Iwan Turgenjew
Aufzeichnungen eines Jägers
Iwan Turgenjew

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Tod

Einer meiner Nachbarn ist junger Landwirt und junger Jäger. An einem schönen Julimorgen ritt ich zu ihm, um ihm vorzuschlagen, mit mir auf die Birkhuhnjagd zu gehen. Er willigte ein. »Aber wollen wir vorher«, sagte er, »durch meinen jungen Wald zur Suscha reiten; ich will mir bei dieser Gelegenheit Tschaplygino ansehen; kennen Sie meinen Eichenwald? Er wird gerade abgeholzt.« – »Gut, reiten wir hin.« Er ließ sein Pferd satteln, zog ein grünes Röckchen mit Bronzeknöpfen, auf denen Eberköpfe dargestellt waren, an, hing eine gestickte Jagdtasche und eine silberne Feldflasche um, warf sich eine nagelneue französische Flinte über die Schulter, drehte sich nicht ohne Selbstgefälligkeit vor dem Spiegel und rief seinen Jagdhund Esperence, das Geschenk einer Kusine, einer alten Jungfer, die ein gutes Herz, aber keine Haare hatte. Wir machten uns auf den Weg. Mein Nachbar nahm seinen Zehentmann Archip mit, einen dicken, untersetzten Bauern mit viereckigem Gesicht und vorsintflutlich entwickelten Backenknochen, und den Gutsverwalter, den er vor kurzem aus den Ostseeprovinzen verschrieben hatte, einen etwa neunzehnjährigen, hageren, blonden, kurzsichtigen Jüngling mit abfallenden Schultern und langem Hals, Herrn Gottlieb von der Kock. Mein Nachbar war erst vor kurzem Besitzer des Gutes geworden. Es war ihm als Erbschaft von seiner Tante, der Staatsrätin Kardon-Katajewa, zugefallen, einer ungewöhnlich dicken Frau, die selbst im Bett liegend dauernd und jämmerlich ächzte. Wir kamen in den jungen Wald.

»Warten Sie hier auf dieser Waldwiese«, sagte Ardalion Michailytsch (so hieß mein Nachbar), sich an seine Begleiter wendend. Der Deutsche verbeugte sich, stieg vom Pferd, zog ein Buch aus der Tasche, ich glaube einen Roman der Johanna Schopenhauer, und setzte sich unter einen Strauch; Archip blieb in der Sonne und stand während einer ganzen Stunde regungslos. Wir strichen durch das Gebüsch und stießen auf keine einzige Brut. Ardalion Michailytsch, erklärte, daß er die Absicht habe, sich in den Wald zu begeben. Auch ich selbst glaubte an jenem Tag nicht recht an das Jagdglück und schlenderte ihm nach. Wir kehrten zur Lichtung zurück. Der Deutsche merkte sich die Seite in seinem Buch, stand auf, steckte es in die Tasche und bestieg nicht ohne Mühe seine ausrangierte Stute mit dem kurzen Schweif, die bei der geringsten Berührung wieherte und ausschlug; Archip fuhr zusammen, zupfte an beiden Zügeln zugleich, schlenkerte mit den Beinen und brachte endlich seinen bestürzten und niedergedrückten Klepper von der Stelle. Wir ritten weiter.

