Iwan Turgenjew
Aufzeichnungen eines Jägers
Iwan Turgenjew

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Das Kontor

Es war im Herbst. Seit einigen Stunden schon streifte ich mit dem Gewehr durch die Felder und wäre wohl nicht vor Abend in die Herberge an der Kursker Landstraße zurückgekehrt, wo mich meine Troika erwartete, wenn mich nicht der außerordentlich feine und kalte Regen, der mir vom frühen Morgen an so unablässig und unbarmherzig wie eine alte Jungfer zusetzte, schließlich gezwungen hätte, irgendwo in der Nähe eine wenn auch vorübergehende Zuflucht zu suchen. Während ich noch überlegte, welche Richtung ich einschlagen sollte, fiel mein Blick plötzlich auf eine niedere Strohhütte neben einem Erbsenfeld. Ich ging auf die Hütte zu, blickte unter das Strohdach und sah einen so altersschwachen Greis, daß mir sofort jener sterbende Bock in den Sinn kam, den Robinson in einer der Höhlen seiner Insel gefunden hatte. Der Alte hockte auf dem Boden, kniff seine dunkelgewordenen, kleinen Augen zusammen und kaute eilig, aber vorsichtig, gleich einem Hasen (der Arme hatte keinen einzigen Zahn im Mund) an einer trockenen und harten Erbse, die er unaufhörlich von der einen Seite in die andere rollen ließ. Er war in seine Beschäftigung dermaßen vertieft, daß er mein Erscheinen gar nicht bemerkte.

»Großvater! Du, Großvater!« sagte ich.

Er hörte zu kauen auf, zog die Brauen in die Höhe und öffnete mit Mühe die Augen.

»Was denn?« lallte er mit heiserer Stimme.

»Wo ist hier ein Dorf in der Nähe?« fragte ich.

Der Alte fing wieder zu kauen an. Er hatte mich nicht gehört. Ich wiederholte meine Frage lauter.

»Ein Dorf . . .? Was willst du denn?«

»Ich möchte mich vor dem Regen schützen.«

»Was?«

»Vor dem Regen schützen!«

»Ja!« Er kratzte sich seinen sonnenverbrannten Nacken. »Nun, geh mal so«, begann er plötzlich, die Worte durch unordentliche Handbewegungen begleitend. »So . . . wenn du am Wäldchen vorbeikommst, wenn du da vorbeikommst, so ist ein Weg; du sollst aber diesen Weg beiseite lassen und dich immer rechts halten, immer rechts, immer rechts . . . So kommst du nach Ananjewo. Oder du kommst auch nach Sitowka.«

Ich konnte den Alten nur mit Mühe verstehen. Sein Schnurrbart hinderte ihn am Sprechen, auch die Zunge wollte ihm nicht recht gehorchen.

»Wo bist du denn her?« fragte ich ihn.

»Was?«

»Wo du her bist?«

»Aus Ananjewo.«

»Was tust du denn hier?«

»Was?«

»Was du hier tust?«

»Ich bin hier Wächter.«

»Was bewachst du denn?«

»Die Erbsen.«

Ich mußte lachen.

»Aber ich bitte dich, wie alt bist du?«

»Das weiß Gott allein.«

»Du siehst wohl schlecht?«

»Was?«

»Du siehst wohl schlecht?«

»Ja, schlecht. Es kommt auch vor, daß ich nichts höre.«

»Wie kannst du dann Wächter sein, ich bitte dich?«

»Das ist Sache der Vorgesetzten.«

Die Vorgesetzten! dachte ich mir und sah den armen Alten nicht ohne Bedauern an. Er betastete sich, holte aus dem Busen ein Stück trockenes Brot hervor und fing an, daran zu saugen wie ein Kind, die ohnehin eingefallenen Wangen mit Mühe einziehend.

Ich ging in die Richtung zum Wäldchen, bog nach rechts ab, immer nach rechts, wie mir der Alte geraten hatte, und erreichte endlich ein großes Dorf mit einer steinernen Kirche im neuen Geschmack, das heißt mit Säulen und einem ausgedehnten, gleichfalls säulengeschmückten Herrenhaus. Schon aus der Ferne hatte ich durch das engmaschige Netz des Regens ein Haus mit einem Schindeldach und zwei Schornsteinen bemerkt, das höher als die andern Bauernhäuser war, anscheinend das Wohnhaus des Schulzen. Ich richtete dorthin meine Schritte in der Hoffnung, bei ihm einen Samowar Tee, Zucker und nicht ganz saure Sahne zu finden. In Begleitung meines vor Kälte zitternden Hundes betrat ich die kleine Treppe, kam in den Flur, öffnete eine Tür, erblickte aber statt der gewöhnlichen Einrichtung einer Bauernstube mehrere, mit Papieren beladene Tische, zwei rote Schränke, bespritzte Tintenfässer, zinnerne Sandfässer, von denen ein jedes wohl einen Pud wiegen mochte, furchtbar lange Federn und dergleichen. Auf einem der Tische saß ein etwa zwanzigjähriger Bursche mit gedunsenem und kränklichem Gesicht, winzigen Äuglein, einer fettigen Stirne und unendlich langen Schläfen. Er trug, ganz wie es sich gehört, einen grauen Nankingkaftan mit Fettglanz auf Kragen und Bauch.

»Was wünschen Sie?« fragte er mich und fuhr mit dem Kopf in die Höhe, wie ein Pferd, das nicht erwartet hatte, daß man es an der Schnauze packen würde.

