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Harfenkarles letztes Lied

In ganz Hirschberg freute man sich über Pommerle, das so niedlich von der Schweizerreise erzählen konnte. Immer wieder wurde das Kind bald hier, bald dort angesprochen, ein jeder richtete an das aufgeweckte Mädchen Fragen, die bereitwilligst beantwortet wurden. In der Schule hielt Pommerle sogar vor der ganzen Klasse ein paar lange Vorträge, die sehr gelobt wurden.

»Du bist mit offenen Augen gereist, Pommerle; so gehört es sich. Wenn man schon einmal in Gottes schöner Natur umherfährt, muß man auch alle ihre Herrlichkeiten in sich aufnehmen.«

Obwohl die Kleine noch ganz unter den Eindrücken der Reise stand, lernte sie wieder mit Feuereifer, denn es gab mancherlei nachzuholen. Doch bestand kein Zweifel, daß Pommerle zu Ostern versetzt werden würde.

Benders freuten sich über den Lerneifer ihres Kindes; noch mehr aber staunten sie über den Jule. Mit dem Tischlerlehrling war eine seltsame Veränderung vorgegangen, die Meister Reichardt und die Seinen sich nicht recht erklären konnten. Der Jule redete nicht mehr soviel dummes Zeug; auch als der schwarze Kater eines Tages wieder von links nach rechts durch die Werkstatt sprang, drückte Jule nur schnell die Hand fest auf den Mund. Dann murmelte er:

»Nein, ich sag's nicht mehr. Ich glaub's auch nicht mehr, denn ich bin kein Dummkopf.«

In seiner Freizeit saß er oft und schrieb. Verlegen brachte er in der ersten Zeit seine Aufzeichnungen dem Professor, damit der die gemachten Fehler anstreiche. Später, als Sabine davon hörte, diktierte sie dem Jule mancherlei, und wieder korrigierte Bender das Niedergeschriebene. Es waren unendlich viele Fehler darin, und der Jule mußte alltäglich lange Verbesserungen machen, aber er lernte vieles daraus. Sehr oft kam es vor, daß Jule und Pommerle, wenn sie zusammen arbeiteten, nicht wußten, wie dieses oder jenes Wort geschrieben wurde. Dann sagte Jule tröstend:

»Macht nichts, Pommerle! – Ich gehe nachher zu deinem Vater und meinem väterlichen Freund; der weiß es.«

Der Jule kam täglich ins Haus, der Jule machte die besten Fortschritte und stellte auch nicht mehr so viele dumme Fragen. Er strahlte, als ihm eines Tages von einem Kunden gesagt wurde, daß er doch ein recht gescheiter Bursche sei, denn solch ein Lob war dem Jule neu. Es spornte ihn jedoch weiter an; ebenso die Anerkennung, die ihm Bender zollte.

»Ich werde doch zu Ostern die Prüfung bestehen. Ich brauche zu keinem anderen Meister und bleibe in Hirschberg.«

Da, an einem Sonntag, kam der Jule nicht wie sonst zum Mittagessen. Man wartete, – er erschien nicht. Pommerle lief schließlich zu Meister Reichardt.

»Der Jule? Der ist schon gegen zehn Uhr fortgegangen und wollte, wie immer, gegen Mittag bei dir sein.«

Erst gegen drei Uhr kam der Jule, erhitzt vom schnellen Laufen.

»Wenn man nicht zum Essen kommt, Jule, entschuldigt man sich«, sagte Frau Bender. »Wo bist du gewesen?«

»Ich habe Kräuter gesucht.«

»Und hast darüber die Mittagszeit vergessen? So schau doch auf die Uhr.«

»Ich muß nachher gleich wieder fort.«

Professor Bender horchte auf. In Jules Stimme lagen Unruhe und Trauer. »Vielleicht können wir gemeinsam ein Stück spazierengehen, Jule?«

»Ach ja, Herr Professor, Sie können mir helfen. Ich muß noch Wacholderbeeren pflücken und ein bißchen Huflattich.«

»Wozu das?«

Jules Augen wurden trübe. »Der Harfenkarle ist krank. Mit dem Harfenkarle will es gar nicht mehr gehen. Vor drei Tagen hat er noch selber gesammelt, nun hustet er immerfort.«