Der Wald Ardalion Michailytschs war mir seit meiner Kindheit bekannt Mit meinem französischen Hofmeister, M. Désiré Fleury, einem herzensguten Menschen (der übrigens meine Gesundheit beinahe für immer ruiniert hatte, indem er mir jeden Abend die Leroysche Medizin eingab), pflegte ich oft nach Tschaplygino zu kommen. Dieser ganze Wald bestand aus nur zwei- oder dreihundert mächtigen Eichen und Eschen. Ihre gewaltigen Stämme zeichneten sich wunderbar schwarz von dem goldig-durchsichtigen Grün der Haselbüsche und Ebereschen ab; sie stiegen in die Höhe, hoben sich schlank vom heiteren Blau ab und breiteten erst dort oben ihre knorrigen Äste zu einem Zelt aus; Habichte, Falken, Bussarde schwebten pfeifend über den unbeweglichen Baumwipfeln, bunte Spechte hämmerten laut auf ihre dicke Rinde; das helle Lied der Amsel erklang plötzlich im dichten Laub gleich nach dem trillernden Gesang des Pirol; unten im Gebüsch zwitscherten und sangen Grasmücken, Zeisige und Laubvögelchen; Finken liefen schnell über die Wege; der Hase schlich am Rande der Lichtung; das rotbraune Eichhörnchen sprang flink von Baum zu Baum und setzte sich plötzlich, den Schweif über den Kopf hebend. Im Grase, neben dem hohen Ameisenhaufen, unter dem leichten Schatten der schöngezackten Farnkrautblätter, blühten Veilchen und Maiglöckchen, wuchsen Täublinge, Hirschlinge, Pfefferschwämme, Eichpilze und rote Fliegenschwämme; in den Lichtungen zwischen den breiten Büschen leuchteten rote Erdbeeren . . . Und was für ein Schatten herrschte in diesem Wald! In der stärksten Mittagsglut war hier vollkommene Nacht: Stille, Duft, Frische . . . Lustig hatte ich damals die Zeit in Tschaplygino verbracht, und darum ritt ich jetzt, offen gestanden, nicht ohne ein trauriges Gefühl in diesen mir allzugut bekannten Wald hinein. Der verheerende, schneelose Winter des Jahres 1840Im Jahre 1840 fiel beim strengsten Frost bis Ende Dezember kein Schnee; die ganze Wintersaat erfror, und der grausame Winter vernichtete viele herrliche Eichenwälder. Sie sind schwer zu ersetzen; die Zeugungskraft der Erde nimmt sichtlich ab; auf dem »eingeschonten« (mit Heiligenbildern umgangenen) öden Plätzen wachsen statt der früheren edlen Bäume ganz von selbst Birken und Espen; man versteht bei uns nicht, die Wälder anders aufzuforsten. (Anmerkung Turgenjews) hatte meine alten Freunde, die Eichen und Eschen, nicht verschont; verdorrt, entblößt, nur hier und da mit schwindsüchtigem Grün bedeckt, erhoben sie sich traurig über das junge Gehölz, das ›an ihre Stelle trat, ohne sie zu ersetzen‹. Einige Bäume, die unten noch mit Blättern bewachsen waren, hoben wie vorwurfsvoll und verzweifelt ihre leblosen, zerbrochenen Äste in die Höhe; bei den anderen ragten aus dem noch ziemlich dichten, aber nicht mehr üppig wuchernden Laub dicke, trockene tote Zweige hervor; einige verloren ihre Rinde; andere schließlich waren ganz umgefallen und faulten wie Leichen auf der Straße. Wer hätte das voraussehen können: In Tschaplygino konnte man nirgends Schatten finden! Was, dachte ich mir, auf die sterbenden Bäume sehend, es muß euch wohl schwer und bitter zumute sein . . .! Ich mußte an Kolzow denken:

Sprich, o Wald, wo blieb
dein gewaltig Wort?
Wo die stolze Kraft?
Wo der Königsmut?
Sprich, wo blieb der Schmuck
deines grünen Laubs . . .?

»Sagen Sie mir, Ardalion Michailytsch«, fing ich an, »warum hat man diese Bäume nicht gleich im nächsten Jahr gefällt? Jetzt gibt man doch für sie auch nicht den zehnten Teil des Preises, den man früher bezahlt hätte.«

Er zuckte nur die Achseln.

»Darüber müßten Sie mein Tantchen fragen. Es waren wohl Kaufleute gekommen, die Geld boten und ihr keine Ruhe ließen.«

»Mein Gott! Mein Gott!« rief Herr von der Kock auf Schritt und Tritt. »Diese Schande! Diese Schande!«

»Was für eine Schande?« fragte mein Nachbar mit einem Lächeln.

»Das heißt, ich wollte sagen, daß es schade ist«, sagte der Deutsche in seinem gebrochenen Russisch.

Besonders erregten sein Mitleid die auf der Erde liegenden Eichen; und in der Tat, mancher Müller hätte für sie viel bezahlt. Der Zehentmann Archip bewahrte dagegen eine unerschütterliche Ruhe und jammerte in keiner Weise; im Gegenteil, er sprang sogar nicht ohne Vergnügen über die Stämme hinweg und schlug mit seiner Peitsche auf sie ein.

Wir näherten uns der Stelle, wo das Holz gefällt wurde, als plötzlich, gleich nach dem Krachen eines gestürzten Baumes, ein Schreien und Stimmengewirr erklang, und einige Augenblicke später stürzte uns aus dem Dickicht ein Bauer, blaß und zerzaust, entgegen.