»Wohnt hier der Verwalter . . . oder . . .«

»Hier ist das herrschaftliche Hauptkontor«, unterbrach er mich. »Ich sitze als Diensthabender da . . . Haben Sie denn das Schild nicht gelesen? Dazu ist doch das Schild angebracht.«

»Wo könnte ich mich hier trocknen? Hat hier jemand im Dorf einen Samowar?«

»Wie sollte kein Samowar dasein«, entgegnete der Bursche im grauen Kaftan sehr wichtig: »Gehen Sie einmal zum Geistlichen P. Timofej oder in die Gesindestube oder zu Nasar Tarassytsch oder zur Geflügelwärterin Agrafena.«

»Mit wem redest du da, Dummkopf? Du läßt einen gar nicht schlafen, Tölpel!« erklang eine Stimme aus dem Nebenzimmer.

»Da ist ein Herr gekommen und fragt, wo er sich trocknen könnte.«

»Was für ein Herr?«

»Ich weiß es nicht. Einer mit einem Hund und einem Gewehr.«

Im Nebenzimmer knarrte ein Bett. Die Tür ging auf, und herein trat ein Mann von etwa fünfzig Jahren, dick, kleingewachsen, mit einem Stiernacken, hervorstehenden Augen, ungewöhnlich runden Wangen und glänzendem Gesicht.

»Was wünschen Sie?« fragte er mich.

»Ich möchte mich trocknen.«

»Hier ist nicht der Ort dafür.«

»Ich wußte nicht, daß es das Kontor ist; übrigens will ich gerne bezahlen . . .«

»Vielleicht wird es auch hier gehen«, antwortete der Dicke. »Wollen Sie sich vielleicht hierher bemühen?« Er führte mich ins Nebenzimmer, aus dem er soeben gekommen war. »Werden Sie es hier bequem haben?«

»Ja . . . Könnte ich nicht auch Tee mit Sahne haben?«

»Bitte sehr, sofort. Wollen Sie sich indessen ausziehen und ausruhen, der Tee wird im Moment fertig sein.«

»Wem gehört dieses Gut?«

»Der Frau Jelena Nikolajewna Losnjakowa.«

Er ging hinaus. Ich sah mich um: An der Bretterwand, die mein Zimmer vom Kontor trennte, stand ein riesengroßes Ledersofa; zwei gleichfalls lederne Sessel mit ungeheuer hohen Lehnen standen zu beiden Seiten des einzigen Fensters, das auf die Straße ging. An den mit grünen, rosagemusterten Tapeten beklebten Wänden hingen drei große Ölbilder. Auf dem einen war ein Hühnerhund mit blauem Halsband und der Inschrift ›Das ist meine Freude‹ dargestellt; zu Füßen des Hundes war ein Fluß, und am gegenüberliegenden Ufer saß unter einer Fichte ein Hase von ungewöhnlicher Größe, das eine Ohr gespitzt. Auf dem zweiten Bild verzehrten zwei alte Männer eine Wassermelone; hinter der Wassermelone war in der Ferne eine griechische Säulenhalle mit der Inschrift ›Tempel der Befriedung‹ zu sehen. Das dritte Bild stellte eine halbnackte Frau in liegender Pose en raccourci dar, mit roten Knien und sehr dicken Fersen. Mein Hund verkroch sich unverzüglich mit ungeheurer Mühe unter das Sofa und fand dort anscheinend viel Staub, denn er hörte gar nicht zu niesen auf. Ich trat ans Fenster. Schräg über die Straße waren vom Herrenhaus zum Kontor Bretter gelegt; eine höchst nützliche Vorsichtsmaßregel, da es ringsum, dank unserer russischen schwarzen Erde und dem anhaltenden Regen ein entsetzlicher Schmutz war. In der Nähe des Herrenhauses, das mit der Rückseite zur Straße stand, spielten sich Szenen ab, wie sie sich immer neben den Herrenhäusern abspielen: Mädchen in verschossenen Kattunkleidern liefen hin und her; Leibeigene wateten durch den Schmutz, blieben ab und zu stehen und kratzten sich nachdenklich den Rücken; das angebundene Pferd eines Zehentmannes bewegte träge den Schweif und nagte mit hocherhobener Schnauze am Zaun; Hühner gackerten; schwindsüchtige Truthennen riefen einander fortwährend etwas zu. Auf der Freitreppe eines dunklen, durchfaulten Gebäudes, wahrscheinlich der Badestube, saß ein kräftiger Bursche mit einer Gitarre und sang nicht ohne Schwung das bekannte Lied:

»Ich fli – iehe in die ferne Wü – üste
aus diesem wu – underschö – önen Ort!«

Der Dicke trat zu mir ins Zimmer.

»Da bringt man Ihnen den Tee«, sagte er mir mit einem angenehmen Lächeln.

Der diensthabende Bursche im grauen Kaftan stellte auf einen alten Lombertisch den Samowar, die Teekanne, ein Glas mit zerschlagener Untertasse, ein Töpfchen Sahne und einen Kranz Bolchowscher Kringel, die so hart waren wie Kieselsteine. Der Dicke ging hinaus.

»Wer ist das?« fragte ich den Diensthabenden. »Der Verwalter?«

»Zu Befehl, nein: Er war bisher erster Kassierer und ist jetzt zum ersten Sekretär befördert.«

»Habt ihr denn hier keinen Verwalter?«

»Zu Befehl, nein. Wir haben einen Burmistr, Michailo Wikulow, aber einen Verwalter haben wir nicht.«

»Aber einen Gutsinspektor habt ihr doch?«

»Gewiß, einen Deutschen, Karl Karlowitsch Lindamandol, aber er redet nichts drein.«

»Wer redet denn drein?«

»Die Gnädige selbst.«

»So . . .! Nun, habt ihr im Kontor viele Menschen sitzen?«

Der Bursche dachte nach.

»Sechs Menschen sitzen da.«

»Wer denn?« fragte ich.

