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Sehnsucht und »Sensucht«

Pommerles großer Wunsch war in Erfüllung gegangen, Professor Bender mit seinem Töchterchen hinauf zum Rigi gefahren. Frau Bender fühlte sich dieser Tagespartie nicht gewachsen, sie blieb daheim. Pommerle meinte zwar, sie wolle auf die Mutti gut aufpassen und ihr Wege zeigen, wo sie nicht über Steine zu springen brauche, die Mutter lehnte aber trotzdem ab und wünschte dem Kinde einen recht vergnügten Tag.

So ging es mit der Rigi-Bahn aufwärts. An Felswänden schlängelte sich die Bahn entlang; Pommerle konnte darüber nicht genug staunen. Wie war es möglich, daß eine Eisenbahn so hoch hinaufkriechen konnte? Man kam an die Station Kaltbad, fuhr weiter nach Station Staffel, um schließlich bei der Station Kulm auszusteigen.

»Wir sind nun achtzehnhundert Meter hoch«, sagte Professor Bender. »Von hier aus haben wir heute eine besonders schöne Aussicht. Bei solch klarem Wetter hast du einen weiten Rundblick, mein Kind.«

»Kein Baum ist hier oben, Väti. Überall nur Steine und Gras. Genau wie auf der Schneekoppe.«

Bender führte sein Töchterchen auf dem Gipfel umher. Man sah die Berner, die Unterwalder und Urner Alpen; man konnte den Vierwaldstätter See und eine Reihe anderer Seen erblicken. Der Professor wies nach Nordosten.

»Was du dort ganz hinten siehst, ist der Schwarzwald, ist Deutschland.«

Lange blieb Pommerle stehen und schaute unentwegt auf die in der Ferne liegenden Hügel. Das war sein geliebtes Deutschland. Oh, die Schweiz war wunderschön, aber in Pommerle kam die Stimme nicht zur Ruhe, die sagte: die Heimat ist das Schönste, nach der Heimat zieht es mich hin.

»Komm, mein Kind, wir gehen weiter!«

»Bleib noch ein bißchen, Väti. Ich muß immerzu den deutschen Schwarzwald ansehen.«

»Du möchtest wohl lieber zurück nach Deutschland?«

»Ich weiß nicht«, sagte die Kleine nachdenklich. »Hier sind die Leute ganz anders als daheim. Auch mit den Kindern kann ich nicht spielen, wie ich möchte. Ich kann sie nur manchmal verstehen. Weißt du, Väti, die Berge sind zu hoch. Wenn ich groß sein würde, so groß wie du, wäre es wohl nicht so schlimm; aber für so ein kleines Kind wie ich ist es ein bißchen gruselig.«

»Aber Pommerle, die Schweiz ist doch ein wunderschönes Land, die Sehnsucht vieler Reisenden.«

»Wunderschön, Väti! Ich bin wirklich gern hier. Aber Hirschberg ist auch schön und gar die liebe Ostsee. Nur – wenn die Hirschberger Kinder sprechen, klingt das viel schöner, als wenn die Vitznauer Kinder reden. Ischt dasch nicht scho?«

Bender lachte. Sein kleines aufgewecktes Töchterchen bemühte sich, den Schweizer Dialekt nachzuahmen. Es gelang natürlich nicht.

Pommerle empfand immerhin den heutigen Tag als etwas Schönes und Außergewöhnliches. Der Vater ging mit ihr hinauf zum Plateau, auf dem die verschiedensten Alpenblumen gepflanzt waren, und gab Erklärungen. Mit höchster Aufmerksamkeit betrachtete die Kleine die Blümchen.