»Was ist los? Wohin läufst du?« fragte ihn Ardalion Michailytsch.

Jener blieb sofort stehen.

»Ach, Väterchen Ardalion Michailytsch, es ist ein Unglück geschehen!«

»Was ist los?«

»Ein Baum hat den Maxim erschlagen, Väterchen.«

»Wieso . . .? Den Arbeitsunternehmer Maxim?«

»Ja, den Arbeitsunternehmer, Väterchen. Wir fällten eine Esche, er stand aber dabei und sah zu . . . Er stand da und ging plötzlich zum Brunnen, er wollte wohl Wasser trinken. Plötzlich kracht die Esche und stürzt gerade auf ihn nieder. Wir schreien ihm zu: ›Lauf, lauf, lauf . . .!‹ Er hätte auf die Seite laufen müssen, aber er lief geradeaus . . . vor Schreck wußte er wohl nicht, was er tat. Die Esche traf ihn mit den obersten Ästen. Warum sie so schnell gestürzt ist, weiß Gott allein . . . Wahrscheinlich war sie innen verfault.«

»Nun, hat sie Maxim erschlagen?«

»Ja, erschlagen, Väterchen.«

»Ist er tot?«

»Nein, Väterchen, er lebt noch, aber wie: Arme und Beine sind ihm zerschlagen. Ich laufe zu Seliwerstytsch, dem Feldscher.«

Ardalion Michailytsch befahl dem Zehentmann, im Galopp in das Dorf zu Seliwerstytsch zu reiten und ritt selbst im scharfen Trab zum Holzschlag . . . Ich folgte ihm.

Wir fanden den armen Maxim auf der Erde liegen. An die zehn Bauern standen um ihn herum. Wir saßen ab. Er stöhnte kaum, öffnete nur ab und zu die Augen, blickte wie erstaunt um sich und biß sich auf die blauangelaufenen Lippen . . . Sein Kinn zitterte, die Haare klebten an der Stirn, die Brust hob sich ungleichmäßig; er starb. Der leichte Schatten einer jungen Linde glitt leise über sein Gesicht.

Wir beugten uns über ihn. Er erkannte Ardalion Michailytsch.

»Väterchen«, begann er kaum hörbar, »nach dem Popen . . . lassen Sie schicken . . . Der Herr . . . hat mich gestraft . . . Arme und Beine und alles . . . ist zerschlagen . . . heute ist . . . Sonntag . . . aber ich . . . aber ich . . . habe . . . die Burschen nicht freigelassen.«

Er verstummte. Der Atem stockte ihm.

»Das Geld . . . geben Sie . . . meiner Frau . . . meiner Frau . . . mit Abzug . . . Onissim weiß es . . . wem ich . . . schulde.«

»Wir haben nach dem Feldscher geschickt, Maxim«, sprach mein Nachbar. »Vielleicht wirst du gar nicht sterben.«

Er versuchte die Augen zu öffnen und hob mit Mühe die Brauen und Lider.

»Nein, ich werde sterben. Da . . . da kommt er, da ist er, da . . . Verzeiht mir, Kinder, wenn ich etwas . . .«

»Gott wird dir verzeihen, Maxim Andrejitsch«, sagten alle Bauern zugleich mit dumpfer Stimme und nahmen ihre Mützen ab, »verzeihe du uns.«

Er schüttelte plötzlich verzweifelt den Kopf, reckte schmerzvoll die Brust und sank wieder zurück.

»Er darf aber doch nicht hier sterben«, rief Ardalion Michailytsch. »Kinder, nehmt die Bastmatte aus dem Wagen, wir wollen ihn ins Krankenhaus tragen.«

Zwei Mann stürzten zum Wagen hin.

»Ich habe von Jefim . . . aus Sytschowo . . .«, lallte der Sterbende, »gestern ein Pferd gekauft . . . Handgeld gegeben . . . das Pferd ist also mein . . . gebt es auch . . . meiner Frau . . .«

Man begann ihn auf die Bastmatte zu legen . . . Er zuckte am ganzen Körper wie ein angeschossener Vogel und streckte sich aus . . .

»Er ist tot . . .«, murmelten die Bauern.

Wir stiegen schweigend auf die Pferde und ritten davon.

