Iwan Turgenjew
Aufzeichnungen eines Jägers
Iwan Turgenjew

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Zwei Gutsbesitzer

Ich habe schon die Ehre gehabt, Ihnen, geneigte Leser, einige meiner Herren Nachbarn vorzustellen; gestatten Sie mir jetzt, da sich gerade die Gelegenheit bietet (unsereinem, einem Schriftsteller, bietet sich aber immer eine Gelegenheit), Sie mit noch zwei Gutsbesitzern bekannt zu machen, bei denen ich oft zur Jagd war, zwei sehr geachteten, wohlmeinenden und die allgemeine Achtung mehrerer Landkreise genießenden Herren.

Zuerst will ich Ihnen den Generalmajor a. D. Wjatscheslaw Illarionowitsch Chwalynskij schildern. Stellen Sie sich einen großgewachsenen, früher einmal schlank gewesenen Mann vor, der schon etwas aufgedunsen, aber noch durchaus nicht greisenhaft, nicht einmal gealtert ist und im reifen Alter, sozusagen in der Blüte der Jahre steht. Seine einst regelmäßigen und auch jetzt noch angenehmen Gesichtszüge haben sich allerdings etwas verändert: Die Wangen hängen herab, dichte Runzeln haben sich strahlenförmig um die Augen gelegt, und auch mancher Zahn fehlt schon, wie Saadi, nach Puschkins Behauptung, gesagt haben soll; das Dunkelblond seiner Haare, jedenfalls der, die noch geblieben sind, hat sich dank einer Mixtur, die er auf dem Pferdemarkt zu Romny von einem Juden, der sich für einen Armenier ausgab, erstanden hatte, in ein Lila verwandelt; aber Wjatscheslaw Illarionowitsch schreitet rüstig, lacht laut, klirrt mit den Sporen, dreht seinen Schnurrbart und nennt sich einen alten Kavalleristen, während die wirklich alten Leute sich bekanntlich niemals alt nennen. Gewöhnlich trägt er einen bis oben zugeknöpften Rock, eine hohe Halsbinde mit steifem Kragen und eine militärisch zugeschnittene graue Hose mit Glanz; seinen Hut drückt er ganz in die Stirn, so daß der ganze Nacken frei bleibt. Er ist ein sehr guter Mensch, hat aber recht seltsame Begriffe und Angewohnheiten. Zum Beispiel: Er kann unmöglich die weniger reichen oder nicht in hohem Range stehenden Edelleute wie Menschen seinesgleichen behandeln. Wenn er mit ihnen spricht, so sieht er sie gewöhnlich von der Seite an und drückt dabei die eine Wange fest an den steifen weißen Kragen; oder er blendet sie plötzlich mit einem klaren und starren Blick, schweigt eine Weile und bewegt die ganze Kopfhaut unter den Haaren; er spricht sogar die Worte anders aus und sagt z. B. statt: »Bitte ergebenst, Pawel Wassiljitsch« oder »Bemühen Sie sich hierher, Michailo Iwanytsch« – »Bitt' gebenst, Pall' Assilitsch« oder: »Michal'Wanytsch.« Die Leute, welche auf den niedrigsten Stufen der Gesellschaft stehen, behandelt er noch merkwürdiger: Er sieht sie gar nicht an und wiederholt, ehe er ihnen seinen Wunsch äußert oder einen Befehl erteilt, einige Male hintereinander mit besorgter und nachdenklicher Miene: »Wie heißt du . . .? Wie heißt du?«, wobei er das erste Wort ›Wie‹ ungewöhnlich scharf betont, die übrigen Worte aber sehr schnell spricht, was dem ganzen Satz eine ziemliche Ähnlichkeit mit dem Schrei eines Wachtelmännchens verleiht. Er tut immer geschäftig und ist ziemlich geizig, dabei aber ein schlechter Wirt; zum Gutsverwalter hat er einen verabschiedeten Wachtmeister, einen Kleinrussen von ungewöhnlicher Dummheit. In puncto Wirtschaft hat bei uns übrigens noch niemand jenen hohen Petersburger Beamten übertroffen, der, als er aus den