»So wollen wir gemeinsam hinaus zum Harfenkarle gehen, Jule. Ich glaube, er hat genügend Kräuter, um sich einen Tee bereiten zu lassen.«

»Ich möchte dem Harfenkarle so gerne eine Freude machen und ein bißchen für ihn arbeiten.«

»Vielleicht können wir dem alten Manne anders helfen. Wir machen uns gleich auf den Weg.«

Bender ging mit Pommerle und Jule nach dem eine knappe Stunde vor Hirschberg gelegenen kleinen Häuschen. Pommerles Geplauder war verstummt. Es bedrückte sie, daß der Harfenkarle krank war, der gute alte Mann, der so schöne Lieder sang und sie mit den dünnen Fingern auf der Harfe begleitete.

»Wie alt ist er, Jule?«

»Vierundneunzig Jahre.«

Jules Augen gingen nach rechts und links. Er wollte doch noch Kräuter sammeln, denn er wußte genau, was man brauchte. Für Atembeschwerden sollte der Harfenkarle ein Tränklein aus Huflattich oder Raute bekommen; weil er klagte, daß er keinen Appetit habe, sollte ihm die Enkelin Wermut kochen. Und gegen den häßlichen Husten waren Fenchel, Schafgarbe, Heidelbeere und Ehrenpreis sehr gut. Das alles war dem Jule bekannt. Er wußte fast von jedem Kräutlein, welche Heilkraft es besaß. Schließlich hatte er einen großen Strauß gepflückt.

»Wir wollen uns erkundigen, Jule, was dem alten Manne fehlt. Dann lassen wir aus der Apotheke etwas hinausschicken.«

»Der arme Harfenkarle«, sagte Pommerle traurig, »nun kann er nicht mehr singen: ›Ich bin gesund und wohlgemut, und das ist wohl mein höchstes Gut.‹ – Nun ist er krank. Aber er wird schon wieder gesund werden.«

Der alte Harfenkarle saß vor seinem Häuschen in der Nachmittagssonne. Seine Enkelin hatte ihn sorgsam in warme Decken gehüllt. Sein Kopf, mit dem spärlichen Haar, schmiegte sich in ein großes Kissen. Er hielt ihn ein wenig emporgerichtet, denn sein Blick hing an der Kette des Riesengebirges. Wie lange würde er noch seine lieben schlesischen Berge sehen?

Er lächelte den Ankommenden freundlich zu. Er drückte Pommerle lange die Hand.

Professor Bender sprach mit der Enkelin des Alten und erkundigte sich, ob er dem Kranken eine Erleichterung schaffen könne. Die brave Frau meinte jedoch, es ginge wohl langsam dem Ende zu. Wahrscheinlich werde der Großvater eines Tages friedlich einschlafen.

»Im Sommer hat er noch die Schneekoppe besucht. Er wollte durchaus noch mal von oben ins Tal sehen. Es ging recht langsam, aber es ging doch. Nun denkt er zurück an den schönen Tag, an dem er dort oben stand.«

Von dem Aufenthalt auf der Schneekoppe sprach der alte Mann auch jetzt wieder mit leiser, zittriger Stimme zu Jule und Pommerle.

»Mehr als fünfzigmal bin ich dort oben gewesen. Jeden Berg im Riesengebirge kenne ich, hab' ja oft genug in den Bauden gespielt und die Leute froh gemacht. Viele Tausende werden noch dort hinaufsteigen, alle werden tief hinein ins liebe Schlesierland sehen, – ich werd's nicht mehr tun. Bald schließen sich meine alten Augen für immer.«

»Ach nein, Harfenkarle«, sagte Pommerle in aufsteigender Angst, »wenn es erst wieder Sommer wird, nehmen wir dich mit hinauf zur Koppe. Wir fahren bis zum Schlesierhaus und gehen dann ganz langsam zum Gipfel. Der Jule nimmt dich fest unter den Arm, und ich schiebe hinten ein bißchen.«

Der Harfenkarle lächelte wehmütig. »Werd' sie nicht mehr sehn, die liebe Schneekoppe! Aber ihr sollt sie immer liebbehalten, ihr sollt sie von mir grüßen, wenn ihr wieder hinaufsteigt.«

»Harfenkarle, kannst du uns kein Lied mehr singen? Es war immer so schön, es machte so froh. – Harfenkarle, ich kenne alle deine schönen Lieder auswendig.«

Der alte Harfenkarle saß vor seinem Häuschen in der Nachmittagssonne.