Der Tod des armen Maxim stimmte mich nachdenklich. Merkwürdig stirbt der russische Bauer! Seinen Zustand vor dem Ende darf man weder Gleichgültigkeit noch Stumpfsinn nennen; er stirbt, als vollzöge er eine Zeremonie: kühl und einfach.

Vor einigen Jahren verbrannte bei einem anderen Nachbarn von mir ein Bauer in der Getreidedarre. (Er wäre in der Getreidedarre geblieben, wenn nicht ein vorbeifahrender Kleinbürger ihn herausgezogen hätte: Er hatte sich in einen Bottich mit Wasser getaucht und dann mit einem Satz die Tür unter dem brennenden Dachvorsprung eingeschlagen.) Ich komme zu ihm in die Stube. Es ist drinnen dunkel, schwül und rauchig. Ich frage, wo der Kranke sei. – »Da liegt er, Väterchen, auf der Ofenbank«, antwortet mir in singendem Ton das traurige Weib. Ich komme näher, der Bauer liegt unter einem Schafspelz und atmet schwer. »Nun, wie fühlst du dich?« Der Kranke rührt sich auf dem Ofen, will sich aufrichten, ist aber dabei voller Wunden und dem Tode nahe. »Bleib nur liegen, bleib nur liegen . . . Nun? Wie geht es?«

»Versteht sich, schlecht«, antwortet er.

»Hast du Schmerzen?«

Er schweigt.

»Brauchst du etwas?«

Er schweigt.

»Soll ich dir vielleicht Tee schicken?«

»Nein, nicht nötig.«

Ich trat beiseite und setzte mich auf die Bank. Ich sitze eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, in der Stube herrscht eine Grabesstille. In der Ecke am Tisch unter den Heiligenbildern verbirgt sich ein Mädchen von etwa fünf Jahren und kaut an einem Stück Brot. Die Mutter droht ihr von Zeit zu Zeit mit dem Finger. Im Flur geht jemand auf und ab, spricht und klopft – die Frau des Bruders hackt Kraut.

»Aksinja!« sagte schließlich der Kranke . . .

»Was?«

»Gib mir Kwaß.«

Aksinja gab ihm Kwaß.

Wieder schwiegen alle. Ich fragte flüsternd, ob er die Sterbesakramente empfangen habe.

»Er hat sie empfangen.«

Nun, so ist alles in Ordnung, er wartet auf den Tod und sonst nichts. Ich konnte es nicht länger aushalten und ging darum hinaus . . .

Ein anderes Mal kam ich ins Krankenhaus des Dorfes Krasnogorje zu dem mir bekannten Feldscher Kapiton, der ein leidenschaftlicher Jäger war.

Das Krankenhaus befand sich im ehemaligen Seitenflügel des Herrenhauses; die Gutsbesitzerin selbst hatte es errichtet, d. h., sie ließ über der Tür ein blaues Brett anschlagen mit der weißen Inschrift: ›Krankenhaus von Krasnogorje‹ und händigte Kapiton ein hübsches Album aus, in das er die Namen der Kranken eintragen sollte. Auf dem ersten Blatt des Albums hatte einer der Tellerlecker und Schmeichler der tugendhaften Gutsbesitzerin folgenden Vers hingeschrieben:

›Dans ces beaux lieux, où règne l'alégresse,
ce temple fut ouvert par la Beauté;
de vos seigneurs admirez la tendresse,
bons habitants de Krasnogorié!‹

Ein anderer Herr hatte darunter geschrieben:

›Et moi aussi j'aime la nature!

Jean Kobyliatnikoff.‹

Der Feldscher kaufte für sein eigenes Geld sechs Betten, erflehte sich Gottes Segen und begann das Volk frisch drauflos zu kurieren. Außer ihm wirkten am Krankenhaus noch zwei Personen: der geisteskranke Stempelschneider Pawel und eine Frau namens Melikitrissa, die einen verdorrten Arm hatte und das Amt einer Köchin versah. Die beiden bereiteten die Arzneien, trockneten Kräuter, bereiteten aus ihnen Extrakt und bändigten die tobsüchtigen Patienten. Der verrückte Stempelschneider war düster von Aussehen und wortkarg; nachts sang er das Lied ›von der schönen Venus‹ und wandte sich an jeden Durchreisenden mit der Bitte, ihm die Heirat mit einer gewissen Malanja, die schon längst tot war, zu erlauben. Das Weib mit dem verdorrten Arm prügelte ihn und ließ ihn die Truthühner hüten. Eines Tages sitze ich beim Feldscher Kapiton. Wir sprachen gerade von unserer letzten Jagd, als in den Hof plötzlich ein Wagen hineinfuhr, mit einem ungewöhnlich dicken grauen Pferd bespannt, wie sie nur die Müller zu haben pflegen. Im Wagen saß ein Bauer in einem neuen Kittel und mit einem in verschiedenen Farben schillernden Bart. – »Ah, Wassilij Dmitritsch«, rief ihm Kapiton durchs Fenster zu, »seien Sie mir willkommen . . . Es ist der Müller aus Lybowschino«, flüsterte er mir zu.