Berichten seines Verwalters ersah, daß die Kornspeicher auf seinem Gut oft Feuersbrünsten ausgesetzt werden, wodurch viel Getreide verlorengeht, den strengsten Befehl gab, in Zukunft die Garben niemals in die Speicher zu stellen, bevor das Feuer gänzlich erloschen ist. Derselbe Würdenträger kam einmal auf den Gedanken, alle seine Felder mit Mohn zu besäen, und zwar infolge einer anscheinend höchst einfachen Berechnung: Der Mohn ist teurer als Roggen, also ist es vorteilhafter, Mohn zu säen. Er hatte auch seinen leibeigenen Weibern befohlen, Kokoschniks nach einem aus Petersburg zugesandten Muster zu tragen; auf seinen Gütern tragen die Weiber auch heute noch Kokoschniks, haben aber den alten Kopfputz darunter behalten . . . Kehren wir aber zu Wjatscheslaw Illarionowitsch zurück. Wjatscheslaw Illarionowitsch ist ein großer Freund des schönen Geschlechts, und sooft er in seiner Kreisstadt, auf dem Boulevard, eine hübsche Person sieht, steigt er ihr sofort nach, fängt aber gleich zu hinken an – ein bemerkenswerter Umstand. Er spielt auch gern Karten, aber nur mit Menschen von niedrigerem Range; sie sagen zu ihm ›Exzellenz‹, er aber wäscht ihnen den Kopf und schimpft, soviel es ihm beliebt. Wenn es sich aber trifft, daß er mit dem Gouverneur oder einer anderen beamteten Person spielt, so geht mit ihm eine erstaunliche Veränderung vor: Dann lächelt er, nickt mit dem Kopf, schaut ihnen in die Augen – er fließt förmlich vor Honig über . . . Selbst wenn er verliert, beklagt er sich nicht. Wjatscheslaw Illarionowitsch liest wenig; beim Lesen bewegt er fortwährend den Schnurrbart und die Augenbrauen, als ob sein ganzes Gesicht von unten nach oben in wellenförmiger Bewegung wäre. Besonders auffallend ist diese wellenförmige Bewegung im Gesicht Wjatscheslaw Illarionowitschs, wenn er gelegentlich (natürlich nur in Gegenwart von Gästen) die Spalten des Journal des Débats durchfliegt. Bei den Wahlen spielt er eine recht bedeutende Rolle, lehnt aber aus Geiz das Amt eines Adelsmarschalls ab. »Meine Herren«, sagt er gewöhnlich zu den Edelleuten, die ihn zu überreden suchen, mit einer gönnerhaften und würdevollen Miene, »ich danke sehr für die Ehre; aber ich habe mich entschlossen, meine Muße der Einsamkeit zu widmen.« Nachdem er diese Worte gesprochen hat, bewegt er den Kopf einige Male nach rechts und nach links und drückt dann Kinn und Wangen mit Würde in seine Halsbinde. In seinen jungen Jahren war er Adjutant bei einer bedeutenden Persönlichkeit gewesen, die er nie anders als mit dem Vor- und Vaternamen nennt; man sagt, er hätte auch andere Pflichten als die eines Adjutanten auf sich genommen: So soll er z. B. in voller Paradeuniform und sogar bis oben zugeknöpft seinem Vorgesetzten im Dampfbad die Dienste eine Badedieners geleistet haben, aber man darf nicht jedem Gerücht glauben. Übrigens spricht auch General Chwalynskij selbst nicht gern von seiner dienstlichen Laufbahn, was doch sehr seltsam ist; er scheint auch nicht im Krieg gewesen zu sein. General Chwalynskij lebt allein in einem kleinen Häuschen; Eheglück hat er in seinem ganzen Leben nicht erfahren, und darum gilt er auch jetzt noch als eine Partie, sogar als eine gute Partie. Dafür trägt seine Haushälterin, eine etwa fünfunddreißigjährige, schwarzäugige, schwarzbrauige, volle und recht frische, mit einem Schnurrbart gesegnete Person an Wochentagen gestärkte Kleider, an