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Unruhe vor der Abreise

Seit dem Tage, da Frau Bender dem Mündel ihres Mannes mitgeteilt hatte, daß man sogleich nach Ostern mit Pommerle für vier Monate in die Schweiz fahren werde, war Jule ungenießbar geworden. Er zürnte dem Vormund, der ihm die Freundin für so lange Zeit nahm. Der sonst stets fröhliche und aufgeweckte Tischlerlehrling trug eine mürrische Miene zur Schau; er schlug, sobald er sich allein in der Werkstatt wußte, grimmig auf die Bretter ein.

Meister Reichardts blinde Tochter Sabine, ein neunzehnjähriges junges Mädchen, versuchte den aufgeregten Jule ein wenig zu besänftigen. Es gelang ihr oftmals, aber augenblicklich war mit Jule nichts anzufangen.

»Kein Land ist so schön wie unser Schlesierland. Immer läuft er davon! Hier hat er so viele Steine, über die er Bücher schreiben kann, aber er will eben noch berühmter werden. – Pommerle braucht nicht berühmt zu werden. Sie geht auch nicht mehr zur Schule, weil sie fortfährt.«

»Jule, Jule«, mahnte Sabine nachsichtig, »man hat Pommerle für die Zeit zwischen Ostern und den großen Ferien beurlaubt. Du weißt doch, daß Pommerle die beste Schülerin in der Klasse ist. Außerdem wird Frau Bender dafür sorgen, daß Pommerle in der Schweiz weiterlernt. – Warum gönnst du deiner Freundin die schöne Reise nicht?«

»Ich gönn' ihr alles! Meinetwegen soll sie im Sommer wieder an die Ostsee fahren. Das ist ihre Heimat, von dort kommt sie. Aber in der Schweiz hat sie nichts zu suchen. Ich habe mir schon etwas Geld gespart, ich würde mit Pommerle in meinen Ferien an die Ostsee fahren.«

Plötzlich wurde Jules Gesicht hell. Er wußte, wie sehr Pommerle die erste Heimat liebte. Er würde sie von der Schweiz dadurch zurückhalten, daß er ihr eine Reise nach Neuendorf vorschlug.

Jule ließ die Arbeit ruhen, eilte in sein kleines Zimmerchen und überzählte seine Ersparnisse. Mit achtundvierzig Mark konnte man doch viel anfangen. Wenn Pommerle heute nachmittag kam, sollte sie seinen Plan hören.

Das Geld würde für zwei Ostseereisende nicht ausreichen. Er müßte also noch etwas hinzuverdienen. – Aber wie? Ob die kluge Sabine wohl Rat wußte?

Ohne seinen Plan zu verraten, forschte Jule in der nächsten Stunde, wie es die Leute machten, um schnell viel Geld zu bekommen.

»Woher hat denn Professor Bender das viele Geld, um dreimal nach der Schweiz zu fahren? Mann – Frau und Kind?«

»Du weißt doch, Jule, daß Professor Bender ein berühmter Mann ist, der wertvolle Bücher über Steine und Blumen schreibt. Diese Bücher werden viel gekauft, dafür bekommt er Geld.«

»Soviel Geld bekommt er für seine Bücher? – Von den Steinen, die ich gesucht habe?«

»Professor Bender hat ein langes Studium hinter sich. Außerdem wird er oft zu Vorträgen eingeladen; auch dafür erhält er Geld. Wenn er jetzt in die Schweiz fährt, wird er ebenfalls gut bezahlt.«

Jule biß eine Weile an den Fingernägeln, dann griff er erneut nach dem Hobel. Man sah es seinem Gesicht an, daß er sich mit schweren Gedanken abquälte. Ganz plötzlich legte er den Hobel beiseite.