»Nun, da ist zuerst Wassilij Nikolajewitsch, der Hauptkassierer, dann der Schreiber Pjotr, Pjotrs Bruder Iwan – ein Schreiber – und ein anderer Iwan, auch ein Schreiber, Koskonkin Narkisow, auch ein Schreiber, dann ich – alle kann man gar nicht aufzählen.«

»Eure Gnädige hat wohl viele Leibeigene?«

»Nein, das kann man nicht sagen . . .«

»Wieviel sind es immerhin?«

»An die hundertfünfzig Seelen werden es sein.«

Wir beide schwiegen eine Weile.

»Nun, hast du eine schöne Handschrift?« fragte ich von neuem.

Der Bursche grinste mit dem ganzen Gesicht, nickte mit dem Kopf, ging ins Kontor und brachte ein beschriebenes Blatt.

»Das da ist meine Handschrift«, versetzte er, immerfort grinsend.

Ich sah hin – auf einem Viertelblatt grauen Papiers stand mit einer hübschen und großen Schrift geschrieben:

Verordnung

von dem herrschaftlichen Haupt-Hauskontor zu Ananjewo
an den Burmistr Michailo Wikulow. Nr. 209.

Es wird dir befohlen, sofort nach Empfang dieses zu untersuchen, wer in der vergangenen Nacht in betrunkenem Zustand und mit unanständigen Liedern durch den Englischen Garten gegangen ist und die französische Gouvernante, Madame Eugenie, geweckt und belästigt hat. Wie haben die Wächter aufgepaßt und wer war Wächter im Garten und hatte diesen Unfug zugelassen? Über alles Obenerwähnte hast du eine genaue Untersuchung anzustellen und dem Kontor unverzüglich Meldung zu erstatten.

Der erste Sekretär Nikolai Chwostow

Dieser Verordnung war ein ungeheures Wappensiegel mit der Inschrift ›Siegel des herrschaftlichen Haupt-Hauskontors zu Ananjewo‹ beigefügt; unten stand der Vermerk ›Genauest auszuführen, Jelena Losnjakowa.‹

»Das hat wohl die Gnädige selbst hingeschrieben?« fragte ich.

»Gewiß, sie selbst; sie tut es immer selbst. Sonst hat die Verordnung keine Wirkung.«

»Nun, werdet ihr jetzt diese Verordnung dem Burmistr zuschicken?«

»Nein. Er wird selbst herkommen und sie lesen. Das heißt, man wird sie ihm vorlesen; er versteht nicht zu lesen.« Der Diensthabende machte wieder eine Pause. »Nun«, fügte er grinsend hinzu, »es ist doch hübsch geschrieben?«

»Gewiß.«

»Aufgesetzt habe ich es, offen gestanden, nicht selbst. Darin ist Koskenkin Meister.«

»Wie . . .? Werden denn die Verordnungen bei euch erst aufgesetzt?«

»Wie denn sonst? Man kann sie doch nicht gleich ins reine schreiben.«

»Wieviel Gehalt bekommst du denn?« fragte ich.

»Fünfunddreißig Rubel und fünf Rubel für Stiefel.«

»Und bist damit zufrieden?«

»Natürlich bin ich zufrieden. Bei uns findet nicht jeder Anstellung im Kontor. Mich hat, offen gestanden, Gott selbst dazu bestimmt, mein Onkel ist der Haushofmeister.«

»Und hast du es gut?«

»Ja, gut. Um die Wahrheit zu sagen«, fuhr er mit einem Seufzer fort, »bei einem Kaufmann zum Beispiel hat es unsereiner besser. Bei einem Kaufmann hat es unsereiner sehr gut. Zu uns ist gestern abend ein Kaufmann aus Wenjew gekommen, sein Knecht hat es mir erzählt . . . Bei dem hat man es gut, da ist nichts zu sagen, sehr gut.«

»Zahlen denn die Kaufleute mehr Gehalt?«

»Gott bewahre! Er wird einen hinauswerfen, wenn man Gehalt verlangt. Nein, beim Kaufmann lebt man auf gut Glauben und in der Furcht des Herrn. Er gibt einem zu essen und zu trinken, gibt die Kleider und alles. Stellt man ihn zufrieden, so gibt er noch mehr . . . Was ist Gehalt? Man braucht gar kein Gehalt . . . Auch lebt so ein Kaufmann einfach nach russischer Sitte wie unsereins: Ist man mit ihm auf der Reise, und trinkt er Tee, so bekommst auch du Tee; was er ißt, das bekommst du auch. Der Kaufmann . . . wie kann man es nur vergleichen – der Kaufmann ist ganz anders als ein Gutsherr. Der Kaufmann hat keine Launen; wenn er böse wird, verprügelt er einen, und die Sache ist erledigt. Aber er schimpft nicht und brummt nicht . . . Mit einem Herrn ist es aber ein Unglück! Alles paßt ihm nicht, dieses ist nicht gut, und jenes ist schlecht. Reicht man ihm ein Glas Wasser oder eine Speise, so heißt es gleich: ›Ach, das Wasser stinkt! Ach, das Essen stinkt!‹ Man trägt es hinaus, steht eine Weile hinter der Tür: ›Nun, jetzt ist es gut, jetzt stinkt es nicht mehr.‹ Und erst so eine Gnädige! Oder erst ein gnädiges Fräulein . . .!«

»Fedjuschka!« ertönte die Stimme des Dicken im Kontor.

Der Diensthabende ging schnell hinaus. Ich trank mein Glas Tee zu Ende, legte mich aufs Sofa und schlief ein. Ich schlief zwei Stunden.

Als ich erwachte, wollte ich aufstehen, aber ich war zu faul; ich schloß die Augen, schlief aber nicht mehr ein. Hinter der Bretterwand im Kontor wurde leise gesprochen. Ich hörte unwillkürlich zu.

»Ja, so ist es, so ist es, Nikolai Jeremejitsch«, sagte die eine Stimme. »Ja. Das kann man nicht in Betracht ziehen; das geht wirklich nicht . . . Hm!« Der Sprechende hüstelte.

