich dennoch lieb: Wie oft hatte sie mir versichert, daß ihr nichts mehr zu wünschen übrigbliebe – hol's der Teufel –, dabei erloschen aber ihre Blicke. Ich fragte mich, ob sie nicht etwas in ihrer Vergangenheit hätte? Ich zog Erkundigungen ein – nein, es war nichts da. Nun urteilen Sie selbst: Ein origineller Mensch hätte wohl die Achsel gezuckt, vielleicht zweimal aufgeseufzt und dann angefangen, sein eigenes Leben zu leben, ich aber bin ein unoriginelles Geschöpf und fing darum an, nach dem Balken zu schielen. In meiner Frau wurzelten alle die Angewohnheiten einer alten Jungfer – Beethoven, nächtliche Spaziergänge, Reseden, Briefwechsel mit Freunden, Poesiealben usw. – so tief, daß sie sich an eine andere Lebensweise, besonders an die einer Hausfrau, unmöglich gewöhnen konnte; dabei ist es doch lächerlich, wenn eine verheiratete Frau sich in namenloser Sehnsucht verzehrt und an Abenden das Lied singt: O weck sie nicht beim Morgenstrahl!

Auf diese Weise schwelgten wir drei Jahre in Seligkeit; im vierten Jahr starb Sofja in ihrem ersten Wochenbett, und es ist seltsam: Ich hatte gleichsam schon früher vermutet, daß sie nicht imstande sein würde, mir einen Sohn oder eine Tochter und der Erde einen neuen Bewohner zu schenken. Ich erinnere mich an ihr Begräbnis. Es war im Frühjahr. Unsere Pfarrkirche ist nicht groß, alt, der Ikonostas ist vor Alter schwarz, die Wände nackt, der Fußboden aus Ziegelsteinen schadhaft; rechts und links im Chor hängt je ein altes Heiligenbild. Man trug den Sarg herein, stellte ihn in die Mitte vor die Zarenpforte, bedeckte ihn mit einer verblichenen Decke und stellte drei Leuchter um ihn herum. Der Gottesdienst begann. Der altersschwache Diakon mit kleinem Zopf hinten, den Leib tief unten mit einem grünen Gürtel umschlungen, lallte traurig vor dem Betpult; der gleichfalls greise Geistliche mit gutmütigem Gesicht und halbblinden Augen, in einem lilagelb gemusterten Ornat, sang die Gebete für sich selbst und für den Diakon. In der ganzen Breite der geöffneten Fenster bewegten sich und flüsterten die jungen, frischen Blätter der Trauerbirken, von draußen zog der Duft des Grases herein; die roten Flammen der Wachskerzen erblaßten im lustigen Licht des Frühlingstages; die Spatzen zwitscherten, daß man es in der ganzen Kirche hörte, und ab und zu erklang unter der Kuppel der helle Schrei einer Schwalbe, die hereingeflogen war. Im goldenen Staub des Sonnenstrahles senkten und hoben sich schnell die blonden Köpfe der wenigen Bauern, die inbrünstig für die Verstorbene beteten; in dünnen bläulichen Fäden zog der Rauch aus den Öffnungen des Räucherfasses empor. Ich blickte auf das tote Antlitz meiner Frau . . . Mein Gott! Auch der Tod, der Tod selbst hatte sie nicht erlöst, hatte ihre Wunde nicht geheilt: der gleiche schmerzvolle, scheue, stumme Ausdruck – als fühle sie sich selbst im Sarge unbehaglich . . . Ein bitteres Gefühl regte sich in mir. Sie war ein so herzensgutes Geschöpf, und doch war es auch für sie selbst gut, daß sie gestorben war!«

Die Wangen des Erzählers röteten sich, und seine Augen wurden trüb.