»Wieder nischt«, rief er ergrimmt, »der Kater!«

»Was ist denn schon wieder los, Jule?«

»Hast du nicht gesehen?« Jule vergaß, daß Sabine blind war. So konnte sie unmöglich gesehen haben, daß der schwarze Kater des Meisters die Werkstatt durchquerte. »Es wird nischt, es wird nischt«, klagte Jule, »der Kater!«

»Was hat der Kater denn getan, Jule?«

»Schwarzer Kater – ein Berater. Von links nach rechts bringt Schlechtes! – Es wird nischt, es wird gar nischt mit meiner Reise.«

»Jule, sei nicht abergläubisch«, tadelte Sabine freundlich. »Ein Junge deines Alters darf nicht mehr an solch kindische Sachen glauben. Bald erschreckt dich der Rübezahl, bald der Grund in der Kaffeekanne – – –«

»Du hast den Rübezahl noch nicht gesehen, Sabine, aber ich! Ich kenne den mächtigen Berggeist genau und weiß, daß er stets auf Schabernack ausgeht. Ich möchte – ich möchte – – – daß er jetzt nach der Schweiz geht und – und – – –« Jule schwieg. Er wagte doch nicht, seinem gütigen Vormund, Professor Bender, Schlechtes zu wünschen. Dazu hatte er den alten Herrn viel zu lieb. Nur daß der Vormund mit Pommerle in die Schweiz fuhr, verzieh er ihm nicht so bald.

Am Nachmittag kam Pommerle zu Sabine. Sie ging so gern zu der großen Freundin und ließ sich erzählen. Besonders in letzter Zeit sprach Sabine oftmals von der schönen Schweiz, von Wilhelm Tell, dem Befreier, von den himmelhohen, schneebedeckten Bergen, die in die Wolken hineinragten, so daß man deren Spitzen nicht sehen könne, von den Bahnen, die ganz steil an den Bergen emporkletterten oder emporgezogen würden. Daß Sabine, die nicht einmal sehende Augen hatte, von allen diesen merkwürdigen Dingen erzählen konnte, erschien Pommerle sehr seltsam. Aber Sabine war eben ganz etwas Besonderes, sie konnte mit einem Stöckchen oder mit ihren Fingern sehen.

Sabine ging mit Pommerle hinüber in die Werkstatt zu Jule. Die beiden saßen oft bei dem Lehrling, der sich in seiner Arbeit nicht stören ließ. Doch heute begrüßte er seine Freundin lange nicht so freundlich wie sonst.

»Freust du dich nicht, Jule, daß ich gekommen bin?«

»Es ist nötig, daß du kommst. Von Ostern ab vergißt du deinen Freund ja doch. Dann sitzest du auf den Almen, bei den Kühen oder auf den Bergen und denkst nicht an Hirschberg.«

»O doch, ich denke immerfort an dich und an Hirschberg. Du bist doch mein bester Freund.«

»Wenn ich dein Freund wäre, würdest du nicht in die Schweiz fahren. Dann würdest du – – an die Ostsee fahren.«

Jule hobelte, daß die Späne nur so flogen.

»Nach meiner lieben Ostsee«, klang es leise von den Kinderlippen. »Weißt du noch, Jule, wie uns im vorigen Sommer Onkel Stadler mitgenommen hat mit seinem Auto? Ach, das war schön!«

» I. K. 37 985«, murmelte Jule.

»Du weißt sogar die Nummer noch, mit der wir gefahren sind«, jubelte Pommerle. »Mit dem Auto bis direkt an die liebe Ostsee!«

Sabine hatte sich erhoben und verließ die Werkstatt. In Jules Gesicht zuckte es. Hastig trat er dicht an Pommerle heran. »Du – ich habe einen großartigen Plan. – Wir beide fahren im Sommer wieder an die Ostsee. Ich habe Geld. Dann gehen wir nach Neuendorf, besuchen die Elli Götsch und die Trude und alle anderen Freundinnen. Wir gehen auch zu dem Haus, in dem du gewohnt hast, als du klein warst. Pommerle, alle Neuendorfer freuen sich, wenn du kommst.«

Das Kindergesicht wurde rot und heiß. Jedesmal, wenn das Kind an die Heimat erinnert wurde, erwachte Sehnen in dem kleinen Herzen. In Neuendorf hatte es seine früheste Kindheit verlebt, mit dem Vater hatte es zusammengelebt, bis er ertrank. Dann nahmen es Benders mit nach Hirschberg; doch obwohl Pommerle nun schon fünf Jahre hier weilte, wollte die Sehnsucht nach der Ostsee nicht zum Schweigen kommen.