»Glauben Sie es mir, Gawrila Antonytsch«, entgegnete die Stimme des Dicken. »Wie sollte ich die hiesige Ordnung nicht kennen, urteilen Sie doch selbst.«

»Ja, wer sollte sie kennen, Nikolai Jeremejitsch; Sie sind hier, man kann wohl sagen, die erste Person. Wie ist es nun?« fuhr die mir unbekannte Stimme fort. »Was werden wir beschließen, Nikolai Jeremejitsch? Gestatten Sie mir die Frage.«

»Ja, was werden wir beschließen, Gawrila Antonytsch? Die Sache hängt doch sozusagen von Ihnen ab – Sie scheinen keine rechte Lust zu haben.«

»Aber ich bitte, Nikolai Jeremejitsch, was fällt Ihnen ein? Ich bin doch nur Kaufmann, unsere Sache ist der Handel. Wir leben ja davon, Nikolai Jeremejitsch, das kann man wohl sagen.«

»Acht Rubel«, sagte der Dicke langsam.

Ich hörte einen Seufzer.

»Nikolai Jeremejitsch, Sie fordern zuviel.«

»Es geht nicht anders, Gawrila Antonytsch; ich sage es wie vor Gott, es geht nicht.«

Ein Schweigen trat ein.

Ich stand leise auf und blickte durch eine Spalte in der Bretterwand. Der Dicke saß mit dem Rücken zu mir. Mit dem Gesicht zu ihm saß ein Kaufmann von etwa vierzig Jahren, hager und bleich, wie mit Fastenöl eingerieben. Er kratzte sich ununterbrochen den Bart, blinzelte sehr schnell mit den Augen und zuckte die Lippen.

»Wunderbar steht heuer die Wintersaat, das kann man wohl sagen«, begann er wieder. »Ich habe sie während der ganzen Fahrt bewundert. Von Woronesh an ist eine wunderbare Wintersaat, man darf wohl sagen, erster Sorte.«

»Die Wintersaat ist wirklich nicht schlecht«, antwortete der erste Buchhalter. »Aber Sie wissen doch, Gawrila Antonytsch, der Herbst kann noch so schön sein, alles hängt vom Frühjahr ab.«

»Es ist wirklich so, Nikolai Jeremejitsch; alles ist in Gottes Hand; Sie haben die reine Wahrheit gesagt . . . Ihr Gast scheint aber schon erwacht zu sein.«

Der Dicke wandte sich um . . . horchte . . .

»Nein, er schläft. Übrigens kann man auch . . .«

Er trat an die Tür.

»Nein, er schläft«, sagte er wieder und kehrte auf seinen Platz zurück.

»Nun, wie ist es, Nikolai Jeremejitsch?« fing der Kaufmann von neuem an. »Man muß doch das Geschäft einmal abschließen . . . Also meinetwegen, Nikolai Jeremejitsch, meinetwegen«, fuhr er fort, ununterbrochen mit den Augen zwinkernd, »zwei graue Scheine und einen weißen Schein kriegen Euer Gnaden, und dort«, er wies mit einer Kopfbewegung auf das Herrenhaus, »heißt es: sechsundeinhalb. Schlagen Sie ein?«

»Vier graue«, entgegnete der Buchhalter.

»Drei!«

»Vier graue ohne einen weißen.«

»Drei, Nikolai Jeremejitsch.«

»Dreiundeinhalb, keine Kopeke weniger.«

»Drei, Nikolai Jeremejitsch.«

»Kommen Sie mir nicht damit, Gawrila Antonytsch.«

»Wie unnachgiebig Sie doch sind«, murmelte der Kaufmann. »Dann schließe ich schon lieber mit der Gnädigen selbst ab.«

»Wie Sie wollen«, antwortete der Dicke, »hätten Sie das doch früher gesagt. Was sollen Sie sich beunruhigen . . .? So wäre es viel besser!«

»Ist schon gut, ist schon gut, Nikolai Jeremejitsch. Gleich werden Sie böse! Ich habe es doch nur so gesagt.«

»Nein, warum, im Ernst . . .«

»Ist schon gut, sage ich Ihnen . . . Ich sage Ihnen doch, daß es nur zum Spaß war. Nun, nimm deine dreiundeinhalb, was soll man mit dir machen.«

»Vier hätte ich nehmen sollen, habe mich aber, Dummkopf, übereilt«, brummte der Dicke.

»Also, dort, im Hause heißt es: sechsundeinhalb, Nikolai Jeremejitsch. Das Getreide wird also für sechsundeinhalb abgegeben?«

»Für sechsundeinhalb, das ist doch schon abgemacht.«

»Also, schlagen Sie ein, Nikolai Jeremejitsch.« Der Kaufmann schlug mit seinen gespreizten Fingern in die Handfläche des Buchhalters. »Mit Gott denn!« Der Kaufmann stand auf. »Ich gehe also jetzt, Väterchen Nikolai Jeremejitsch, zur Gnädigen, lasse mich anmelden und sage ihr: ›Nikolai Jeremejitsch hat zu sechsundeinhalb abgeschlossen.«

»Ja, sagen Sie es so, Gawrila Antonytsch.«

»Und jetzt wollen Sie es in Empfang nehmen.«

Der Kaufmann händigte dem Buchhalter ein kleines Päckchen Banknoten aus, verbeugte sich, schüttelte den Kopf, ergriff seinen Hut mit zwei Fingern, hob die Achseln, versetzte seinen Rumpf in eine wellenförmige Bewegung und verließ, angemessen mit den Stiefeln knarrend, das Zimmer. Nikolai Jeremejitsch ging zur Wand und begann, soweit ich sehen konnte, die Papiere, die ihm der Kaufmann eingehändigt hatte, durchzusehen. In der Tür erschien ein rothaariger Kopf mit dichtem Backenbart.