»Als ich mich endlich vom schweren Druck, der auf mir nach dem Tode meiner Frau lastete, befreit hatte«, begann er wieder, »entschloß ich mich, wie man so sagt, etwas Vernünftiges anzufangen. Ich trat in der Gouvernementsstadt in den Staatsdienst; in den großen Zimmern des Amtsgebäudes bekam ich Kopfschmerzen, meine Augen waren auch nicht in Ordnung; es kamen auch noch andere Gründe hinzu . . . ich nahm meinen Abschied. Ich wollte schon nach Moskau hinüberfahren, aber erstens fehlte es mir an Geld, und zweitens . . . ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich mich gedemütigt hatte. Die Demut kam über mich plötzlich und zugleich auch nicht plötzlich. Geistig hatte ich mich schon längst gedemütigt, aber mein Kopf wollte sich noch immer nicht beugen. Ich schreibe die demütige Stimmung meiner Gefühle und Gedanken dem Einfluß des Landlebens und meines Unglücks zu . . . Andererseits hatte ich schon längst bemerkt, daß fast alle meine Nachbarn, wie die alten so die jungen, am Anfang von meiner Gelehrsamkeit, von meinem Aufenthalt im Ausland und den übrigen Vorzügen meiner Erziehung eingeschüchtert, sich an mich nicht nur nicht gewöhnt hatten, sondern mich entweder grob oder von oben herab behandelten, meine Betrachtungen nicht zu Ende anhörten und in ihren Gesprächen mit mir gewisse Höflichkeitsformen vernachlässigten. Ich vergaß, Ihnen noch zu sagen, daß ich im ersten Jahr meiner Ehe aus Langweile versucht hatte, mich auf die Literatur zu verlegen, und sogar einen Beitrag an eine Zeitschrift schickte, eine Novelle, wenn ich nicht irre; aber nach einiger Zeit erhielt ich vom Redakteur einen höflichen Brief, in dem es unter anderm hieß, man könne mir Geist wohl nicht absprechen, wohl aber das Talent; in der Literatur brauche man aber gerade das Talent. Außerdem kam es mir zu Ohren, daß ein durchreisender Moskauer, ein im übrigen seelenguter junger Mann, sich über mich in einer Abendgesellschaft beim Gouverneur als über einen abgeschmackten und hohlen Menschen geäußert hatte. Aber meine halb freiwillige Verblendung hielt noch immer an: Ich wollte, wissen Sie, mich nicht selbst ›ohrfeigen‹; schließlich gingen mir eines schönen Morgens die Augen auf. Dies geschah auf folgende Weise: Mich besuchte der Isprawnik, um meine Aufmerksamkeit auf eine eingefallene Brücke auf meinen Besitzungen zu lenken, zu deren Instandsetzung mir aber völlig die Mittel fehlten. Während der nachsichtige Hüter der öffentlichen Ordnung nach einem Schnaps ein Stück gedörrten Störrückens verzehrte, warf er mir väterlich meine Unachtsamkeit vor, ging übrigens auf meine Lage ein und riet mir nur, meinen Bauern zu befehlen, etwas Mist auf die Stelle zu werfen; dann steckte er sich ein Pfeifchen an und begann von den bevorstehenden Wahlen zu sprechen. Um den Ehrentitel eines Gouvernements-Adelsmarschalls bewarb sich damals ein gewisser Orbassanow, ein leerer Schreier und bestechlicher Mensch obendrein. Dabei zeichnete er sich weder durch Reichtum noch durch vornehme Abstammung aus. Ich äußerte meine Meinung über ihn ziemlich abfällig; offen gestanden, sah ich auf Herrn Orbassanow hochmütig herab. Der Isprawnik sah mich an, klopfte mir leutselig auf die Schulter und bemerkte gutmütig: ›Ach, Wassilij Wassiljewitch, uns beiden steht es nicht an, über solche Leute zu urteilen; wie kommen wir dazu – Schuster, bleib bei deinem Leisten.‹ – ›Ich bitte Sie‹, entgegnete ich ärgerlich, ›welch ein Unterschied ist zwischen mir und Herrn Orbassanow?‹ – Der Isprawnik nahm die Pfeife aus dem Mund, riß die Augen weit auf und lachte. – ›So ein Spaßvogel‹, sagte er endlich unter Tränen, ›so ein Witz . . . köstlich!‹ Bis zu seiner Abreise hörte er nicht mehr auf, sich über mich lustig zu machen; er stieß mich ab und zu mit den Ellenbogen in die Seite, und duzte mich zuletzt. Endlich fuhr er davon. Dieser eine Tropfen hatte nur noch gefehlt, die Schale war voll. Ich ging einigemal durchs Zimmer, blieb vor dem Spiegel stehen, betrachtete lange mein verlegenes Gesicht, streckte bedächtig die Zunge heraus und schüttelte mit bitterem Hohn den Kopf. Die Binde war mir von den Augen gefallen; ich sah ganz klar, klarer als mein Gesicht im Spiegel, welch ein leerer, nichtiger, überflüssiger und unorigineller Mensch ich war!« Der Erzähler schwieg eine Weile.