Jule wurde immer erregter. »Den ganzen Tag kannst du am Strand sitzen. Dann erzählt dir die See vom Vater, dann riecht es auch wieder nach Heimatluft. – Weißt du noch, Pommerle? Mit allen Kindern spielen wir wieder, den ganzen Tag über. – Ach, wird das schön sein! – Kommst du mit mir?«

»Vielleicht kommt die Mutti auch mit.«

»Die fährt doch in die Schweiz. – Wir nehmen Sabine mit.«

»Oh, Jule, ich muß in diesem Sommer auch in die Schweiz.«

»Nein«, rief Jule stürmisch, »du sollst nach der Ostsee kommen! Du bist ein schöner Pommer! Du darfst überhaupt nicht länger ›Pommerle‹ heißen, wenn du nicht zurück in deine pommersche Heimat willst!«

Das Kind schwieg zu den stürmischen Anschuldigungen des Freundes. Doch schon erstand in dem Kinderköpfchen der Plan, beide Reisen zu vereinigen. Vielleicht konnte man über die Ostsee nach der Schweiz fahren. Im vorigen Jahr war man mit Onkel Stadler doch auch für drei Tage dort gewesen.

»Ich habe Geld«, flüsterte der Verführer Jule. »Wenn es nicht langt, weiß ich ein Mittel, noch mehr zu beschaffen.«

»Ich werde mal mit der Mutti sprechen. – Ach ja, an die liebe Ostsee möchte ich, viel lieber als in die Schweiz. – An der Ostsee sind zwar keine hohen Berge, die mit ihren Schneedächern die Wolken durchstechen, aber die Ostsee ist doch viel schöner.«

»Du, ich habe einen großartigen Plan. – Wir beide fahren im Sommer wieder an die Ostsee!«

»Berge hast du hier auch. Die Leute reden nur so dumm! Die Schneekoppe ist der allerschönste Berg der ganzen Welt. Und in der Schweiz sind gewiß keine höheren Berge. Das redet man uns vor, damit wir hinfahren. Bergbahnen haben wir hier auch; Autos kriechen an den Bergen hinan. Es ist alles genau so wie in der Schweiz.«

»O nein«, lachte Pommerle. »Ich habe Bilder gesehen, darauf ist es ganz anders. So hohe Berge sind dort, daß man nicht hinaufsehen kann. Ganz oben sind sie noch lange nicht zu Ende, und immer haben sie Schnee.«

»Die Schneegruben haben auch Schnee«, erwiderte Jule.

Wieder strichen Pommerles Hände begütigend über Jules Wangen. »Laß gut sein, Julchen, ich komme doch wieder, und nach Italien werde ich gewiß nicht mitfahren. Zum Vati kommt am Sonntag noch ein Mann, der will ihn fragen, ob er auch nach Italien kommt.«

Krachend fiel Jules Faust auf den Tisch nieder. »Nach Italien fährst du natürlich auch mit«, schrie er das erschreckte Kind an. »Du kommst überhaupt nicht mehr nach Hirschberg zurück!« Dann drehte sich Jule seiner Arbeit zu und hörte nicht auf Pommerles begütigende Worte.

»Jule – Julchen«, bettelte das kleine Mädchen, »sei doch nicht so wild! – Der Vati sagte schon, daß er allein nach Italien fährt, weil es nur acht Tage sind. Aber es ehrt ihn, wenn ein Mann aus Italien kommt.«

»Der soll mir unter die Finger kommen«, drohte Jule. Wieder hielt er im Arbeiten inne und starrte auf den Kater, der sich von seinem Lager erhoben hatte. Rasch einige Sprünge, der Kater war durch die Werkstatt gesaust und zum gegenüberliegenden Fenster hinaus.