»Nun?« fragte der Kopf. »Alles, wie es sich gehört?«

»Wie es sich gehört.«

»Wieviel?«

Der Dicke winkte ärgerlich mit der Hand und wies auf mein Zimmer.

»Ach so, gut!« entgegnete der Kopf und verschwand.

Der Dicke ging zum Tisch, setzte sich, schlug ein Buch auf, holte ein Rechenbrett hervor und begann die Beinkugeln hin und her zu werfen; er machte es nicht mit dem Zeigefinger, sondern mit dem Mittelfinger: So ist es vornehmer.

Der Diensthabende trat ein.

»Was willst du?«

»Sidor ist aus Golopljoki gekommen.«

»Ah! Nun, ruf ihn her. Wart, wart . . . Geh erst hin und schau nach, ob der fremde Herr noch schläft oder schon aufgewacht ist.«

Der Diensthabende trat leise in mein Zimmer. Ich legte den Kopf auf die Jagdtasche, die mir ein Kissen ersetzte, und schloß die Augen.

»Er schläft«, flüsterte der Diensthabende, ins Kontor zurückkehrend.

Der Dicke brummte etwas zwischen den Zähnen.

»Nun, ruf Sidor her«, sagte er endlich.

Ich hob wieder den Kopf. Ein Bauer von Riesenwuchs, an die dreißig Jahre alt, kräftig, rotbackig, mit dunkelblondem Haar und kurzem, lockigem Vollbart, trat ins Kontor. Er verrichtete ein kurzes Gebet vor dem Heiligenbild, verneigte sich vor dem ersten Buchhalter, nahm seinen Hut in beide Hände und richtete sich auf.

»Guten Tag, Sidor«, sagte der Dicke, auf dem Rechenbrett klappernd.

»Guten Tag, Nikolai Jeremejitsch.«

»Nun, wie ist der Weg?«

»Gut, Nikolai Jeremejitsch. Ein wenig schmutzig.« Der Bauer sprach langsam und leise.

»Ist deine Frau gesund?«

»Was soll ihr fehlen!«

Der Bauer seufzte und streckte einen Fuß vor. Nikolai Jeremejitsch legte sich die Feder hinters Ohr und schneuzte sich.

»Nun, wozu bist du hergekommen?« fuhr er fort, das karierte Taschentuch wieder in die Tasche steckend.

»Sie wissen, Nikolai Jeremejitsch, man verlangt von uns Zimmerleute.«

»Habt ihr vielleicht keine?«

»Warum sollen wir keine haben, Nikolai Jeremejitsch? Es ist doch eine Waldgegend. Es gibt aber jetzt viel Arbeit, Nikolai Jeremejitsch.«

»Viel Arbeit! Das ist es eben, ihr arbeitet gerne für fremde Menschen, für eure Gutsherrin wollt ihr aber nicht arbeiten . . . Es ist doch alles eins!«

»Die Arbeit ist wohl die gleiche, Nikolai Jeremejitsch . . . aber . . .«

»Was denn?«

»Die Bezahlung ist etwas . . . ich meine . . .«

»Was euch nicht einfällt! Verwöhnt seid ihr, das ist es!«

»Auch muß ich noch das sagen, Nikolai Jeremejitsch, es ist nur für eine Woche Arbeit da, aber man wird uns einen Monat hierbehalten. Bald langt das Material nicht, bald schickt man uns in den Garten, um die Wege zu putzen.«

»Was dir nicht alles einfällt! Die Gnädige hat selbst zu befehlen geruht, also haben wir miteinander nichts zu reden.«

Sidor verstummte und begann von einem Fuß auf den andern zu treten.

Nikolai Jeremejitsch neigte den Kopf auf die Seite und begann mit besonderem Eifer mit den Beinkugeln zu klappern.

»Unsere . . . Bauern . . . Nikolai Jeremejitsch . . .«, begann endlich Sidor, bei jedem Wort stockend, »ließen Euer Gnaden . . . hier ist es . . .« Er steckte seine Riesenhand in den Busen seines Mantels und begann ein zusammengewickeltes Handtuch mit rotem Muster hervorzuholen.

»Was fällt dir ein, was fällt dir ein, Dummkopf, bist wohl verrückt?« unterbrach ihn der Dicke eilig. »Geh, geh zu mir ins Haus«, fuhr er fort, indem er den erstaunten Bauern beinahe hinauswarf, »frage dort nach meiner Frau . . . sie wird dir Tee geben; ich komm' auch gleich hin, geh. Man sagt dir doch, geh.«

Sidor ging hinaus.

»So ein . . . Bär!« murmelte der erste Buchhalter, während jener hinausging. Dann schüttelte er den Kopf und machte sich wieder ans Rechenbrett.

Plötzlich ertönten auf der Straße und der Treppe Schreie. »Kuprja! Kuprja! Mit Kuprja ist nicht zu spaßen!« und bald darauf trat ins Kontor ein kleingewachsener Mann von schwindsüchtigem Aussehen, mit einer ungewöhnlich langen Nase, großen, unbeweglichen Augen und einer außerordentlich stolzen Haltung. Bekleidet war er mit einem alten, zerrissenen, adelaidenfarbenen oder, wie man bei uns sagt, odelloidenfarbenen Rock mit Plüschkragen und winzigen Knöpfchen. Auf dem Buckel trug er eine Tracht Brennholz. Um ihn herum drängten sich an die fünf Leibeigene, und alle schrien: »Kuprja! Kuprja! Mit Kuprja ist nicht zu spaßen! Man hat Kuprja zum Heizer ernannt, zum Heizer!« Aber der Mann mit dem Plüschkragen schenkte dem Geschrei seiner Genossen nicht die geringste Beachtung und verzog keine Miene. Mit abgemessenen Schritten ging er auf den Ofen zu, lud seine Tracht ab, richtete sich auf, holte aus der rückwärtigen Tasche eine Tabaksdose hervor, riß die Augen weit auf und begann, sich den mit Asche vermengten Steinkleetabak in die Nase zu stopfen.