»Abpflücken darf man sie wohl nicht, Väti? Ich hätte gern der Mutti welche mitgebracht. – Ach, Väti, guck mal, was ist das dort drüben?«

»Das wird mein kleines Mädchen nicht verstehen. Das ist eine meteorologische Station.«

Pommerle lachte hell auf. »Was ist denn das? Was machen sie da?«

»Sie messen die Luft, forschen nach, wieviel Kälte, wieviel Wasser und wieviel Wärme in ihr enthalten ist. Das Ergebnis melden sie an die Städte unten im Tal.«

Pommerle klatschte in die Hände. »Was die Leute hier alles machen! – Machen Sie das nur in der Schweiz?«

»Nein, Pommerle, in jedem Lande. Auch auf der Schneekoppe gibt es solch eine Station.«

Die Kleine atmete erleichtert auf. »Na, Väti, dann ist's ja gut, daß wir auch Luft messen können. – Weißt du, es hätte uns doch traurig gemacht, wenn sie nur hier oben – auf dem Rigi – messen würden, wo wir doch zu Hause auch so hohe Berge haben.«

Die vielen schneebedeckten Berge lösten in Pommerle die größte Verwunderung aus. Es war doch so heiß; trotzdem behielten die Berge ihre Schneemützen auf. Professor Bender sagte sogar, diese Berge blieben immer mit Schnee bedeckt, auch wenn durch Monate die Sonne auf sie niederbrenne.

»Väti – wo liegt nu' die Schneekoppe? Welcher Berg von den vielen ist die Schneekoppe?«

»Die Schneekoppe kannst du von hier nicht sehen. Bedenke doch, wie weit entfernt sie ist, wie lange wir mit der Eisenbahn fuhren, um hierherzukommen.«

»Dann ist der Rigi eben nicht hoch genug, Väti, wenn man die Schneekoppe nicht sehen kann. Wir wollen auf einen noch höheren Berg kriechen, damit wir die ganze Welt und die liebe Schneekoppe sehen können. Der Mann unten in der Halle hat mir gesagt, die Jungfrau sei viel höher als der Rigi. Von dort aus kann man sehr weit sehen.«

»Wenn du groß bist und dir der liebe Gott die Gesundheit erhält, wirst du vielleicht auch einmal hinauf zur Jungfrau kommen. In diesem Jahr begnüge dich mit all dem Schönen, das du hier siehst.«

»Ja, Väti, ich begnüge mich gern. – Aber schade, daß man die Schneekoppe nicht sieht. Das muß der Jule wissen. Na, der lacht den Berg aus!«

Es war für Pommerle ganz selbstverständlich, daß der Vater hier und da einen Stein aufhob und genau betrachtete. Auch sie schaute die Steine an, doch war nichts Sonderbares daran zu sehen.

»Wenn der Jule hier wäre, der stopfte den ganzen Rucksack dick voll und verkaufte dir dann die Steine. – Ach, Väti, wenn wir mal wieder eine Reise machen, nehmen wir den Jule mit. Dann ist es noch viel schöner.«

Am zeitigen Nachmittag brachen die beiden zu Fuß auf, um zur Staffelhöhe hinabzusteigen. Es war ein reizvoller Weg, der herrliche Aussichten bot. Im Gasthaus angekommen, nahmen Bender und Tochter den Nachmittagskaffee.

»Wollen wir auf den Zug warten oder bis Vitznau hinablaufen? Wir haben bei Kaltbad eine wunderschöne Alm; dort kannst du dir die weidenden Kühe ansehen. Das wird dir viel Spaß machen! Es sind viele hundert Stück dort.«

»Komm rasch, Väti, wir gehen zur Alm!«

Nach einstündiger Wanderung war die Alm erreicht. Pommerle staunte über die gewaltige Rinderherde. Braunweiß gefleckte, hellbraune und hellgraue Kühe weideten; einige kamen neugierig auf das kleine Mädchen zu. Pommerle, das vor Kühen keine Furcht hatte, kraute die stattlichen Tiere am Halse und jubelte auf, wenn die Kühe lautes Muuuuh-Muuuuh ertönen ließen.

Schließlich mußte Bender zum Weitergehen drängen. »Komm, mein Kleines, die Mutti wartet.« –

Dann war man wieder daheim. Pommerle hatte unendlich viel zu erzählen. Selbst im Speisesaal, beim Abendessen, blieb der kleine Mund nicht stillstehen.

»Mutti, alles war furchtbar schön; aber daß ich vom Rigi die Schneekoppe nicht sehen konnte, hat mir gar nicht gefallen!«

Noch vor dem Einschlafen dachte Pommerle mit heißer Sehnsucht an den Hirschberger Freund, den Jule. Morgen wollte sie ihm wieder einen langen Brief schreiben. Der Jule mußte alles wissen, was seine Freundin in dem schönen, aber seltsamen Lande erlebte.