Jule brach in lautes Lachen aus. »Es wird nischt mit der Italienreise! Haste gesehen, Pommerle? Der Kater, der Berater, von rechts nach links – Glück bringt's!«

»Weiß das der Kater so genau?«

»O ja, es trifft immer zu! – Hurra, der Professor fährt nicht nach Italien.«

»Kommst du Sonntag wieder zum Mittagessen zu uns, Jule?«

»Nein, ich lasse das gute Essen lieber ausfallen, als den berühmten italienischen Mann zu sehen. Puh, die Italiener haben alle lange schwarze Haare und fahren in Gondeln spazieren.«

»Komm doch, Julchen! Der italienische berühmte Mann, der den Vati holen will, kommt nicht zum Mittagessen, er kommt erst viel später.«

Jule nahm sich vor, am kommenden Sonntag nicht, wie üblich, in die Bendersche Villa zu gehen. Er ärgerte sich viel zu sehr, wenn schon wieder einer kam, um den Professor aus Hirschberg fortzuholen. Solche Leute störten den Frieden. So war es im vorvorigen Jahr gewesen, als Professor Unold kam. Man mußte die geplante Hörnerschlittenfahrt aufgeben, da dieser Unhold durchaus mit dem Professor sprechen wollte. Und am fünfzigsten Geburtstag Benders waren aus Schweden und Norwegen berühmte Männer gekommen. Beide wollten Pommerle mitnehmen. Wenn nun Sonntag der Italiener kam, mit den schwarzen langen Haaren, würde er Pommerle vielleicht auch – –

Bis dahin kam der Jule in seinen Gedanken. Dann stand es für ihn fest, daß er am Sonntag unbedingt in die Villa gehen müsse, um Pommerle zu schützen.

Am Sonntag stellte sich Jule bereits um zehn Uhr ein. Sonst kam er erst gegen zwölf Uhr, doch heute trieb ihn die Angst so zeitig hierher.

»War der italienische Unhold schon hier?« fragte er.

»Nein, Jule.«

»Ich habe schlimm geträumt. Ein schwarzes häßliches Tier kam auf mein Bett zugekrochen. Plötzlich flog eine Taube in die Luft. Da bellte das Tier und die Taube flatterte immer ängstlicher umher. Ich habe heute früh im Traumbuch nachgesehen. – Pommerle, das bedeutet nichts Gutes.«

»O je«, sagte das Kind bange.

»Hab' keine Sorgen, ich lasse dir von dem italienischen Unhold nichts tun.«

Professor Bender und Frau begrüßten ihren Schützling freundlich. Sie ließen sich von Jule berichten, was er in der verflossenen Woche gearbeitet habe und ob Meister Reichardt mit ihm zufrieden sei.

»Bei uns ist alles in Ordnung«, erwiderte er, »aber hier, bei euch, geht es drunter und drüber!«

»Na, na, Jule«, lachte Professor Bender, »du bist grimmig, weil ich dir Pommerle für einige Monate fortnehme?«

»Eine Wut hab' ich im Leibe, eine Wut – –«

Der gutmütige Professor lachte. Er kannte sein Mündel und wußte genau, daß Jule der weichherzigste Bursche der ganzen Stadt war, daß ihm sein Temperament nur so manchen schlimmen Streich spielte.

»Ich bekomme nachher Besuch, Jule. Verhaltet euch also recht ruhig.«

»Ich weiß schon, der italienische Unhold kommt.«

»Wer kommt?«

»Damals hieß er auch Unhold. – Der, der uns die Hörnerschlittenpartie kaputt machte.«

»Ich glaube, Jule, das wirst du bis an dein Lebensende nicht vergessen. Dann denke aber auch immer daran, daß ein vorwitziger Knabe mit dem Rodelschlitten losging und Schuld daran hatte, daß unser Pommerle ein Bein brach.«

»Es ist ja wieder geheilt«, brummte Jule. »Nun will sie sogar bis auf die hohen Berge, die bis in die Wolken reichen. – Pah, das alles ist ja Schwindel!«

»Also noch einmal, Jule, verhalte dich nachher recht ruhig, wenn Herr Cincendora kommt.«

»Wer?«

»Der Herr aus Italien, Herr Cincendora.«

Mürrisch ging Jule aus dem Zimmer. Er haßte schon jetzt diesen Herrn. Er berichtete Pommerle, daß bald der schwarze Mann käme.