Sonntagen aber Musselinärmel. Schön wirkt Wjatscheslaw Illarionowitsch bei den großen Diners, die die Gutsbesitzer zu Ehren des Gouverneurs und anderer Behörden geben; da ist er, man kann wohl sagen, ganz in seinem Element. Bei solchen Gelegenheiten sitzt er gewöhnlich, wenn auch nicht unmittelbar zur Rechten des Gouverneurs, so doch nicht allzu weit von ihm; zu Anfang des Diners ist er vorwiegend vom Bewußtsein seiner eigenen Würde erfüllt: Er lehnt sich etwas zurück und mustert, ohne den Kopf zu wenden, die Reihe der runden Nacken und steifen Kragen der Gäste; aber gegen das Ende der Tafel wird er lustig, lächelt nach allen Seiten (in der Richtung nach dem Gouverneur hat er schon seit Beginn des Diners gelächelt) und bringt sogar zuweilen einen Toast auf das schöne Geschlecht aus, den schönsten Schmuck unseres Planeten, wie er es nennt. Nicht übel ist General Chwalynskij auch bei allen anderen feierlichen und öffentlichen Akten, wie Schulprüfungen, Versammlungen und Ausstellungen; er versteht auch meisterhaft, an den Priester heranzutreten, um sich seinen Segen zu erbitten. Wenn sich nach Schluß einer solchen Veranstaltung oder bei der Überfahrt über einen Fluß die Wagen drängen, so pflegen die Leute Wjatscheslaw Illarionowytschs niemals zu lärmen und zu schreien; im Gegenteil, indem sie das Publikum zurückdrängen oder den Wagen herbeirufen, sagen sie in einem angenehmen, tiefen Bariton: »Gestatten Sie, gestatten Sie, lassen Sie den General Chwalynskij durch!« oder: »Die Equipage des Generals Chwalynskij . . .« Diese Equipage hat zwar eine recht altertümliche Form; die Livree der Diener ist ziemlich abgetragen (daß sie grau mit rotem Vorstoß ist, brauche ich wohl gar nicht zu erwähnen); auch die Pferde sind ziemlich abgelebt und haben viele Dienstjahre hinter sich; aber auf Eleganz erhebt Wjatscheslaw Illarionowitsch keinen Anspruch und hält es sogar unter seiner Würde, den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Über eine besondere Rednergabe verfügt Chwalynskij nicht, oder vielleicht findet er auch keine Gelegenheit, seine Beredsamkeit zu zeigen, denn er liebt nicht nur keine Debatten, sondern auch keine Einwände und vermeidet ängstlich jedes längere Gespräch, besonders mit jungen Leuten. So ist es in der Tat viel sicherer; denn mit den Leuten von heute ist es ein wahres Unglück: Sie versagen leicht jeden Gehorsam und verlieren die Achtung. Vor Personen höheren Ranges schweigt Chwalynskij meistens, und an Personen, die im Range tiefer stehen und die er zu verachten scheint, aber mit denen er doch ausschließlich verkehrt, richtet er kurze und scharfe Reden, wobei er ständig Ausdrücke wie die folgenden gebraucht: »Sie reden Unsinn.« Oder: »Ich sehe mich gezwungen, mein Herr, Ihnen vorzuhalten.« Oder: »Sie müssen schließlich wissen, mit wem Sie sprechen!« usw. Besondere Furcht haben vor ihm die Postmeister, die ständigen Beisitzer und die Stationsaufseher. Bei sich zu Hause empfängt er niemand und lebt, wie man behauptet, wie ein Geizhals. Bei alledem ist er ein prächtiger Gutsbesitzer. ›Ein alter Soldat, ein uneigennütziger Mensch von Grundsätzen, vieux grognard‹, nennen ihn seine Nachbarn. Nur der Gouvernements-Staatsanwalt allein erlaubt sich zu lächeln, wenn in seiner Gegenwart die vorzüglichen und soliden Eigenschaften des Generals Chwalynskij erwähnt werden – aber was vermag nicht alles der Neid . . .!