Am nächsten Tage wurde Pommerle eine neue große Freude zuteil. Von Jule kam ein Brief. Der Umschlag zeigte einen großen Tintenfleck, der Ortsname Vitznau war erst einmal durchgestrichen und dann, anscheinend von der Hand der Meisterin, neu niedergeschrieben worden.

Pommerle drückte das ungeöffnete Schreiben des Freundes ans Herz. »Mutti, der Jule hat soviel mit der Tischlerei zu tun; trotzdem schreibt er mir. – Mutti, der Jule ist doch mein aller-allerliebster Freund!«

Die drei großen Briefblätter, die Pommerle dem Umschlag entnahm, wiesen noch manchen Tintenfleck auf. Sie waren auch reichlich zerknittert; doch das alles sah das Kind nicht. Seine Augen strahlten, als es Jules Brief zu lesen begann.

Am nächsten Tage wurde Pommerle eine große Freude zuteil. Von Jule kam ein Brief.

»Liebes Pommerle! Gestern hab ich den Tisch für den Appotheker fertiggemacht. Er war sehr schön. Die Sabine will, daß du auch balt heim kommst. Kühe haben wir hier auch. Gestern bin ich mit ihr spatzieren gegangen. Sie hat sich nicht füren lassen. Die Sabine muß jetzt allein gen, weil du nicht da bist. Sie hat große Sensucht nach dir. Die Meisterin hat auch große Sensucht nach dir, und ich habe auch In Jules Brief waren die geklammerten Worte und Sätze durchstrichen. [große Sensucht] einen Spatziergang gemacht. Ich bin vor Eure Willa gegangen. Niemand hab ich gesen. Du bist ja in der [Schfeiz Schweitz] Schfeiz. Ich habe neulich ein Bein abgebrochen, da hat der Meister geschümft. Komm doch bald nach Hause, es ist schreklich, ohne dich. Ich mach dir einen kleinen Stuhl zum Sitzen, vür dich. Wenn du aber nicht bald kommst, krikt ihn Appothekers Else. Die ist sehr lieb zu mir. Es ist Kwatsch, daß eine Kuh ans Horn Blumen krikt, das läßt sie sich nicht gefalen und die Kühe in der Schfeiz sind auch nicht andersh, als die hier. Wenn du bald kommst, mache ich dir noch einen kleinen Tisch. Zum Tell brauchst du auch nicht. Ich schänk dir Tell [Tschogolate] Schocklade. Was willst du in der Schfeiz, wenn du die Leute nicht fastehst? Manchmal ist es kalt hier. Ich werde mich noch erkelten. Du bist nicht da, du sakst mir nicht, wenn ich den Mantel anzien muß. Ich krik Krippe und das ist dir ganz recht, weil du aus der Schfeiz nicht zuickkommst. Fir den Professor hab' ich einen wunderscheenen Stein, den krikt er aber nur, wenn er bald kommt. Mir ist so [traurich, weil du nicht hier] – ich bin garnicht traurich, ich hab jetz Appothekers Else oft hier. Mit der rede ich gern, weil du nicht da bist. Sie sakt auch, man brauch in ein anderes Lant nicht zu fahen. Hier ist es fiel scheener. Komm, sonst krikt sie den Stuhl. So ein scheener Stuhl! Manchmal ist mir, wenn ich an deiner Willa steh, als mißt ich [weinen] spatzierengehen, noch weiter, zum Rübezahl. Von dem hab ich geträumt, daß er dir ganß böse ist. Komm bald wider aus der Schfeiz! In [Fiznau] Witznau ist auch nichts loß. Jetzt muß ich wieder schufften. Es grießt dich tausendmal und hat große Sensucht nach dir dein

Jule

Eben sagt die Sabine, ich soll den Herrn Professor und seine Frau grießen lassen. Und die Sabine und der Meister grießt auch. Und die Meisterin grießt auch. – Nu komm bald, sonst krikt Appothekers Else den Stuhl. So ein scheener Stuhl.«

Den Schluß des Briefes bildete ein Tintenklecks, den Jule anscheinend mit dem Finger fortwischen wollte, denn er war über die letzten fünf Zeilen verschmiert.