»Du, ich habe von ihm geträumt. Ich weiß, daß die Sache schlecht ausgeht. Das Traumbuch sagt es.«

»Jule – ätsch – das alte eklige Traumbuch, das weiß gar nichts! Nu' komm, ich zeige dir im Garten die blühenden Veilchen. – Wir bringen der Mutti die ersten Blüten.«

Jule, der gleich Pommerle ein großer Naturfreund war, folgte der Freundin. Die beiden hatten bereits ein hübsches Sträußchen gepflückt, als an der Gartenpforte ein Herr erschien, der zögernd stehenblieb, das Haus betrachtete und ebenso zögernd eintrat. Er trug einen schwarzen Hut, den er vom Kopf nahm, als er der beiden Blumenpflückenden ansichtig wurde.

»Der Schwarze«, flüsterte Jule. Er hatte die schwarzen Haare des Fremden bemerkt.

»Das muß ich schnell dem Vati sagen.«

»Bleib hier«, gebot Jule. Ängstlich ergriff er den Arm der Freundin.

Zögernd näherte sich der Fremde den Kindern.

»Verzeihung – ich bin – – ich erlaubte mir – –«

»Ich weiß schon«, unterbrach ihn Jule, »Sie sind der Herr – – der Herr – – Tschingtschingtrara. – Der Herr Professor ist jetzt nicht zu sprechen. Sie brauchen nicht erst ins Haus zu gehen.«

»Aber Jule!« rief Pommerle, die jede Lüge verabscheute. »Warten Sie noch ein bißchen, Herr – Tschingtschingtrara, der Väti ist in seinem Zimmer. Die Mutti hat heute ganz besonders gut Staub gewischt, weil Sie kommen.«

Nach diesen Worten riß sich Pommerle von der Hand Jules los und stürmte ins Haus. Aber Jule, der den italienischen schwarzen Mann etwas verdutzt vor sich stehen sah, bekam neuen Mut. Er sah Pommerle schon in Italien in einer Gondel fahren. Das wollte er nicht dulden.

»Die Kleine weiß gar nichts«, sagte er bellend vor Zorn. »Der Herr Professor denkt nicht daran, mit Ihnen zu verhandeln. Gehen Sie ruhig wieder fort. Der Herr Professor ist ein berühmter Mann, der seine Berühmtheit in Deutschland behalten will. – Bitte, hier ist die Tür.«

Jule schritt zur Gartentür und öffnete sie weit.

»Sie irren, junger Herr – ich habe mir erlaubt vorzusprechen, weil man mir sagte – – Vielleicht werfen Sie einen Blick auf diese Mappe.« Der fremde Herr nahm eine kleine Mappe hervor und klappte sie auf. Jule sah darin einige Bilder. Das erste zeigte einen See, auf dem ein Kahn schwamm.

»Behalten Sie Ihre Gondel«, rief Jule noch erregter, »damit können Sie den Professor nicht locken. Er hat ganz andere Gegenden gesehen. Wir waren in Krummhübel, in Schreiberhau, wir sind über den ganzen Kamm gewandert.«

»Ich dachte, der Herr Professor, den man allerwärts als einen sehr wohltätigen Herrn schildert, würde – –«

»Bitte, wollen Sie endlich hier hinausgehen?« Jule stand noch immer an der Gartentür, die er hin und her bewegte.

Der Schwarzhaarige klappte die Mappe zu und wollte soeben den Garten verlassen, als Anna, das Hausmädchen, dahergeeilt kam. »Der Herr Professor läßt bitten«, rief sie.

Jule stampfte wütend mit dem Fuße auf. Nun ging sein schlimmer Traum wohl doch in Erfüllung!

Der Fremde wandte sich und ging mit raschen Schritten in die Villa hinein. Jule aber blieb im Garten und zählte angstvoll die verrinnenden Minuten. – Was würde dort drinnen verhandelt werden? Es war wohl das beste, wenn er nicht zum Mittagessen hierblieb. Doch sein Magen meldete sich schon bedenklich; außerdem waren aus der Küche gar verlockende Gerüche gekommen. – Hammelbraten, den aß er für sein Leben gern!

Im Zimmer Professor Benders bot inzwischen ein junger Künstler dem enttäuschten Gelehrten kleine Malereien an. Bender, der durch Pommerle gehört hatte, daß unten im Garten der Herr Tschingtschingtrara gekommen wäre, trug selbst Schuld an der Verwechslung. So kam es, daß der Professor den hocherfreuten jungen Mann zum Niedersitzen einlud und schließlich einige seiner Bildchen kaufte.