Beim Erscheinen der lärmenden Gesellschaft runzelte der Dicke erst die Brauen und erhob sich von seinem Platz; als er aber sah, was los war, lächelte er und befahl nur den Leuten, nicht so zu schreien, im Nebenzimmer schlafe ein Jäger. »Was für ein Jäger?« fragten zwei Männer gleichzeitig.

»Ein Gutsbesitzer.«

»Aha.«

»Sollen sie nur lärmen«, begann, die Arme spreizend, der Mann mit dem Plüschkragen. »Was geht es mich an! Wenn sie mich nur nicht anrühren. Man hat mich zum Heizer ernannt . . .«

»Zum Heizer! Zum Heizer!« fielen die andern freudig ein.

»Die Gnädige hat es befohlen«, fuhr er fort, die Achseln zuckend. »Wartet nur . . . euch wird man noch zu Schweinehirten ernennen. Daß ich aber ein Schneider bin, ein guter Schneider, daß ich bei den ersten Meistern in Moskau in der Lehre war und für Generale genäht habe, das kann mir niemand nehmen. Was tut ihr so tapfer . . .? Ihr seid Müßiggänger und Taugenichtse und sonst nichts. Wenn man mich freiläßt, verhungere ich nicht und gehe nicht zugrunde; wenn man mir nur einen Paß gibt, werde ich einen guten Zins zahlen und die Herrschaften zufriedenstellen. Was seid aber ihr? Ihr werdet zugrunde gehen, zugrunde gehen wie die Fliegen, das ist alles!«

»Das war aber gelogen«, unterbrach ihn ein pockennarbiger, hellblonder Bursche mit roter Halsbinde und durchgewetzten Ellenbogen. »Du hast schon einen Paß gehabt, aber die Herrschaften haben von dir keine Kopeke Zins zu sehen bekommen, und hast auch für dich selbst nichts verdient; hast dich mit Mühe heimgeschleppt; seit damals trägst du immer noch den gleichen Rock.«

»Was soll man machen; Konstantin Narkisytsch!« entgegnete Kuprian. »Wenn ein Mensch sich einmal verliebt hat, so ist er verloren. Mach erst durch, was ich durchgemacht habe, Konstantin Narkisytsch, und dann verurteile mich.«

»In wen hast du dich aber verliebt! In ein Scheusal!«

»Nein, das sollst du nicht sagen, Konstantin Narkisytsch.«

»Wem erzählst du das? Ich habe sie doch gesehen; im vergangenen Jahr habe ich sie in Moskau mit eigenen Augen gesehen.«

»Im vergangenen Jahr hat sie wirklich etwas von ihrer Schönheit verloren«, bemerkte Kuprian.

»Nein, meine Herren, was sollen wir darüber reden!« begann in einem rechtlichen und nachlässigen Ton ein hagerer, großgewachsener Mann mit einem Gesicht voller Pickel, mit gekräuseltem und öltriefendem Haar, wahrscheinlich ein Kammerdiener. »Kuprian Afanaßjitsch soll uns lieber sein Liedchen singen. Nun, fangen Sie an, Kuprian Afanaßjitsch!«

»Ja, ja!« riefen die anderen. »Bravo, Alexandra! Schön hat sie den Kuprja hereingelegt . . . das muß man schon sagen . . . Sing, Kuprja . . .! Bravo, Alexandra!« (Die Leibeigenen gebrauchen oft der Zärtlichkeit wegen, wenn sie von einem Mann sprechen, weibliche Endungen.) »Sing!«

»Hier ist kein Ort zum Singen«, entgegnete Kuprian fest. »Hier ist das herrschaftliche Kontor.«

»Was geht es dich an? Du willst doch selbst Kontorist werden?« antwortete Konstantin mit rohem Lachen. »So scheint es mir!«

»Alles hängt vom Willen der Herrschaft ab«, bemerkte der Arme.

»Seht ihr, was er werden will; wie gefällt er euch? Ah! Ah!«

Alle lachten, einzelne fingen sogar zu springen an. Am lautesten lachte ein fünfzehnjähriger Bengel, wahrscheinlich der Sohn eines Aristokraten unter den Leibeigenen. Er trug eine Weste mit Bronzeknöpfen, eine lilafarbene Halsbinde und hatte sich bereits ein Bäuchlein zugelegt.

»Gestehe doch, Kuprja«, begann selbstzufrieden Nikolai Jeremejitsch, dem die Sache wohl Spaß machte und der in Stimmung gekommen war, »es ist doch schlecht, Heizer zu sein? Ist wohl eine ganz dumme Beschäftigung?«

»Was soll ich sagen, Nikolai Jeremejitsch?« antwortete Kuprian. »Sie sind jetzt Sekretär, das stimmt; das wird niemand bestreiten; aber auch Sie waren einmal in Ungnade und haben auch in einem Bauernhaus wohnen müssen.«

»Paß auf, nimm dir nicht zu viel heraus!« unterbrach ihn der Dicke gereizt. »Narr, man macht doch nur Spaß mit dir; das müßtest du doch fühlen und dankbar sein, daß man sich mit dir abgibt, Dummkopf.«

»Das kam so zufällig, Nikolai Jeremejitsch, entschuldigen Sie . . .«

»Ja, zufällig!«

Die Tür ging auf, und ein kleiner Diener stürzte ins Zimmer.

»Nikolai Jeremejitsch, die Gnädige läßt Sie rufen.«

»Wer ist bei der Gnädigen?« fragte er den Diener.