Pommerle lief mit dem Brief zu den Eltern. »Der Jule hat so lieb geschrieben! Alle lassen euch grüßen. – Mutti, willst du den Brief sehen, soll ich ihn dir vorlesen?«

Frau Bender warf einen prüfenden Blick auf das Schreiben. »Sehr sauber sieht der Brief nicht aus. – O weh, da sehe ich auch so manchen Schreibfehler.«

»Ach, Mutti«, entschuldigte das Kind, »er hat doch sowenig Zeit. Wenn er immerfort den schweren Hobel in den Händen hält, kann er doch nicht schön schreiben. Aber der Jule hat so lieb geschrieben. Denke, er macht mir einen Stuhl. Ach, das wird ein schöner Stuhl sein. Wenn ich bald heimkomme, kriege ich den Stuhl, und wenn ich nicht bald komme, kriegt ihn die Else.«

Frau Bender nahm Jules Brief zur Hand und las ihn kopfschüttelnd.

»Der Jule ist jetzt siebzehn Jahre alt geworden, er besucht die Fortbildungsschule, und macht fast in jeder Zeile einen Fehler.«

»Ach, Mutti, die Fehler seh' ich nicht. Ich weiß schon, was er meint. – Und einen kleinen Tisch will er auch machen. – Mutti, der Jule hat Sehnsucht, und ich – – habe auch Sehnsucht nach ihm. – Ist deine Lungenspitze bald wieder gut?«

»Aber Pommerle! Du bist in solch einer herrlichen Gegend –«

»Ja, Mutti, es ist herrlich, und ich freue mich auch über die Gegend, aber – weißt du, wir sind mal über den Kochelfall hinauf zur alten schlesischen Baude gegangen. Ach, das war schön! – Und dann hab' ich die rote Sonne in Neuendorf ins Wasser fallen sehen, sehr oft. Dann wurde das blaue Wasser ganz rot, und der Himmel wurde rot. Es sah aus wie ein großes Feuer am Himmel. – Ach, Mutti, das war wunderschön!«

Frau Bender strich zärtlich über das Blondhaar ihres Töchterchens. »Dir geht die Heimat über alles, mein liebes Kleinchen. Du wirst sie im September wiedersehen.«

»Ach, das ist noch sehr lange! – Dann hat der Jule den schönen Stuhl gewiß schon an die Else verschenkt. Wenn der Jule im September Geselle wird und wir sind nicht in Hirschberg – ach, Mutti, das wäre schrecklich!«

»Der Jule macht die Gesellenprüfung erst zu Ostern des nächsten Jahres.«

»Aber den kleinen Stuhl hat er gewiß fertig.«

Frau Bender lenkte ab: »In der nächsten Woche fahren wir alle drei nach Küßnacht, zur Hohlen Gasse und nach der Tells-Kapelle. Auch nach Altdorf, zum Tell-Denkmal, wollen wir einmal fahren. Ein deutsches Mädchen, das in der Schweiz gewesen ist, muß all diese Stätten kennen.«

»Na, dann ist's gut. Ich will dem Jule schreiben, daß er den Stuhl ja nicht fortschenken soll. – Mutti, ich schreibe ihm gleich.«

Pommerles Brief wies lange nicht so viele Fehler auf, wie der des Jule. Sie lachte den Freund sogar aus, weil er das Wort Schweiz nicht richtig schreiben konnte. Sie füllte mit dem Bericht vom Ausflug zum Rigi vier große Seiten. Frau Bender schrieb auch einige Zeilen unter den Brief, dann trug Pommerle ihn hinunter zum Kasten, der am Bahnhofsgebäude angebracht war. –

Obwohl in Pommerle die Sehnsucht nach der Heimat immer wieder durchbrach, freute sie sich doch an dem vielen Neuen und Schönen, das ihr das Schweizer Land bot. Langsam ging dem Kinde der Sinn für die gewaltigen Naturschönheiten auf. Saß es am Nachmittag mit einem Schulbuch auf einer Bank am See, wanderte es mit den Eltern auf schattigen Waldwegen – immer überkam es ein beglückendes Gefühl des Friedens, des Geborgenseins. Mitunter blitzte freilich der Schalk in den Blauaugen.