»Na«, murmelte Jule, als er den Künstler durch den Garten fortgehen sah, »er hat wenigstens Pommerle nicht mitgenommen.« Dann schnellte er aus seinem Versteck hervor und warf krachend die Gartentür hinter dem Maler ins Schloß.

Von dem Besuch des italienischen Geologen Cincendora, der mit dem Auto bald darauf vorfuhr, erfuhren weder Jule noch Pommerle etwas. Sie waren im hinteren Garten und betrachteten voller Aufmerksamkeit die grünende Hecke und die jungen Keime, die allerwärts aus dem Erdboden hervorkamen. Da die Unterredung zwischen Professor Bender und Cincendora nicht lange währte, war er längst fort, als die beiden Kinder mit hungrigen Mägen zurück in die Villa kamen.

Jule bekam noch kurz vor dem Essen eine kleine Abreibung. »Du hast keinen Menschen, der zu mir kommt, unfreundlich anzufahren, Jule. Es ist ganz einerlei, wer es ist. Du kannst nicht wissen, ob du nicht auch einmal mit leerem Magen, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche umherwandern mußt, wie dieser arme Künstler heute früh. Es wird wirklich Zeit, daß du ein wenig mehr Verstand bekommst, Jule.«

Erst beim Hammelbraten verwand Jule den Schmerz, den ihm der Vormund mit seinem Verweis zugefügt hatte. Und als es zum Nachtisch einen Tortenboden mit eingelegten Stachelbeeren und einem Schlagsahnehäufchen darauf gab, strahlte er über das ganze Gesicht.

Pommerle betrachtete den Nachtisch mit liebevollen Blicken.

»Ein Trias«, sagte sie.

»Was ist das?« lächelte Frau Bender.

»Eine Triastorte, nicht wahr, Väti? Du weißt es.«

»Ja, mein kleines, kluges Mädchen! Woher hast du denn diese Weisheit?«

»Das hast du mir neulich gesagt, als ich bei dir das dicke Buch fand.«

»Erkläre das doch ein wenig genauer«, forschte Frau Bender, »der Jule wird es auch nicht wissen.«

Pommerle setzte eine gelehrte Miene auf, tippte zunächst mit dem Löffel auf den Tortenboden und begann dann ernsthaft: »Beim Triasgestein sind auch immer drei Schichten: die unterste Abteilung ist aus irgendeinem anderen Stein, dann kommt die zweite Schicht, so wie hier die Stachelbeeren, und oben drauf kommt die dritte Schicht, das ist die Schlagsahne. Nicht wahr, Väti, es stimmt so?«

»Bravo, Pommerle, das hast du gut gelernt. Nun merke es dir auch, Jule. Triasformation ist ein zusammengesetztes Gestein, bei dem die unterste Abteilung aus Sandstein, die zweite aus Kalkstein und die dritte –«

»Aus Schlagsahne besteht«, ergänzte eine helle Kinderstimme.

»Nein, Pommerle, aus Mergel.«

»Ach, Väti, bei mir besteht sie aus Schlagsahne. – Ätsch, Jule, ich hab' mehr gewußt als du.«

»Quatsch, ich weiß auch, was Sandstein ist. Ich habe Ihnen doch immer die schönen Steine gebracht, Herr Professor. Sonst hätten Sie die vielen gelehrten Bücher nicht schreiben können. Und wenn Sie jetzt in die Schweiz fahren, so hab' ich das auch gemacht, weil Sie – – durch meine Steine so berühmt wurden.«

»Na, na, Jule! – Dabei weißt du nicht einmal, was Hornblende, was Basalt und Trias ist.«

»Man braucht nicht alles zu wissen, sagt mein Meister. Jeder braucht nur das zu wissen, was zu seinem Fach gehört. Pommerle weiß auch nicht, was ein Furnier, was eine Zarge ist. Dann hat sie keine Ahnung von einem Wasserschenkel oder einer Wasserwaage.«