Wollen wir uns jetzt übrigens zu einem anderen Gutsbesitzer wenden.

Mardarij Apollonytsch Stjegunow hat mit Chwalynskij nicht die geringste Ähnlichkeit; er hat kaum irgendwo gedient und hat nie für einen schönen Mann gegolten. Mardarij Apollonytsch ist ein kleiner, kahlköpfiger, voller Greis mit Doppelkinn, weichen Händen und einem ordentlichen Bäuchlein. Er ist sehr gastfrei und ein großer Spaßmacher. Er lebt ganz seinem Vergnügen und trägt Winter und Sommer den gleichen gestreiften, wattierten Schlafrock. Nur in einer Beziehung stimmt er mit dem General Chwalynskij überein: Auch er ist Junggeselle. An Leibeigenen besitzt er fünfhundert Seelen. Mardarij Apollonytsch bewirtschaftet sein Gut in einer recht oberflächlichen Weise; um nicht hinter seiner Zeit zurückzubleiben, hat er vor zehn Jahren bei Botenop zu Moskau eine Dreschmaschine gekauft, sie aber dann gleich in einen Schuppen gesperrt und sich damit beruhigt. Höchstens an einem besonders schönen Sommertag läßt er seinen Jagdwagen einspannen und fährt ins Feld, um sich das Getreide anzusehen und Kornblumen zu pflücken. Mardarij Appllonytsch lebt ganz nach alter Sitte. Auch sein Haus ist von altertümlicher Einrichtung; im Vorzimmer riecht es wie üblich nach Kwaß, Talglichtern und Leder; gleich rechts steht dort ein Büfett mit Pfeifen und Handtüchern; im Eßzimmer gibt es Familienbildnisse, Fliegen, einen großen Geranientopf und ein verstimmtes Spinett; im Gastzimmer – drei Sofas, drei Tische, zwei Spiegel und eine heisere Uhr mit schwarzgewordener Emaille und durchbrochenen Bronzezeigern; im Kabinett – einen Tisch mit Papieren, eine spanische Wand von bläulicher Farbe mit aufgeklebten verschiedenen Werken des vorigen Jahrhunderts, ausgeschnittene Bildchen, Schränke mit übelriechenden Büchern, Spinnen und schwarzem Staub, einen dickgepolsterten Sessel, ein venezianisches Fenster und eine vernagelte Tür in den Garten . . . Mit einem Wort, alles, wie es sich gehört. Mardarij Apollonytsch hat eine Menge Dienstboten, und sie sind alle altmodisch gekleidet; sie tragen lange blaue Kaftans mit hohen Kragen, Beinkleider von unbestimmter Farbe und kurze gelbliche Westen. Zu den Gästen sagen sie ›Väterchen‹. Das Gut wird von einem Burmistr aus dem Bauernstand, einem Mann, dessen Vollbart seinen ganzen Schafspelz bedeckt, verwaltet, das Haus von einer runzligen und geizigen Alten mit einem braunen Kopftuch. In seinem Stall hat Mardarij Apollonytsch dreißig Pferde von verschiedenen Farben und Größen stehen; bei seinen Ausfahrten bedient er sich eines im Hause gebauten Wagens von hundertfünfzig Pud Gewicht. Seine Gäste empfängt er sehr herzlich und bewirtet sie wunderbar, d. h., er nimmt ihnen, dank der verdummenden Wirkung der russischen Küche, bis zum Abend jede Fähigkeit, sich mit etwas außer Préférence-Spiel zu beschäftigen. Er selbst beschäftigt sich aber niemals und mit nichts, er hat sogar aufgehört, das Traumbuch zu lesen. Solche Gutsbesitzer gibt es aber bei uns in Rußland noch ziemlich viele; nun fragt es sich: Warum und wozu habe ich die Rede auf ihn gebracht . . .? Erlauben Sie mir, statt darauf zu antworten, einen meiner Besuche bei Mardarij Apollonytsch zu beschreiben.

Ich kam zu ihm im Sommer gegen sieben Uhr abends. Bei ihm im Hause war eben die Abendmesse gelesen worden, und der Geistliche, ein noch junger Mann von schüchternem Aussehen, der wohl erst vor kurzem das Priesterseminar verlassen hatte, saß im Gastzimmer neben der Tür am äußersten Rande des Stuhles. Mardarij Apollonytsch empfing mich, seiner Gewohnheit gemäß, außerordentlich freundlich: Er freute sich aufrichtig über den Gast und war auch sonst ein herzensguter Mensch. Der Geistliche erhob sich und griff nach seinem Hut.

»Wart, wart, Väterchen«, sagte Mardarij Apollonytsch, ohne meine Hand loszulassen, »geh noch nicht . . . Ich habe befohlen, dir einen Schnaps zu bringen.«

»Ich trinke nicht«, murmelte der Geistliche verlegen und errötete bis über die Ohren.