»Jetzt bin ich ein bißchen müde. Wäre der Jule hier, würde er mir den selbstgemachten Stuhl bringen. Aber auf dem sitzt wohl schon die Else vom Apotheker.«

Eines Sonnabends kam der Vater aus Zürich und teilte seinem Töchterchen mit, daß man morgen mit dem Auto nach Küßnacht fahren werde, um zur Hohlen Gasse und zu der am Wege erbauten kleinen Kapelle zu gehen.

Pommerle jubelte: »Ich weiß jetzt alles ganz genau vom Wilhelm Tell. Ich weiß, daß er an der Tellsplatte aus dem Kahn 'rausgesprungen ist und sich gerettet hat vor dem bösen Landgrafen Geßler.«

»Jawohl, mein Kleines, nach der Tellsplatte werden wir auch einmal fahren. Doch morgen geht es erst nach Küßnacht.«

Frau Bender beteiligte sich diesmal an dem Ausflug. Man fuhr am Vierwaldstätter See dahin, bis Küßnacht nach einstündiger Fahrt erreicht war. Auch dieser Ort lag malerisch am Ufer.

»Wo ist denn die Hohle Gasse? Ist sie das hier?« Pommerle wies auf die schmale Straße, die man durchschritt.

»O nein, wir müssen noch eine halbe Stunde laufen.«

Durch weite Felder ging es langsam bergan; schließlich kam man zu einem tiefen, bewaldeten Einschnitt, der Hohlen Gasse. Nur ein kurzer Weg mit leichter Krümmung, an dessen oberem Ende eine kleine Kapelle stand.

»So, Pommerle, dieses kurze Wegstück nennt man die Hohle Gasse. Die Schweizer hegen diese Straße gar liebevoll, weil sie ein teures Andenken an die Befreiung ihres Landes darstellt.«

Das Kind schaute an den niedrigen Hängen empor. »Wo mag der wohl gesessen haben, der Tell? – Schau, Väti, hier sind viele Wacholderbüsche. Kannst du mir nicht ganz genau sagen, wo er gelauert hat?«

»Man meint, dort, wo die Kapelle steht.«

»Na, ich hätte mich lieber dort oben hingesetzt. – Ob er wirklich an der Kapelle gesessen hat, Väti? Ich finde, es ist schaurig in der Hohlen Gasse mit den hohen Bäumen. So duster – und eben war es noch hell.«

Obwohl das Kind sich unter der Hohlen Gasse ganz etwas anderes gedacht hatte, stellte es fest, daß es doch schön hier sei und Wilhelm Tell sich einen richtigen Platz ausgesucht habe. Man ging in die kleine Kapelle hinein und besah die beiden Bilder: Geßlers Tod und Tells Tod.

»Schön, sehr schön«, meinte Pommerle. »Das muß ich dem Jule auch schreiben.«

Sie durfte eine Ansichtskarte kaufen, die noch an Ort und Stelle an den Freund geschrieben wurde.

»Was ist denn das für ein großes Haus neben der Kapelle?«

»Ein Missionshaus. Es führt den Namen Bethlehem. Drinnen ist eine der bedeutendsten Handwerkerschulen der ganzen Schweiz.«

»Das wäre was für den Jule.« Und Pommerle schrieb noch rasch auf die Karte: »Sieh zu, daß du hierher in die Handwerkerschule kommst, denn sie liegt schaurig an der Hohlen Gasse.«

Abends fuhren die drei zurück nach Vitznau, und schon am folgenden Tage bot sich Gelegenheit zu einer Rundfahrt nach der Tellsplatte, nach Altdorf und Göschenen.

»Wenn du deinem Studienrat von Wilhelm Tell erzählen sollst«, meinte der Professor, »so mußt du auch alle die weltberühmten Stätten sehen, die an ihn erinnern.«

In einem großen schönen Gesellschaftsauto fuhr man frühzeitig ab. Pommerles Augen strahlten. Wieder ging es am See entlang, bis der Kurort Brunnen erreicht war. Dort wurde haltgemacht, um einige Besichtigungen vorzunehmen. Bender zeigte dem Töchterchen vor allem den Schillerstein, der sich am jenseitigen Seeufer erhebt.