»Aksinja Nikitischna und der Kaufmann aus Wenjew.«

»Ich komme sofort. Ihr aber, Brüder«, fuhr er eindringlich fort, »geht lieber mit dem neuernannten Heizer von hier fort; wie leicht kann der Deutsche hereinschauen und euch anzeigen.«

Der Dicke brachte sein Haar in Ordnung, hüstelte in die hohle Hand, die im Rockärmel fast ganz verschwand, knöpfte alle Knöpfe zu und begab sich breitbeinig zu der Gnädigen. Etwas später entfernte sich auch die ganze Gesellschaft mit Kuprian. Nur mein alter Bekannter, der Diensthabende, blieb zurück. Er begann erst die Gänsefedern zu schneiden, schlief aber im Sitzen ein. Mehrere Fliegen benutzten sofort diesen glücklichen Umstand und setzten sich ihm auf den Mund. Eine Mücke ließ sich auf seiner Stirn nieder, stellte ihre Beinchen symmetrisch auseinander und bohrte ihren Stachel langsam in sein weiches Fleisch. Der rothaarige Kopf mit dem Backenbart zeigte sich wieder in der Tür, sah sich um und trat zugleich mit seinem recht unschönen Körper ins Kontor.

»Fedjuschka! Du, Fedjuschka! Immer schläfst du!« versetzte der Kopf.

Der Diensthabende öffnete die Augen und erhob sich vom Stuhl.

»Ist Nikolai Jeremejitsch zur Gnädigen gegangen?«

»Ja, zur Gnädigen, Wassilij Nikolajewitsch.«

So, so, dachte ich mir, das ist er, der erste Kassierer.

Der erste Kassierer fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Es war übrigens mehr ein Schleichen als ein Gehen; überhaupt hatte er Ähnlichkeit mit einer Katze. Auf seinen Schultern schlotterte ein alter schwarzer Frack mit sehr schmalen Schößen; die eine Hand hielt er auf der Brust, mit der andern griff er aber jeden Augenblick an seine hohe, enge Halsbinde aus Roßhaar und drehte dabei angestrengt den Kopf. Er trug Stiefel aus Bockleder, die nicht knarrten, und trat sehr leise auf.

»Heute hat der Gutsbesitzer Jaguschkin nach Ihnen gefragt«, versetzte der Diensthabende.

»Hm, er hat nach mir gefragt? Was hat er denn gesagt?«

»Er hat gesagt, daß er am Abend zu Tjutjurew kommen und Sie dort erwarten wird. ›Ich muß‹, hat er gesagt, ›mit Wassilij Nikolajewitsch über eine Sache sprechen‹; über was für eine Sache, hat er aber nicht gesagt. ›Wassilij Nikolajewitsch weiß es schon‹, hat er gesagt.«

»Hm!« entgegnete der erste Kassierer und trat ans Fenster.

»Ist Nikolai Jeremejew im Kontor?« erklang im Flur eine laute Stimme, und ein großgewachsener Mensch mit einem unregelmäßigen, aber ausdrucksvollen und kühnen Gesicht, recht sauber gekleidet, trat, offenbar erzürnt, über die Schwelle.

»Ist er nicht hier?« fragte er, indem er sich schnell umsah.

»Nikolai Jeremejitsch ist bei der Gnädigen«, antwortete der Kassierer. »Sagen Sie mir, was Sie wollen, Pawel Andrejitsch. Sie können es mir sagen . . . Was wollen Sie?«

»Was ich will? Sie wollen wissen, was ich will?« Der Kassierer nickte schmerzvoll mit dem Kopf. »Ich will es ihm zeigen, dem nichtsnutzigen Dickwanst, dem gemeinen Angeber . . . Ich werde ihm das Angeben schon zeigen!«

Pawel ließ sich in einen Stuhl fallen.

»Was haben Sie, was haben Sie, Pawel Andrejitsch? Beruhigen Sie sich . . . Wie, schämen Sie sich nicht? Vergessen Sie doch nicht, von wem Sie sprechen, Pawel Andrejitsch!« stammelte der Kassierer.

»Von wem ich spreche? Was geht es mich an, daß man ihn zum ersten Sekretär ernannt hat! Da hat man gerade den richtigen gefunden. Man hat den Bock zum Gärtner gemacht!«

»Hören Sie auf, hören Sie auf, Pawel Andrejitsch, hören Sie auf! Lassen Sie es . . . was für Dummheiten!«

»Da wedelt er schon mit dem Schwanz, der Fuchs . . .! Ich will auf ihn hier warten«, sagte Pawel erbost und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ah, da kommt er ja«, fügte er hinzu, zum Fenster hinausschauend. »Wenn man vom Wolf spricht . . . Kommen Sie nur!« Er stand auf.

Nikolai Jeremejitsch trat ins Kontor. Sein Gesicht strahlte vor Freude, als er aber Pawel sah, wurde er etwas verlegen.

»Guten Tag, Nikolai Jeremejitsch«, sagte Pawel bedeutungsvoll, ihm langsam entgegenkommend. »Guten Tag!«

Der erste Sekretär antwortete nichts. In der Tür zeigte sich das Gesicht des Kaufmanns.