Der Bauer stieg ächzend aus dem Wagen, trat in das Zimmer des Feldschers, suchte mit den Augen das Heiligenbild und bekreuzigte sich.

»Nun, Wassilij Dmitritsch, was gibt es Neues . . .? Sie sind sicher nicht wohl: Sie sehen nicht gut aus.«

»Ja, Kapiton Timofejitsch, es ist mir nicht ganz wohl.«

»Was haben Sie?«

»Sehen Sie, Kapiton Timofejitsch: Neulich kaufte ich in der Stadt Mühlsteine; ich fuhr sie nach Hause, und als ich sie aus dem Wagen ablud, habe ich mich überanstrengt, in meinem Bauch knackte es, als wäre etwas gerissen . . . und von der Zeit an kränkele ich immer. Heute geht es mir sogar sehr schlecht.«

»Hm«, versetzte Kapiton und nahm eine Prise. »Es wird wohl ein Bruch sein. Wann ist das Ihnen zugestoßen?«

»Heute ist der zehnte Tag.«

»Schon der zehnte?« Der Feldscher zog durch die Zähne Luft ein und schüttelte den Kopf. »Laß dich mal betasten. – Nun, Wassilij Dmitritsch«, sagte er schließlich, »du tust mir leid, Liebster, deine Sache steht schlecht, du bist ernstlich krank; bleib mal hier bei mir; ich werde mein möglichstes tun, aber ich bürge für nichts.«

»Ist es wirklich so schlimm?« murmelte der Müller erstaunt.

»Ja, Wassilij Dmitritsch, es steht schlimm; wären Sie zu mir zwei Tage früher gekommen, so hätte ich Sie vollständig kuriert; jetzt haben Sie aber eine Entzündung, und es kann leicht zu einem Brand kommen.«

»Es kann nicht sein, Kapiton Timofejitsch.«

»Aber wenn ich es Ihnen sage . . .!«

»Wie ist es nun?«

Der Feldscher zuckte die Achseln.

»Und soll ich wegen einer solchen Dummheit sterben?«

»Das sage ich nicht . . . aber bleiben Sie hier.«

Der Mann überlegte, blickte auf den Boden, dann auf uns, kratzte sich den Nacken und griff nach der Mütze.

»Wo wollen Sie denn hin, Wassilij Dmitritsch?«

»Wo ich hin will? Natürlich nach Hause, wenn es so schlimm steht. Ich muß meine Anordnungen treffen, wenn es so ist.«

»Sie richten Unheil an, Wassilij Dmitritsch, ich bitte Sie! Ich wundere mich schon so, wie Sie hergekommen sind. Bleiben Sie doch.«

»Nein, Bruder Kapiton Timofejitsch, wenn ich schon sterben soll, so will ich zu Hause sterben; wenn ich hier sterbe, so kann bei mir zu Hause Gott weiß was alles passieren.«

»Es ist noch unbekannt, Wassilij Dmitritsch, was aus der Sache wird . . . Natürlich ist es gefährlich, sehr gefährlich, ich leugne es nicht . . . aber gerade darum müssen Sie hierbleiben.«

Der Bauer schüttelte den Kopf. »Nein, Kapiton Timofejitsch, ich bleibe nicht . . . nein, verschreiben Sie mir vielleicht eine Arznei.«

»Die Arznei allein kann nicht helfen.«

»Ich bleibe nicht, habe ich gesagt.«

»Nun, wie du willst . . . aber daß du mir hinterher keine Vorwürfe machst!«

Der Feldscher riß aus dem Album ein Blatt heraus, schrieb ein Rezept und sagte ihm, was er sonst zu tun habe. Der Bauer nahm das Papier, gab Kapiton einen halben Rubel, ging hinaus und setzte sich in seinen Wagen.