»Doch, Jule, das weiß ich«, rief Pommerle. »Die alte Frau Kluge hat eine Wasserwaage. Sie wird auch 'nen Wasserschenkel haben. – Nicht wahr, Mutti, sie sagte uns erst gestern, daß ihr ganzes Bein voll Wasser ist.«

»Ach, bist du dumm!« erwiderte Jule lachend, »ich meine doch einen Wasserschenkel.«

»Das meine ich auch«, sagte Pommerle ernsthaft. »Wenn das ganze Bein voll Wasser ist, der Schenkel und die Wade, so ist es eben ein Wasserschenkel.«

Jule sprang vom Stuhl auf, lief ans Fenster und tippte mit dem Finger auf den untersten Rahmen, der die Scheibe hielt. »Hier haste einen Wasserschenkel, und hier«, er kroch unter den Eßtisch, »hier hast du eine Zarge. Mit der Wasserwaage wird genau kontrolliert, ob alles waagerecht ist. – So, nun brauchst du über mich nicht mehr zu lachen. Ich weiß auch was!«

Jule hatte sich wieder auf seinen Stuhl niedergesetzt und führte den Löffel mit einem großen Stück Torte zum Munde. »So, nun hab' ich den Trias verschluckt, nun ist er weg.«

Bender und Frau unterdrückten das Lachen. Solch kleine Differenzen kamen zwischen den beiden Kindern öfters vor. Trotzdem wußten sie von der innigen Freundschaft, die Jule und Pommerle verband. Sie wußten auch, daß dem Tischlerlehrling durch Pommerles Reise in die Schweiz ein großer Schmerz zugefügt wurde, denn Jule war gewohnt, an jedem Sonntag nach der Villa zu kommen; ebenso ging Pommerle allwöchentlich zweimal in die Tischlerei, um mit Sabine und Jule zu plaudern. Das würde nun vier Monate lang unterbleiben.

So überlegte Professor Bender, wie er Jule eine Freude machen könne, damit er den Trennungsschmerz leichter überwinde. Er fragte ihn, ob er einen besonderen Wunsch habe.

»O ja«, sagte Jule mit blitzenden Augen, »sogar einen sehr großen.«

»Wenn ich ihn dir erfüllen kann, wenn er nicht gar zu anspruchsvoll ist, will ich dir gern die Freude machen, damit du Pommerle nicht zu sehr um die Schweizer Reise beneidest.«

Jules graue Augen bekamen einen listigen Ausdruck. »Ich habe Ihnen doch so viele Steine gebracht; wenn Sie die Steine nicht gehabt hätten, würden die Bücher auch nicht sein. Aber die Bücher habe ich niemals von Ihnen geschenkt bekommen.«

»Ich glaube kaum, Jule, daß dich meine Bücher interessieren würden. Du weißt kaum, was Geologie ist, und du weißt, daß ich nur über Steine und Pflanzen schreibe.«

»Ich möchte trotzdem viele von diesen Büchern haben.«

Professor Bender lachte belustigt. »Komm mal her an meinen Bücherschrank und lies die Titel. Es wird dir dann gleich klar werden, daß solche Bücher für dich zu gelehrt sind, Jule. Wenn du aber gern liest, will ich dir vor unserer Reise zwei Bücher, die für dich passen, besorgen.«

»Nein, Herr Professor, ich will keine anderen Bücher. Ich möchte einige von diesen hier.«

Bender schlug eines seiner Bücher auf und legte es vor Jule nieder. »Wenn du auch nur eine Seite daraus verstehst, Jule, will ich dir gern ein solches Buch schenken.«

Da begann Jule zu lesen. Er begriff natürlich nicht, was da stand, sagte aber trotzig: »Ich möchte doch einige dieser Bücher haben.«

»So gib ihm einige«, flüsterte Frau Bender dem Galten zu. »Er wird sie als Andenken gut verwahren. Er will seinen Bekannten sagen, daß er für dich Steine und Pflanzen suchte.«

»Nun gut, Jule«, sagte der Professor nachsichtig, »welches Buch möchtest du haben?«

»Dieses – und dieses – und dieses. Und dieses hier auch. – Und das mit dem grünen Deckel auch.« Jule hatte die dicksten Bücher bezeichnet.