»Was für Unsinn!« antwortete Mardarij Apollonytsch. »Mischka, Juschka! Einen Schnaps für Hochwürden!«

Juschka, ein langer, hagerer Greis von etwa achtzig Jahren, kam mit einem Gläschen Schnaps auf einem dunkelgestrichenen, mit fleischfarbenen Flecken besprenkelten Tablett herein.

Der Geistliche versuchte, sich zu weigern.

»Trink, Väterchen, mach keine Geschichten, das ist nicht schön«, versetzte der Gutsbesitzer vorwurfsvoll.

Der arme junge Mann gehorchte.

»Jetzt, Väterchen, darfst du gehen.«

Der Geistliche fing an, sich zu verbeugen.

»Nun, gut, gut, geh . . . Ein prachtvoller Mensch«, fuhr Mardarij Apollonytsch fort, ihm nachblickend. »Ich bin mit ihm sehr zufrieden, das eine nur, er ist noch jung. Aber wie geht es Ihnen, Väterchen . . .? Was treiben Sie, wie leben Sie? Kommen Sie auf den Balkon, der Abend ist so schön.«

Wir traten auf den Balkon, setzten uns und kamen ins Gespräch. Mardarij Apollonytsch sah hinunter und geriet plötzlich in schreckliche Aufregung.

»Wessen Hühner sind das? Wessen Hühner sind das?« schrie er. »Wessen Hühner spazieren im Garten . . .? Juschka! Juschka . . .! Geh, erfahre, wessen Hühner im Garten spazieren . . .! Wessen Hühner sind das? Wie oft habe ich verboten, wie oft habe ich gesagt . . .«

Juschka lief hin.

»Was ist das für eine Unordnung!« wiederholte Mardarij Apollonytsch. »Das ist ja entsetzlich!«

Die unglücklichen Hühner – ich erinnere mich noch, es waren zwei gesprenkelte und ein weißes mit einem Schopf – fuhren ruhig fort, unter den Apfelbäumen zu spazieren und ihre Gefühle durch anhaltendes Gackern zu äußern, als plötzlich Juschka, ohne Mütze mit einem Stock in der Hand, und drei andere volljährige Leibeigene einmütig auf sie losstürzten. Der Spaß ging los. Die Hühner schrien, schlugen mit den Flügeln, sprangen und gackerten ohrenbetäubend; die Leibeigenen rannten, stolperten und fielen; der Herr schrie wie besessen vom Balkon herab: »Fang, fang! Fang, fang! Fang, fang, fang . . .! Wessen Hühner sind das, wessen Hühner sind das?« Endlich gelang es einem Leibeigenen, das Huhn zu fangen, indem er es mit der Brust an den Boden drückte; im gleichen Augenblick sprang ein etwa elfjähriges, ganz zerzaustes Mädel mit einer Rute in der Hand von der Straße her über den Gartenzaun.

»Aha, jetzt weiß ich, wessen Hühner es sind!« rief triumphierend der Gutsbesitzer. »Dem Kutscher Jermil gehören sie! Da hat er seine Natalka geschickt, um sie heimzutreiben . . . Die Parascha hat er sich nicht zu schicken getraut«, fügte der Gutsbesitzer halblaut und mit einem bedeutungsvollen Schmunzeln hinzu. »He, Juschka! Laß die Hühner, und fang mir die Natalka!«

Bevor aber der atemlose Juschka das erschrockene Mädel erreicht hatte, erschien wie aus dem Boden gewachsen die Haushälterin; sie packte sie bei der Hand und schlug sie einige Male auf den Rücken . . .

»Ja, so, ja, so«, rief der Gutsbesitzer. »Ta, ta, ta, ta . . .! Die Hühner nimm aber weg, Awdotja«, fügte er laut hinzu. Dann wandte er sich mit heiterem Gesicht an mich: »Nun, Väterchen, das war doch eine schöne Hetzjagd, was? Ich bin sogar ins Schwitzen gekommen, sehen Sie nur!«

Und Mardarij Apollonytsch fing zu lachen an.

Wir blieben auf dem Balkon. Der Abend war in der Tat ungewöhnlich schön.

Man brachte uns Tee.