»Leben Sie wohl, Kapiton Timofejitsch, nichts für ungut, vergessen Sie meine Waisen nicht, wenn was passiert . . .«

»Ach, bleib doch hier, Wassilij!«

Der Bauer schüttelte nur den Kopf, schlug das Pferd mit dem Zügel und fuhr fort. Ich trat auf die Straße und sah ihm nach. Der Weg war schmutzig und holprig; der Müller fuhr vorsichtig, ohne Übereilung, lenkte sein Pferd geschickt und grüßte die Vorbeigehenden . . . Auf den vierten Tag war er tot.

Überhaupt, merkwürdig sterben die Russen. Viele Verstorbene kommen mir in den Sinn. Ich erinnere mich deiner, du mein alter Freund, nicht ausstudierter Student, Awenir Sorokoumow, du prächtiger, edelster Mensch! Ich sehe wieder dein schwindsüchtiges, grünliches Gesicht vor mir, dein dünnes blondes Haar, dein sanftes Lächeln, deinen begeisterten Blick, deine langen Glieder; ich höre deine schwache, freundliche Stimme. Du lebtest beim großrussischen Gutsbesitzer Gur Krupjannikow, unterrichtetest seine Kinder Fofa und Sjosja in Russisch, Geographie und Geschichte, ertrugst mit Geduld die derben Späße Gurs, die groben Liebenswürdigkeiten des Haushofmeisters, die dummen Streiche der bösen Jungen, und erfülltest nicht ohne ein bitteres Lächeln, aber auch ohne zu murren die Launen der sich langweilenden Gnädigen; wie ruhtest du dafür aus, wie selig warst du, wenn du abends nach dem Essen, nach Erledigung aller Verpflichtungen, dich an das Fenster setztest, nachdenklich die Pfeife anstecktest oder mit Gier die zerfetzte und schmierige Nummer der dickleibigen Zeitschrift durchblättertest, die der Feldmesser, ein ebenso heimatloser Unglücksrabe wie du, aus der Stadt mitgebracht hatte! Wie gefielen dir damals allerlei Verse und allerlei Erzählungen, wie leicht kamen dir die Tränen in die Augen, mit welchem Vergnügen lachtest du, von welcher aufrichtigen Liebe zu den Menschen, von welch edler Sympathie für alles Gute und Schöne wurde da deine kindlich reine Seele erfüllt! Man muß die Wahrheit sagen: Du zeichnetest dich nicht durch allzu großen Geist aus; die Natur hatte dich weder mit Gedächtnis noch mit Fleiß begabt; auf der Universität galtest du als einer der schlechtesten Studenten; in den Vorlesungen schliefst du, beim Examen bewahrtest du ein feierliches Schweigen; aber wer war es, dessen Augen vor Freude leuchteten und dem der Atem stockte, wenn ein Freund Erfolg hatte? – Das warst du, Awenir . . . Wer glaubte blind an den hohen Beruf seiner Freunde, wer rühmte sie mit Stolz, wer trat mit Eifer für sie ein? Wer kannte weder Neid noch Eigenliebe, wer brachte sich selbst uneigennützig zum Opfer, wer ließ sich gern von Leuten beherrschen, die seine Stiefelsohle nicht wert waren . . .? Das warst immer du, unser guter Awenir! Ich erinnere mich noch, wie du mit zerknirschtem Herzen dich von deinen Freunden verabschiedetest, als du deine ›Kondition‹ antratest; schlimme Ahnungen quälten dich . . . Und in der Tat, du hattest es schlimm auf dem Lande; da gab es niemand, dem du andachtsvoll zuhören, den du bewundern oder lieben könntest . . . Wie die in der Steppe verwilderten, so auch die gebildeten Gutsbesitzer behandelten dich nur wie einen Hauslehrer: die einen grob, die anderen nachlässig. Zudem warst du auch äußerlich wenig einnehmend; du warst schüchtern, du errötetest, schwitztest, stottertest . . . Die Landluft besserte nicht einmal deine Gesundheit, du schmolzest wie eine Kerze, du Ärmster! Es ist wahr, dein Zimmerchen lag nach dem Garten; die Faulbäume, Apfelbäume und Linden schütteten ihre leichten Blüten dir auf den Tisch, auf das Tintenfaß, auf die Bücher; an der Wand hing ein kleines, blauseidenes Kissen für die Uhr, das dir in der Abschiedsstunde eine gutmütige, empfindsame deutsche Gouvernante mit blonden Locken und blauen Augen geschenkt hatte; ab und zu besuchte dich ein alter Freund aus Moskau und entzückte dich durch fremde oder sogar eigene Verse; aber die Einsamkeit, aber die unerträgliche Sklaverei des Lehrerberufs, die Unmöglichkeit, frei zu werden, aber die endlosen Herbst- und Wintermonate, aber die unaufhörliche Krankheit . . . Armer, armer Awenir!