»Nein, mein Junge, das geht nicht. Was willst du mit dem dritten Band meiner Gesteinsbildung? Hier, nimm dieses und dieses.«

»Und noch zwei! Wenn Sie vier Monate fort sind, Herr Professor, muß ich für jeden Monat ein Buch haben. Das ist wahrhaftig nicht viel. Ich habe Ihnen die Steine doch gesucht, und im Sommer bringe ich Ihnen wieder welche.«

Bender wählte noch zwei Bücher aus, doch Jule wies das eine zurück, da es nicht gebunden war. »Ich muß eins mit einem festen Deckel haben. Für solch ein Buch bekommt man – –« Jäh verstummte er. »Ein gebundenes Buch ist mir lieber.«

Obwohl sich Bender über die Wünsche seines Mündels wunderte, erfüllte er Jules Bitten, nahm sich jedoch vor, dem Tischlerlehrling schon morgen aus der Buchhandlung von Kalks zwei andere Bücher zu kaufen, denn Jule hatte anscheinend Freude am Lesen.

Am späten Nachmittag, als der Professor nicht im Zimmer war, wandte sich Jule fragend an Frau Bender. »Kriegt der Professor viel Geld für solch ein Buch?«

»Das ist ganz verschieden. Manches Buch bringt ihm viel ein, ein anderes weniger. Das kleine blaue, das dir dein Vormund schenkte, hat schon über viertausend Mark eingebracht.«

»So ein Buch – –?«

»Jawohl, Jule.«

»Und das schenkt er mir?«

»Du hast es doch haben wollen.«

»Und was kostet das hier?«

»Vier Mark.«

»Zu komisch«, sagte Jule. Er ahnte ja nicht, daß erst durch den Verkauf vieler Bücher für Professor Bender die Summe von viertausend Mark herauskam, das einzelne Buch aber vier Mark oder mehr kostete. Jule, in seiner Einfalt, der gar nichts vom Buchwesen verstand, hoffte, daß auch ihm der Buchhändler eine stattliche Summe für das kleine blaue Buch auszahlen werde. Morgen abend, sogleich nach Feierabend, wollte er Buchhändler Kalks aufsuchen und ihm die vier Bücher verkaufen.

Am Abend, als er sich verabschiedete, drückte er Pommerles Hand besonders heftig. »Wir fahren zusammen nach der Ostsee. Wir können auch die Sabine und die Meisterin mitnehmen, denn ich habe furchtbar viel Geld.«

»Ich soll doch nach der Schweiz mitfahren.«

»Vorher fährst du mit mir an die Ostsee. Ich bitte den Meister um Urlaub, dann fahren wir! – Du wirst dich sehr freuen, in Neuendorf alle Freundinnen und Bekannten wiederzusehen.«

»Erlaubt es die Mutti?«

»Wenn ich soviel Geld habe, wird sie es schon erlauben.«

»Wieviel Geld hast du denn, Jule?«

»Ich weiß es noch nicht genau; ich denke, ein paar tausend Mark sind es und achtundvierzig Mark dazu.«

Pommerle staunte den Freund ungläubig an. Dann lachte das Kind hell auf. »Ach, Jule, das glaube ich dir nicht! Du denkst wieder, der Rübezahl wird dir Geld bringen. – Das hat dir wohl das Traumbuch gesagt, oder – du willst wieder in den Hausberg zum Kilian. Der macht dir den Sagenberg doch nicht auf!«

»Ach Quatsch! Ich habe das Geld. – Schon morgen Abend.«

»Vom Rübezahl?«

»Nein, vom Kalks«, rief Jule. »Nun aber Lebewohl, ich muß fort!«

Pommerle schaute nachdenklich hinterdrein. An Buchhändler Kalks dachte es im Augenblick nicht, nur an die Kalkgrube in der Nähe. Daß der Jule soviel Geld haben sollte, um mit ihr, Sabine und der Meisterin nach Neuendorf zu fahren, war höchst verwunderlich. Ob der gute Berggeist Rübezahl wohl doch seine Hand mit im Spiele hatte? Diese Gedanken bewegten Pommerle noch, als es schon im Bett lag.


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