»Das ist gut, kleines Pommerle! Behalte sie fest im Herzen, singe sie recht oft, damit man sie im Schlesierland nicht verlernt. Es sind gute alte Lieder, die schon mein Vater sang.«

»Ich kenne sie auch«, sagte der Jule. Er sah sorgenvoll auf das faltige, graue Gesicht des Alten.

Der Harfenkarle schloß die Augen, doch bald öffnete er sie wieder. Es schien Pommerle, als wären sie jetzt größer und leuchtender denn je. Ganz vorsichtig faßte sie nach der welken Hand. Die Lippen des Alten murmelten etwas, die Worte verstand das Kind nicht.

»Harfenkarle«, flüsterte Pommerle ängstlich, »willst du was? Willst du uns noch was sagen?«

»Ich möchte dir noch ein Lied singen, Pommerle, aber es geht wohl nicht mehr.«

»Nein, nein«, sagte der Jule besorgt, »es geht heute nicht, denn dein Hals ist krank, und dann kommt der böse Husten wieder. – Nein, heute geht es wirklich nicht.«

»Ja, ja«, murmelten die welken Lippen, »der Harfenkarle hat fast neunzig Jahre lang Kräuter und Beeren gesucht, hat in seinem Leben viel gesungen und gespielt. Heute kann er nur noch seinen Schlußgesang singen.«

»Sollst nicht singen, Harfenkarle«, sagte Jule besorgt.

Doch der Alte schüttelte den Kopf und begann leise zu summen:

»Bald geht's zu End'! Ich will nicht klagen,
Obwohl mich oft ergreift ein heißer Schmerz.

An diesen Bergen hängt so sehr mein Herz, –
Nun sitz' ich hier im Tal und muß entsagen.«

Pommerle wagte nicht zu sprechen; ihr war seltsam feierlich zumute. Hier im Sonnenschein der alte Harfenkarle mit den großen, sehnsuchtsheißen Augen, die an den Bergen hingen, und im Zimmer stand die Harfe, die unter seinen Händen nicht mehr klingen würde.

»Harfenkarle, – Harfenkarle, – was soll ich dir schenken? Ich habe kein Edelweiß, sonst würde ich es dir geben.«

Aber der Harfenkarle schien die Worte nicht zu hören. Er sah nur seine geliebten Berge, die hell von der späten Nachmittagssonne beschienen wurden.

»Wenn die Sonne sinkt«, murmelte er, »ich fühl's, wenn die Berge verschwinden, geht auch der Harfenkarle zur Ruh'.«

Da lief Pommerle ins Haus und teilte dem Vater angstvoll flüsternd mit, was der Harfenkarle eben gesprochen hatte. »Väti, komm und hilf ihm!«

Professor Bender stand vor dem alten Manne. Der nickte ihm gar freundlich zu. »Ein liebes Kind, Herr Professor, ein sehr liebes Kind, es hat seine Heimat lieb. Das möge ihm erhalten bleiben. Und auch du, Jule, wirst sie niemals vergessen.«

Frau Kraft, die Enkeltochter des Harfenkarle, kam heraus. Sie sah wohl auch, daß hier nichts mehr zu helfen war.

»Geht wieder heim«, sagte sie zu den Kindern. »Der Großvater darf heute nicht mehr viel reden. Er muß ins Zimmer, denn es wird kühl, wenn die Sonne niedergeht.«

»Möcht' noch ein Weilchen die Sonne sehen«, sagte der Alte.

»Soll ich Ihnen den Arzt senden?« fragte Bender im Flüstertone.

»Ach nein, er will ihn nicht haben. Er wird eines Tages ganz sanft einschlafen.«

Schließlich drängte der Professor zum Heimgehen. Pommerle drückte dem Harfenkarle innig die Hand. »Wir arbeiten morgen nicht am Nachmittag, wir kommen wieder zu dir, Harfenkarle. Dann erzähle ich dir was von der Schweiz, oder ich singe dir ein Lied, worin es heißt, daß man die Sonne im Herzen haben kann.«

»Ja, Pommerle, auch mir leuchtet die Sonne im Herzen, selbst wenn es bald dunkel wird.«

Immer wieder wandte sich Pommerle, als es Abschied genommen hatte, nach dem Harfenkarle um. Sie sah ihn in dem großen Stuhl sitzen, aber er rührte sich nicht. Er schaute unentwegt hinüber nach den Bergen. Dort war sein Herz!