»In einer Tragödie Voltaires«, fuhr er traurig fort, »freut sich jemand darüber, daß er die äußerste Grenze des Unglücks erreicht habe. Obwohl in meinem Schicksal nichts Tragisches ist, habe ich doch, offen gestanden, etwas Ähnliches empfunden. Ich lernte die giftigen Wonnen der kalten Verzweiflung kennen; ich erfuhr, wie süß es ist, während eines ganzen Morgens, in seinem Bett liegend, ohne Übereilung den Tag und die Stunde seiner Geburt zu verfluchen; ich konnte mich nicht mit einem Male demütigen. Urteilen Sie doch selbst: Der Geldmangel fesselte mich an das mir verhaßte Gut; weder die Landwirtschaft noch der Staatsdienst, noch die Literatur standen mir an; den Gutsbesitzern ging ich aus dem Wege, die Bücher widerten mich an; für die wässerig-gedunsenen und krankhaft-empfindsamen Fräulein, die ihre Locken schütteln und fieberhaft das Wort ›Leben‹ wiederholen, stellte ich nichts Interessantes mehr dar, seitdem ich aufgehört hatte zu schwatzen und in Verzückung zu geraten; um mich ganz in die Einsamkeit zurückzuziehen, fehlten mir Verständnis und Kraft . . . Ich fing an – was glauben Sie wohl? –, mich bei den Nachbarn herumzutreiben. Von der Verachtung gegen sich selbst gleichsam berauscht, ließ ich wie absichtlich allerlei kleinliche Erniedrigungen über mich ergehen. Ich wurde bei Tisch mit manchem Gericht übergangen, man empfing mich kalt und hochmütig, übersah mich endlich ganz; man erlaubte mir nicht, mich in ein allgemeines Gespräch einzumischen, und es kam vor, daß ich selbst aus meinem Winkel irgendeinem dummen Schwätzer zustimmte, der früher in Moskau mit Entzücken den Staub meiner Füße, den Saum meines Mantels geküßt hätte . . . Ich erlaubte mir sogar selbst nicht den Gedanken, daß ich mich dem bitteren Genuß der Ironie hingebe . . . Ich bitte Sie, was ist es für eine Ironie, wenn man ganz allein ist! So habe ich einige Jahre hintereinander gehandelt und handle auch jetzt noch . . .«

»Das ist aber schon gar zu bunt«, brummte im Nebenzimmer die verschlafene Stimme des Herrn Kantagrjuchin, »was für ein Dummkopf erlaubt sich, bei Nacht zu reden?«

Der Erzähler tauchte schnell unter die Bettdecke und drohte mir, schüchtern hervorlugend, mit dem Finger.

»Pst . . ., pst . . .«, flüsterte er und sagte dann respektvoll, sich nach der Richtung der Stimme Kantagrjuchins bückend und entschuldigend: »Ich höre, ich höre, entschuldigen Sie . . . Er darf schlafen, er muß schlafen«, fuhr er wieder flüsternd fort, »er muß neue Kräfte sammeln, wenn auch nur, um morgen mit demselben Genuß essen zu können. Wir haben nicht das Recht, ihn zu stören. Außerdem habe ich Ihnen, glaube ich, schon alles erzählt, was ich erzählen wollte; wahrscheinlich wollen Sie auch schon schlafen. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht!«

Der Erzähler wandte sich mit fieberhafter Schnelligkeit weg und vergrub seinen Kopf in die Kissen.

»Darf ich wenigstens wissen«, fragte ich, »mit wem ich das Vergnügen habe . . .?«

Er hob rasch den Köpf.

»Nein, um Gottes willen«, unterbrach er mich, »fragen Sie weder mich noch sonst jemanden nach meinem Namen. Mag ich für Sie ein unbekanntes Geschöpf bleiben, ein vom Schicksal geschlagener Wassilij Wassiljewitsch. Außerdem verdiene ich, als unorigineller Mensch, keinen eigenen Namen . . . Wenn Sie mir aber unbedingt irgendeinen Namen geben wollen, so nennen Sie mich . . . nennen Sie mich den Hamlet des Schtschigrowschen Kreises. Solche Hamlets gibt es in jedem Kreis viel, vielleicht sind Sie aber noch nie einem begegnet . . . Und nun leben Sie wohl.«

Er vergrub sich wieder in sein Pfühl. Als man mich am anderen Morgen weckte, war er nicht mehr im Zimmer. Er war vor Sonnenaufgang weggefahren.


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