»Warum wollen Sie mir nicht antworten?« fuhr Pawel fort. »Übrigens, nein . . . nein«, fügte er hinzu, »so geht es nicht; mit Schreien und Schimpfen kann man nichts ausrichten. Sagen Sie mir lieber im guten, Nikolai Jeremejitsch, weshalb verfolgen Sie mich? Weshalb wollen Sie mich zugrunde richten? Nun, sprechen Sie doch, sprechen Sie doch.«

»Hier ist nicht der Ort, um sich mit Ihnen auseinanderzusetzen«, entgegnete nicht ohne Erregung der erste Sekretär, »es ist auch nicht die Zeit dazu. Aber ich wundere mich, offen gestanden, über das eine: Wie kommen Sie darauf, daß ich Sie zugrunde richten will oder Sie verfolge? Wie kann ich Sie schließlich verfolgen! Sie sind doch nicht bei mir im Kontor angestellt.«

»Das will ich meinen«, antwortete Pawel, »das fehlte noch gerade! Aber warum verstellen Sie sich, Nikolai Jeremejitsch . . .? Sie verstehen mich doch.«

»Nein, ich verstehe Sie nicht.«

»Nein, Sie verstehen mich wohl.«

»Bei Gott, ich verstehe nichts.«

»Sie schwören noch! Wenn es schon so weit gekommen ist, so sagen Sie mir doch, ob Sie Gott fürchten! Warum lassen Sie das arme Mädel nicht in Ruhe? Was wollen Sie von ihr?«

»Von wem sprechen Sie eigentlich, Pawel Andrejitsch?« fragte der Dicke mit erheucheltem Erstaunen.

»Ach, er weiß es wohl nicht! Ich spreche von Tatjana. Fürchten Sie doch Gott! Wofür rächen Sie sich an ihr? Schämen Sie sich doch; Sie sind ein verheirateter Mann, haben Kinder von meiner Größe . . . Ich aber habe was anderes im Sinn: Ich will heiraten, ich handele nach Ehre und Gewissen.«

»Was kann ich dafür, Pawel Andrejitsch? Die Gnädige erlaubt Ihnen das Heiraten nicht; so ist einmal ihr Wille! Was kann ich dafür?«

»Was Sie dafür können? Haben Sie sich vielleicht nicht mit der alten Hexe, der Haushälterin, verschworen? Haben Sie niemand verleumdet? Verbreiten Sie nicht Lügengeschichten über das schutzlose Mädel? Hat man sie nicht dank Ihnen von einer Wäscherin zu einer Spülmagd gemacht? Wird sie nicht dank Ihnen geschlagen und muß in Sackleinwand gehen . . .? Schämen Sie sich doch, schämen Sie sich, Sie alter Mann! Jeden Tag kann Sie doch der Schlag treffen . . . Sie werden es vor Gott zu verantworten haben.«

»Schimpfen Sie nur, Pawel Andrejitsch, schimpfen Sie nur . . . Sie werden nicht mehr lange schimpfen!«

Pawel fuhr auf.

»Was? Du willst mir drohen?« begann er wütend. »Du glaubst wohl, daß ich dich fürchte? Nein, Bruder, du bist an den Unrechten gekommen! Was soll ich fürchten . . .? Ich finde überall mein Auskommen. Mit dir ist es eine andere Sache! Du kannst nur hier leben, verleumden und stehlen . . .«

»Was der sich herausnimmt!« unterbrach ihn der Sekretär, der nun auch anfing, die Geduld zu verlieren. »Ein Feldscher, ein einfacher Feldscher, ein nichtsnutziger Quacksalber; wenn man ihm aber zuhört, kann man meinen, er sei eine wichtige Person!«

»Jawohl, ich bin Feldscher, aber ohne diesen Feldscher würden Euer Gnaden jetzt auf dem Friedhof faulen . . . Was hat mich auch der Teufel verführt, ihn zu heilen«, fügte er zwischen den Zähnen hinzu.

»Du hast mich geheilt . . .? Nein, du wolltest mich vergiften; du hast mir Aloe eingegeben«, fiel ihm der Sekretär ins Wort.

»Wenn aber bei dir nichts als Aloe wirkte?«

»Aloe ist von der Medizinalverwaltung verboten«, fuhr der Sekretär fort. »Ich werde mich noch beschweren . . . Du hast mich töten wollen, das ist es! Aber Gott hat es nicht zugelassen.«

»Hört doch auf, hört doch auf, meine Herren«, versuchte der Kassierer die beiden zu beschwichtigen . . .

»Laß mich in Ruh'!« schrie ihn der Sekretär an. »Er hat mich vergiften wollen! Verstehst du das?«

»Was brauche ich dich zu vergiften . . . Hör einmal, Nikolai Jeremejew«, sagte Pawel mit Verzweiflung. »Ich bitte dich zum letzten Male . . . du hast mich dazu getrieben, ich halte es nicht mehr aus. Laß uns in Ruhe, verstehst du? Sonst, bei Gott, geht es einem von uns schlecht. Dich meine ich!«

Der Dicke verlor die Fassung.

»Ich fürchte dich nicht«, schrie er auf, »hörst du, du Milchbart! Ich bin mit deinem Vater fertig geworden und habe ihm die Hörner gestutzt – das soll dir als Beispiel dienen, paß auf!«

»Sprich mir nicht von meinem Vater, Nikolai Jeremejew, sprich nicht von ihm!«

»So, so! Was bist du mir für ein Lehrmeister?«

»Ich sage dir, sprich mir nicht von ihm!«

»Und ich sage dir, vergiß dich nicht . . . Wie nötig dich auch die Gnädige nach deiner Ansicht braucht, aber wenn sie zwischen uns beiden zu wählen hat, so wirst du dich nicht halten können, Liebster! Niemand darf hier revoltieren, paß auf!« Pawel zitterte vor Wut. »Aber dem Mädel Tatjana geschieht ganz recht . . . Wart, sie wird noch was ganz anderes erleben!«

Pawel stürzte mit erhobenen Armen auf ihn los, und der Sekretär fiel schwer zu Boden.

»In Ketten mit ihm, in Ketten!« stöhnte Nikolai Jeremejew.

Das Ende dieser Szene kann ich nicht beschreiben; ich fürchte ohnehin, das Gefühl des Lesers verletzt zu haben.

Am gleichen Tag kehrte ich nach Hause zurück. Eine Woche später erfuhr ich, daß Frau Losnjakowa sowohl Pawel als Nikolai in ihren Diensten behalten, das Mädel Tatjana aber auf ein anderes Gut verschickt hatte; sie konnte sie wohl nicht brauchen.


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