»Darf ich morgen wieder zu ihm gehen, Väti?«

»Ja, mein Kind, und der Jule wird dich begleiten.«

»Gehen wir auch noch mal hinauf zur Schneekoppe in diesem Herbst, um der Koppe die Grüße vom Harfenkarle zu bringen?«

»Auch das. Sobald wir wieder einen schönen Sonntag haben, dann machen wir gemeinsam die Partie. Ein Schlesier, wie ich einer bin, sehnt sich von Zeit zu Zeit danach, die Schneekoppe zu besuchen. Ist es nicht so, Jule?«

Während die drei Hirschberg zuschritten und noch vom Harfenkarle erzählten, schlossen sich zwei müde alte Augen für immer. Der letzte Blick aus Harfenkarles Augen galt dem Riesengebirge. Mit der Sehnsucht nach seinen geliebten schlesischen Bergen war der Alte sanft entschlafen. Tränenden Auges trug ihn die Enkeltochter mit Hilfe der Nachbarn ins Haus. Sie legten ihn in sein hartes Bett und stellten daneben die Harfe, auf der er so oft und so gern gespielt hatte.

Pommerle weinte bitterlich, als man ihm am nächsten Tage, nach Heimkehr aus der Schule, sagte, der Harfenkarle sei gestern abend eingeschlafen.

»Niemals wieder wird er singen können, und er sang doch so schön! Ich habe ihm nicht mal was schenken können. – Nun kann er nicht wieder hinauf zur Schneekoppe. – Väti, nun müssen wir aber sehr rasch hin, damit wir die liebe Schneekoppe von ihm grüßen, wie er es zu allerletzt uns gesagt hat.«

Auch der Jule kam mit rotgeweinten Augen. Er war so oft beim Harfenkarle gewesen. Durch ihn war ihm die Kenntnis der Heilkräuter geworden, von ihm wußte er, was seltene Steine sind. Was hatte ihm der Harfenkarle nicht alles gesagt! Dazu die vielen, vielen Lieder. – Er konnte freilich nicht so schön singen wie das Pommerle, doch die Verse hatte er fest im Kopf und sang sie oft der Sabine vor.

»Am Sonntag«, sagte der Jule, »da habt ihr mich ausgescholten, weil ich nicht zum Mittagessen kam. Ich weiß aber, ich hab' dem Harfenkarle noch 'ne Freude gemacht, als ich ihm die Kräuter brachte. Am Vormittag hat er auch nicht so große Fieberaugen gehabt wie am Nachmittag. Da hat er noch ein Liedchen gesungen.«

»Jule, was hat er gesungen?« fragte Pommerle schluchzend.

»Ich hab's mir ganz genau gemerkt«, sagte Jule, »weil es sein letztes gewesen ist. Das Lied, Pommerle, müssen wir immer liebbehalten, denn der Harfenkarle meinte, er hätte es in allen Bauden, im ganzen Schlesierland gesungen.«

»Was hat er gesungen?« fragte das Kind erneut. Oh, sie wollte dieses Lied besonders liebhaben, das letzte Lied, das Sterbelied vom alten Harfenkarle.

»Der Morgen, das ist meine Freude!
Da steig' ich in stiller Stund'
Auf den höchsten Berg, in die Weite,
Grüß' dich, Deutschland, aus Herzensgrund.«

Noch immer weinte Pommerle. »Nun hat er keine Freude mehr, keinen Morgen, nun kann er nicht mehr zur Schneekoppe steigen.«

Professor Bender, der die letzten Worte seines Töchterchens hörte, zog die Kleine an sich. »Er ruht nun aus von einem arbeitsreichen und mühevollen Leben, mein Kleinchen. Er hat die ewige Ruhe und den Frieden wohl verdient. Und weil er immer ein gar braver Mann war, hat ihn der liebe Gott schmerzlos von der Erde genommen. Sein letzter Blick war nach oben gerichtet, er galt seinen lieben Bergen und – dem Himmel.«

In den nächsten Tagen achtete Pommerle sehr sorgsam auf das Wetter. Ihr war es, als sei ihr vom Harfenkarle ein heiliges Vermächtnis übertragen worden: der Besuch der Schneekoppe. Wenn doch nur Sonntag schönes Wetter wäre, damit man hinaufgehen könne.