»Sagen Sie mal, Mardarij Apollonytsch«, begann ich, »sind das Ihre Bauernhäuser, die dort an der Straße hinter der Schlucht vorgeschoben stehen?«

»Ja, das sind meine. Warum?«

»Wie können Sie so etwas tun, Mardarij Apollonytsch? Es ist doch Sünde. Die Bauern haben elende, enge Hütten, kein Bäumchen ist in der Nähe; nicht mal ein Teich ist dabei; sie haben nur einen Brunnen, und auch der taugt nichts. Haben Sie denn keinen anderen Platz finden können . . .? Man sagt auch, Sie hätten ihnen die alten Hanffelder weggenommen . . .«

»Was soll man mit diesen Grenzberichtigungen anfangen?« antwortete mir Mardarij Apollonytsch. »Diese Grenzberichtigungen sitzen mir hier.« Er zeigte auf seinen Nacken. »Ich sehe auch gar keinen Nutzen von diesen Grenzberichtigungen. Daß ich ihnen aber ihre Hanffelder genommen und keinen Teich gegraben habe, das, Väterchen, ist meine Sache. Ich bin ein einfacher Mensch und handele nach alter Sitte. Ich sage: Der Herr ist der Herr, und der Bauer ist halt der Bauer . . . So ist es.«

Auf solche klare und überzeugende Gründe konnte ich natürlich nichts erwidern.

»Außerdem«, fuhr er fort, »sind diese Bauern schlecht und in Ungnade. Da sind besonders zwei Familien; schon mein seliger Vater, Gott schenke ihm das Himmelreich, mochte sie nicht, mochte sie gar nicht. Ich aber habe folgendes Merkmal: Wenn der Vater ein Dieb ist, so ist auch der Sohn ein Dieb; Sie können sagen, was Sie wollen . . . Ja, Blut ist eine große Sache!«

Indessen war die Luft ganz still geworden. Nur ab und zu kam stoßweise ein Windhauch gezogen, und als er zum letztenmal neben dem Haus erstarb, trug er an unser Ohr den Widerhall gleichmäßiger und schnell aufeinanderfolgender Schläge vom Pferdestall her. Mardarij Apollonytsch hatte eben die volle Untertasse an die Lippen geführt und schon die Nasenflügel erweitert, ohne das bekanntlich kein echter Russe Tee zu trinken pflegt – hielt aber inne, lauschte, nickte mit dem Kopf, nahm einen Schluck, stellte die Untertasse auf den Tisch und sagte mit dem gutmütigsten Lächeln, im Takt mit den Schlägen: »Tschiki, tschiki! Tschiki, tschiki!«

»Was ist denn das?« fragte ich erstaunt.

»Dort wird auf meinen Befehl ein ausgelassener Junge bestraft . . . Kennen Sie den Büfettbeschließer Waßja?«

»Was für einen Waßja?«

»Der uns heute beim Mittagessen bedient hat. Es ist der mit dem langen Backenbart.«

Die grimmigste Entrüstung hätte dem heiteren, sanften Blicke Mardarij Apollonytschs nicht standhalten können.

»Was haben Sie, was haben Sie, junger Mann?« begann er kopfschüttelnd. »Bin ich ein Unmensch, daß Sie mich so anstarren? Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie; das wissen Sie doch selbst.«

Nach einer Viertelstunde verabschiedete ich mich von Mardarij Apollonytsch. Als ich durchs Dorf fuhr, erblickte ich den Büfettbeschließer Waßja. Er ging die Straße entlang und knackte Nüsse. Ich ließ den Kutscher halten und rief ihn heran.

»Nun, Bruder, man hat dich heute bestraft?« fragte ich ihn.

»Woher wissen Sie denn das?« erwiderte Waßja.

»Dein Herr hat es mir erzählt.«

»Der Herr selbst?«

»Wofür hat er dich bestrafen lassen?«

»Ich habe es verdient, Väterchen, ich habe es verdient. Ohne Grund wird man bei uns nicht bestraft, eine solche Einrichtung gibt es bei uns nicht, keine Spur. Unser Herr ist nicht so; unser Herr . . . einen solchen findet man im ganzen Gouvernement nicht wieder.«

»Fahr zu!« sagte ich dem Kutscher. – Das ist also das alte Rußland! dachte ich auf der Rückfahrt.


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