»Schau, Pommerle, das ist der Mythenstein. Auf ihm haben die dankbaren Schweizer zum Gedächtnis des deutschen Dichters Friedrich von Schiller folgende Worte eingemeißelt: ›Dem Sänger Tells, F. Schiller, die Urkantone 1859‹.«

»Schön«, meinte das Kind, »daß ich immer wieder an mein liebes Deutschland erinnert werde.«

Nach kurzem Aufenthalt ging es weiter, die Axenstraße entlang. Sehr bald hielt der große Wagen wieder an.

»So«, sagte Bender, »jetzt steigen wir hinunter zur Tellsplatte und zur Tellskapelle.«

Alle Insassen des Wagens hatten denselben Weg. Sie besuchten die Tellsplatte und besichtigten die mit vier Wandbildern geschmückte Tellskapelle: den Rütlischwur, den Apfelschuß, Tells Absprung aus dem Kahn nach der Tellsplatte und Geßlers Tod.

»Was habe ich alles zu erzählen«, flüsterte Pommerle. »Ich bin ein glückliches Kind, daß ich soviel Schönes sehe.«

Über Flüelen, ein liebliches Städtchen, fuhr man weiter nach Altdorf. Hier wurde wieder haltgemacht, weil die Reisenden das Tellsdenkmal zu sehen verlangten.

»Hier in Altdorf«, erklärte der Professor, »hat Wilhelm Tell nach dem Apfel, der auf dem Haupt seines Sohnes lag, geschossen. Das Denkmal wurde an jener Stelle errichtet, an der Tell gestanden haben soll.«

»Väti, hat er auch wirklich auf diesem Stückchen gestanden? Kann man das ganz genau wissen?«

Frau Bender lachte. Pommerle hatte recht mit ihren Zweifeln. »Wenn es vielleicht auch nicht ganz genau dort gewesen ist, macht es nichts aus, mein Kleinchen. Sieh dir das schöne Denkmal aufmerksam an, denn wer weiß, ob du in deinem Leben noch einmal hierherkommst.«

Da stand auf hohem Sockel der Wilhelm Tell, die Armbrust über der Schulter, neben ihm der kleine Knabe, der vertrauensvoll zum Vater aufblickt.

»Der sieht aber stark und kräftig aus. So mutig! Dem traut man schon zu, daß er die ganze Schweiz befreit hat.« Und dann las Pommerle die Inschrift: »Erzählen wird man von dem Schützen Tell, solang die Berge steh'n auf ihrem Grunde.«

»Haben wir auch so ein Befreierdenkmal in Deutschland, Väti?«

»Ja, mein Kind. Im Teutoburger Walde steht unser Hermannsdenkmal; ebenso mächtig und kraftvoll wie dieses hier. Und in Leipzig steht das große Völkerschlachtdenkmal, das an harte Kämpfe und glänzenden Sieg erinnert. Ein Riesenbau von überwältigender Schönheit. Weiter am Rhein das strahlende Niederwalddenkmal und noch viele andere mehr. In jüngster Zeit aber, davon hast du auch gehört, baute man das Tannenbergdenkmal für unseren Hindenburg. Eine Erinnerung an den großen Feldherrn, an den prachtvollen Mann, den man Vater des Volkes nennt.«

»Da bin ich froh, Väti! Deutschland soll immer genau so schöne Sachen haben, wie ich sie hier sehe.«

In dieser Stunde nahmen sich Benders vor, künftig Ferienreisen, die mit Pommerle ausgeführt werden sollten, nur im deutschen Vaterland zu unternehmen, weil ihr kleines Mädchen mit allen Fasern seines Herzens deutsch war, deutsch dachte und deutsch fühlte. Warum sollten sie ihm nicht zuerst die Schönheiten des Vaterlandes zeigen?