Ich besuchte Sorokoumow kurz vor seinem Tode. Er konnte fast nicht mehr gehen. Der Gutsbesitzer Gur Krupjannikow trieb ihn nicht aus dem Hause, hörte aber auf, ihm sein Gehalt zu zahlen, und nahm für Sjosja einen anderen Lehrer . . . Den Fofa gab man ins Kadettenkorps. Awenir saß am Fenster, in einem alten Großvaterstuhl. Das Wetter war herrlich. Der heitere Herbsthimmel blaute lustig über der dunkelbraunen Reihe entblätterter Linden; hier und da schwankten und lispelten an ihnen die letzten leuchtend goldenen Blätter. Die während der Nacht gefrorene Erde schwitzte und taute in der Sonne auf; die schrägen rötlichen Strahlen glitten über das bleiche Gras; in der Luft glaubte man ein leises Knistern zu hören; deutlich und vernehmbar tönten im Garten die Stimmen der Arbeiter. Awenir hatte einen alten bucharischen Schlafrock an; das grüne Halstuch verlieh seinem schrecklich abgemagerten Gesicht die Farbe des Todes. Er freute sich sehr, mich zu sehen, streckte mir die Hand entgegen, begann zu sprechen und bekam einen Hustenanfall. Ich ließ ihn zur Ruhe kommen und setzte mich zu ihm . . . Awenir hatte auf den Knien ein Heft mit sauber abgeschriebenen Gedichten Kolzows liegen; er klopfte lächelnd mit der Hand darauf. »Das ist ein Dichter«, sagte er, mit Mühe einen neuen Hustenanfall zurückhaltend, und versuchte mit kaum hörbarer Stimme zu deklamieren:

»Sind die Flügel, Falk,
denn gebunden dir?
Sind die Wege all
dir verwehret hier?«

Ich bat ihn, aufzuhören; der Arzt hatte ihm das Sprechen verboten. Ich wußte, womit ich ihm eine Freude machen konnte. Sorokoumow hatte niemals, wie man so sagt, die Erfolge der Wissenschaft ›verfolgt‹, interessierte sich aber doch sehr dafür, was die großen Geister schon alles erreicht hatten. Zuweilen hielt er einen Freund irgendwo in einem Winkel fest und fing ihn an auszufragen; er hörte ihm zu, staunte, glaubte ihm alles aufs Wort und erzählte dann alles wörtlich wieder. Besonderes Interesse hatte er für die deutsche Philosophie. – Ich fing an, von Hegel zu sprechen (wie man sieht, ist es eine alte Geschichte). Awenir nickte bejahend mit dem Kopf, hob die Brauen, lächelte, flüsterte: »Ich verstehe, ich verstehe . . .! Ach, wie schön, wie schön . . .!« Die kindliche Neugier des sterbenden, heimatlosen und verlassenen armen Menschen rührte mich, offen gestanden, zu Tränen. Es ist zu bemerken, daß Awenir sich, im Gegensatz zu allen Schwindsüchtigen, über seine Krankheit durchaus nicht täuschte . . . und was glaubt ihr . . .? Er seufzte nicht, er klagte nicht, er spielte sogar kein einziges Mal auf seinen Zustand an . . .

Er nahm seine Kräfte zusammen und begann von Moskau zu sprechen, von seinen Kameraden, von Puschkin, vom Theater, von der russischen Literatur; er gedachte unserer kleinen Festgelage, der hitzigen Debatten unseres Kreises und nannte mit Bedauern die Namen einiger verstorbener Freunde . . .