Mit dem Jule wurde fleißig gelernt. Der Jule nahm die Stunden sehr ernst, er fand Freude am Lernen. Den letzten Brief, den ihm Sabine diktiert hatte, zeigte er stolz seinem Vormund. Nur vier Fehler waren auf zwei Seiten zu finden.

»Wirst doch ein tüchtiger, brauchbarer Meister werden, mein lieber Junge, dem Schreiben und Rechnen keine Schwierigkeiten machen.« –

In aller Heimlichkeit, aus dem Gefühl der Dankbarkeit heraus, arbeitete der Jule an einem Schränkchen mit Glastüren für den Professor. Bis Weihnachten mußte es fertiggestellt sein. Der Vormund hatte schon mehrere solcher Schränkchen in seinem Arbeitszimmer, alle mit Glastüren, durch die man die schillernden Steine genau sehen konnte, die darin lagen. Der Jule wußte jedoch, daß es ganz besonders wertvolle Steine waren, die der Professor noch in Kästen verwahrte. Da sollte ein neuer Schrank auch diese Kostbarkeiten in sich aufnehmen.

Jule hatte kaum Zeit zum Ausruhen. Tagsüber arbeitete er fleißig für den Meister, der ihm aber, seit er wußte, daß Jule ein Schränkchen für seinen Vormund anfertigte, manche freie Stunde gab. Hinzu kamen die Arbeitsstunden mit Pommerle und – so sagte der Jule –, die gelehrten Stunden bei Professor Bender. Die waren besonders schön. Jetzt wußte er längst, wo die Schweiz, wo Italien lagen. O ja, er kannte sogar einige Flüsse von Amerika und Afrika. Er las auch manches Buch, das ihm der Vormund lieh oder gar schenkte. Es war eine Lust, vieles zu wissen! Von Zeit zu Zeit machte sich der Jule freilich bei seinen Altersgenossen unbeliebt, wenn er damit prahlte, daß er bald der klügste Mann im ganzen Hirschberger Tal sein werde, weil er gar soviel lerne. Er wurde erst kleinlauter, als ihn Professor Bender darauf hinwies, er mache sich mit solchen Behauptungen lächerlich, weil es in Hirschberg allein sehr viele gäbe, die erheblich mehr wüßten als Jule.

Am Sonnabend wurde dann der Ausflug zur Schneekoppe festgesetzt. Diesmal wollte Frau Bender, deren Gesundheit sich in der Schweiz gekräftigt hatte, mitgehen.

Da es Anfang Oktober schon zeitig dunkelte, brach man am Sonntag früh auf. Zunächst fuhr man mit der Eisenbahn nach Krummhübel, dann benutzte man den Autobus. Bei der Hampelbaude angekommen, wischte sich Pommerle verstohlen die Augen.

»Hier hat der liebe Harfenkarle, als er noch gut singen konnte, viele Jahre lang Harfe gespielt und Lieder gesungen.«

Am Schlesierhaus verließ man das Auto und machte sich, nachdem man das Mittagessen eingenommen hatte, auf den Weg zur Koppe. Wieder weilten die Gedanken Pommerles und Jules beim Harfenkarle, der noch im letzten Sommer, obwohl er ein Greis war, diesen Zickzackweg hinaufgestiegen war. –

»Väti«, sagte Pommerle, »du hast die vielen, schönen Berge in der Schweiz gesehen. Sag mal, gefällt dir die Schneekoppe jetzt auch noch?«

»Aber freilich, mein Pommerle!«

»Und wirst sie auch nicht vergessen, wenn du im nächsten Jahr zum Professor Tschingtschingtrara nach Italien fährst? Mußt du denn immerfort in fremde Länder fahren?«