»Wir kommen nun bald nach Göschenen, dort wirst du den Eingang zum Sankt-Gotthardtunnel sehen. Der Sankt Gotthard ist ein gewaltiger Gebirgsstock, den man durchstochen hat, um mit der Eisenbahn recht schnell von der Schweiz nach Italien zu kommen. Vom Sankt Gotthard hast du doch schon gehört, Pommerle?«

»O ja, Väti – da entspringt doch der liebe deutsche Rhein. Sehen wir, wo er entspringt?«

»Nein, mein Kind, da müßten wir hoch hinaufsteigen; dazu haben wir keine Zeit.«

Dann war Göschenen als fernstes Ziel der heutigen Rundfahrt erreicht. Pommerle stand an der Fahrstraße oberhalb des Bahnhofs und schaute über das Geländer hinunter auf die Geleise. Drüben rechts sah man die weite schwarze Öffnung, den Eingang zum Tunnel. Dreizehn Minuten, hatte der Vater gesagt, brauche der Zug, um auf der italienischen Seite wieder herauszukommen. Neun Jahre waren erforderlich gewesen, um den Tunnel fertigzustellen. Deutsche, Österreicher und Schweizer hatten gemeinsam daran gearbeitet.

Plötzlich schrie Pommerle laut auf. Ein langer Zug brauste aus der Tunnelöffnung heraus.

»Väti – Väti – – ein richtiger Gotthardzug kommt aus Italien herüber! Sieh mal! – Nein, wie schön, daß wir gerade einen sehen!«

Die Kleine wollte gar nicht von der Stelle, wollte gar zu gern auch einen Zug in den Tunnel verschwinden sehen. Doch der Vater mahnte zum Aufbruch.

»Gehen wir jetzt zum Rhein, Väti?«

»Ich sagte dir doch schon, das ist viel zu weit.«

»Wenn hier aber doch der Gotthardtunnel ist – –«

»Ganz recht, Pommerle, ich sprach vorhin schon von einem ganzen Gebirgsstock, der Gotthard heißt. Darunter versteht man eine Berggruppe mit vielen einzelnen Spitzen. Das hier ist nur ihr Fuß. Der Berg auf dem unser Rhein entspringt, heißt der Badus.«

Da begann das kleine Mädchen plötzlich zu singen: »O du wunderschöner deutscher Rhein, du sollst immer Deutschlands Zierde sein.«

Die Reiseteilnehmer lächelten. »Wo kommst du denn her?« fragte freundlich ein Herr.

Da sagte Pommerle innig: »Ich wohne in Hirschberg, das liegt im Riesengebirge, und ich bin aus Deutschland. Dort ist es so schön, und da sind auch hohe Berge. Früher war ich an der lieben Ostsee. Da ist Wasser, so weit man sieht. Geht aber die Sonne unter, so fällt sie ins Wasser und macht es rot. Auch bei uns in Deutschland sind viele Denkmäler von berühmten Leuten, und Eisenbahnen, die an den Bergen hinaufklettern. Es ist sehr schön in der Schweiz, aber in Deutschland gefällt es mir doch noch besser.«

Zärtlich strich der Fremde über die Wange des Kindes. »So ist es recht, du kleine Deutsche. Deine Worte haben mir gefallen.«

In Göschenen wurde auch zu Mittag gegessen, ein wenig später, als Benders sonst zu essen pflegten. So hatte Pommerle großen Hunger, und es schmeckte ihr vortrefflich. Dennoch beeilte sie sich, fertig zu werden, und bat, noch einmal zum Gotthardtunnel gehen zu dürfen.

»Können wir nicht so lange stehenbleiben, bis wieder ein Zug kommt? Ach, bitte, bitte! Von dem Tunnel muß ich auch dem Jule schreiben. Er wird wieder nicht glauben, daß die Eisenbahn durch den Berg fahren kann.« –

Nach Vitznau zurückgekehrt, war Pommerle merkwürdig schweigsam. Auch beim Abendessen redete sie kaum ein Wort.

»Warum heute so still, Kleinchen?« fragte Frau Bender.

»Ach, Mutti, in mir ist so viel Neues, daß ich gar nicht weiß, was ich zuerst sagen soll. Aber morgen erzähle ich euch davon.«

Dann wurden die sonst so strahlenden Augen des Kindes matt, und plötzlich fiel sein Köpfchen auf der Mutter Arm. Pommerle war so ermüdet, daß es an diesem Abend nicht wußte, daß es von der Mutter entkleidet und zu Bett gebracht wurde.


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