»Erinnerst du dich noch an die Dascha?« fügte er zuletzt hinzu. »War das eine goldene Seele! War das ein Herz! Und wie sie mich liebte . . .! Was ist mit ihr jetzt . . .? Sie ist wohl vor Sehnsucht abgezehrt, die Arme?«

Ich wagte nicht, den Kranken zu enttäuschen – und in der Tat, was brauchte er zu wissen, daß seine Dascha jetzt so breit wie lang war, daß sie sich mit Kaufleuten, den Gebrüdern Konadakow, abgab, sich puderte und schminkte, keifte und zankte?

Wäre es denn nicht möglich, dachte ich mir beim Anblick seines ausgemergelten Gesichts, ihn von hier fortzubringen? Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit, ihn herzustellen . . . Aber Awenir ließ mich meinen Gedanken nicht zu Ende sprechen.

»Nein, Bruder, danke«, sagte er, »es ist ganz gleich, wo ich sterbe. Den Winter erlebe ich ja nicht mehr . . . Warum umsonst die Leute belästigen? Ich bin an dieses Haus gewöhnt. Die hiesige Herrschaft ist zwar . . .«

»Sind sie böse?« unterbrach ich ihn.

»Nein, nicht böse, aber wie Holzklötze sind die Leute. Übrigens darf ich mich über sie nicht beklagen. Es gibt auch Nachbarn hier: Der Gutsbesitzer Kaßtkin hat eine Tochter, ein gebildetes, freundliches, herzensgutes Mädchen . . . gar nicht stolz . . .«

Sorokoumow bekam wieder einen Hustenanfall.

»Das würde alles gar nichts machen«, führ er fort, als der Anfall vorüber war, »wenn man mir nur erlaubte, ein Pfeifchen zu rauchen!« fügte er mit einem listigen Blick hinzu. »Ich habe, Gott sei Dank, genug gelebt und mit guten Menschen verkehrt . . .«

»Du solltest doch deinen Verwandten schreiben«, unterbrach ich ihn.

»Was soll ich ihnen schreiben? Helfen werden sie mir nicht, und wenn ich sterbe, so werden sie es erfahren. Aber was soll man davon sprechen? Erzähle mir lieber, was du im Ausland gesehen hast.«

Ich begann ihm zu erzählen. Er bohrte seine Augen in mich. Am Abend fuhr ich fort, und nach etwa zehn Tagen erhielt ich folgenden Brief von Herrn Krupjannikow:

Hiermit habe ich die Ehre, Sie, sehr geehrter Herr, zu benachrichtigen, daß Ihr Freund, der in meinem Hause lebende Student Herr Awenir Sorokoumow vorvorgestern um zwei Uhr nachmittags verschieden ist und heute in meiner Gemeindekirche auf meine Kosten beerdigt wurde. Er bat mich, Ihnen die beifolgenden Bücher und Hefte zu übermitteln. An Geld hinterließ er zweiundzwanzigundeinhalb Rubel, die mit seinen übrigen Sachen seinen Verwandten zugestellt werden. Ihr Freund ist bei vollem Bewußtsein gestorben, und man kann wohl sagen, mit ebenso vollkommener Gleichgültigkeit, ohne irgendwelches Bedauern zu äußern, selbst als meine ganze Familie von ihm Abschied nahm. Meine Gattin, Kleopatra Alexandrowna, läßt Sie grüßen. Der Tod Ihres Freundes blieb nicht ohne Wirkung auf ihre Nerven; was aber mich betrifft, so bin ich, Gott sei Dank, gesund und habe die Ehre, zu verbleiben

Ihr ergebenster Diener            
Gur Krupjannikow.

Es kommen mir noch viele andere Beispiele in den Sinn, aber ich kann sie nicht alle aufzählen. Ich will mich auf nur noch eines beschränken.

In meiner Gegenwart starb einmal eine alte Gutsbesitzerin. Der Priester las an ihrem Bett die Sterbegebete; als er plötzlich merkte, daß die Kranke wirklich in den letzten Zügen war, reichte er ihr schnell das Kreuz zum Kuß. Die Gutsbesitzerin rückte mißvergnügt von ihm weg. »Warum eilst du so sehr, Hochwürden«, sagte sie mit erstarrender Zunge, »du hast noch Zeit . . .« Sie küßte das Kreuz, versuchte noch die Hand unter das Kopfkissen zu stecken und gab den Geist auf. Unter dem Kissen lag ein Silberrubel: Sie hatte den Priester für ihr eigenes Sterbegebet bezahlen wollen . . .

Ja, merkwürdig sterben die Russen!


 << zurück weiter >>