»Ja, mein Kind, man hat mich gebeten, auch dort einige Vorträge zu halten.«

»Weil du ein berühmter Mann bist. – Aber es heißt doch in einem Liede: man soll den Ranzen und den Stecken nehmen und so rasch wie möglich seiner Heimat zuwandern, wenn man sie einmal verlassen hat.«

»Ist's nicht auch sehr schön, mein Kind«, sagte Bender ernst, »wenn aus fernen Ländern die Aufforderung kommt, wir Deutschen sollen nach dorthin unser Wissen, unser Können bringen? Macht es dich nicht stolz, zu denken, daß andere Länder von deutschen Männern noch etwas hinzulernen können?«

»Ja, Väti, das macht stolz, und noch stolzer, daß sie gerade dich rufen. – Kennt man dich in allen Ländern?«

»In sehr vielen Ländern, Pommerle. Meine Bücher werden wohl überall von den Gelehrten gelesen, die sich für das Gestein interessieren.«

»Dann sagen alle: es ist ein deutscher Professor aus Hirschberg. – Ach ja, das ist schön! Na, Väti dann reise mal ruhig in die anderen Länder. Aber mich brauchst du nicht wieder mitzunehmen.«

Frau Bender lachte zu den Worten des Kindes. »Nein, Pommerle, im nächsten Jahre bleiben wir daheim. Der Väti fährt auch nur für ganz kurze Zeit nach Rom.«

»Ich möchte noch was wissen, Herr Professor«, forschte Jule. »Haben Sie manchmal gesagt, daß ich Ihnen die Steine gebracht habe, durch die Sie berühmt geworden sind?«

»Ich habe es sogar geschrieben, Jule. Ich denke, an dem Tage, an dem du Geselle wirst, kann ich dir ein neues Buch von mir überreichen. Man hat meine Lebensgeschichte verlangt. In der Geschichte steht auch, daß der Jule Kretschmar so manchen seltenen Stein fand und mir brachte. Bist du nun zufrieden?«

Der Jule wurde dunkelrot vor Freude. Das hatte er nicht erwartet! Sein eigener Name würde in einem Buch des berühmten Professors gedruckt stehen, der in ferne Länder fuhr!

Pommerle umhalste den Freund stürmisch. »Jule, nun mußt du aber noch viel mehr lernen. Denn es wäre schlimm, wenn der Väti in das Buch schreiben müßte, daß du früher so viele Fehler gemacht hast.«

Gedrückt fragte der Jule, ob wohl auch von seinem Leben etwas in jenes Buch käme und atmete erleichtert auf, als er hörte, daß nichts Nachteiliges über ihn geschrieben worden wäre. – Nun wollte er den Schrank mit doppelter Sorgfalt und Liebe fertigstellen. –

Die Schneekoppe war erreicht. Im lichten Sonnenschein stand man auf dem Gipfel. Diesmal war in Pommerles Herzchen jedoch nicht die frohe, übermütige Stimmung, die es sonst hier oben fühlte. Heute gingen die Gedanken des Kindes hin zum Harfenkarle, denn auf seinen Wunsch hin war man heraufgestiegen. Noch oft, sehr oft, würde es hierher kommen! Vielleicht ebenso oft wie der Harfenkarle.

Mit gefalteten Händchen stand das kleine Mädchen da und schaute ins grüne Tal hinab, dahin, wo Hirschberg lag.

»Harfenkarle«, klang es leise, »jetzt grüße ich deine liebe Schneekoppe tausendmal von dir. Du bist oben im Himmel und siehst uns hier. Du weißt auch, daß ich deinen Wunsch erfüllt hab'. Schlaf wohl, lieber Harfenkarle!«

Pommerle fühlte eine Hand auf seinem blonden Scheitel. Es blickte empor und sah den Vater.

»Väti, denkst du auch an den Harfenkarle?«

»Ja, mein Kind.«

»Väti, er ist tot, aber wir sollen seine Gedanken und seine Lieder fest im Kopf behalten und weitergeben. – Ach, Väti, wie ist die Heimat schön! – Weißt du, was der Harfenkarle, ganz zuletzt, ehe er starb, gesungen hat? Ich steig' auf den höchsten Berg, in die Weite und –« Pommerles Stimme wurde hell und froh, »und – grüß' dich, Deutschland, aus Herzensgrund!«


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