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Almenrausch und Edelweiß

»Mein liebes Pommerle, dir fehlt etwas. Ich beobachte dich seit Tagen. Deine Augen sind manchmal trübe. Sage der Mutti, was dich quält.«

Pommerle schaute mit seinen großen blauen Augen vertrauensvoll zur Mutter auf. »Ich habe jeden Tag darüber nachgedacht, Mutti, daß ich ein garstiges Mädchen bin.«

»Das finde ich nicht, mein Kleinchen. Du bist immer sehr lieb zur Mutti. Du sorgst für mich, bringst mir Blümchen und willst mir jeden Tag eine neue Freude machen.«

»Aber es ist noch was anderes, Mutti. Ich bin sehr traurig darüber, daß mein Herz so schlimm ist.«

»Nun erzähle mir einmal ganz offen, warum dein Herzchen schlimm ist.«

»Es gibt viele tausend Kinder, die alle kein Geld haben, um in die schöne Welt zu fahren. Ich aber bin ein Kind, das sogar nach der Schweiz darf. Ich kann auf der Bergbahn fahren, an dem berühmten Vierwaldstätter See sitzen, Schnee- und Steinberge sehen und hab' doch oft nicht die rechte Freude dran.«

»Warum denn nicht, Pommerle?«

»Bald sind die großen Ferien vorbei, die Schule fängt wieder an, und ich bin noch immer hier. Der Jule wird schon viele Möbel fertiggemacht haben – und ich kann sie nicht sehen.«

»Du hast also Sehnsucht nach der Schule?«

»Auch ein bißchen, aber nicht viel. Nur den Jule, die Sabine und die schlesischen Berge möchte ich endlich wiedersehen. Ich möchte auch meinen vielen Freundinnen alles erzählen, was hier gewesen ist. – Ich weiß, liebe Mutti, du mußt jeden Tag für mich viel Geld bezahlen und ich müßte dafür froh und dankbar sein, aber – ich möchte doch so gern nach Hause.«

»Im nächsten Monat, mein Kleinchen.«

»Im nächsten Monat? Gott sei Dank, Mutti! Aber ich kann jetzt auch noch nicht nach Hause. – Ich habe noch eine große Pflicht zu erfüllen.«

»So?«

»Der Jule muß noch sein Edelweiß haben. – Almenrausch, Enzian und Edelweiß, wie es in dem schönen Liede heißt, das auf der Grammophonplatte steht. – Mutti, der Jule ist ein schrecklicher Junge! In jedem Briefe frage ich ihn, ob er das Lied vom Almenrausch schon auswendig kann, aber er gibt niemals Antwort. Ich denke, er wird es bei der Arbeit immerfort singen.«

»Das ist schon möglich.«

»Und darum will ich ihm Almenrausch und Edelweiß mitbringen. Die schönen blauen Enzianblümchen hab' ich ihm schon oft im Brief geschickt. Also Enzian hat er; jetzt muß er noch Almenrausch, Edelweiß und Schweizerkäse bekommen.«

»Du hast doch schon öfters hübsche Alpenrosen bekommen, mein kleines Pommerle?«

»Nu ja, Mutti. Aber nicht selber gepflückt. Alpenrose ist ein hübscher Name, Almenrausch klingt schöner. Am schönsten aber klingt Edelweiß. Warum heißt das Blümchen Edelweiß?«

»Es gibt da ein sehr hübsches Märchen.«

»Ach, Mutti, erzähle mir ganz schnell das Märchen vom Edelweiß.«

Pommerle sprang auf den Schoß der Mutter, legte beide Arme um deren Hals, und lauschte. Frau Bender begann:

»Es lebte einmal hoch oben in den Bergen eine wunderschöne junge Sennerin. Eines Tages, als sie wieder einmal zwischen dem Gestein umherstieg, hörte sie lautes Stöhnen. Rasch ging sie näher und sah einen Burschen, der hatte das Gesicht stark zerschlagen und blutete sehr. Sein Taschentuch war schon rot mit Blut getränkt, und es bestand die Gefahr, daß der Abgestürzte verbluten werde.«

»Schrecklich«, flüsterte das Kind.

»Die Sennerin rief nach Hilfe. Ihr Rufen war vergeblich. Wenn der arme junge Mann nicht sterben sollte, mußten seine Wunden verbunden werden. Leider hatte sie kein Verbandzeug bei sich. Die derbe Schürze konnte sie nicht nehmen, die hätte dem Verwundeten nur geschadet.«

»Da hat sie aber klug gedacht. – Wenn man blutet, muß man immer ein Stück saubere weiße Leinwand nehmen.«

»Das hat die Sennerin auch getan. Sie zog kurz entschlossen ihr weißes Blusenhemdchen aus, riß es in Streifen und verband damit den Bewußtlosen. Da hörte das Blut langsam auf zu rinnen. Die Sennerin hielt den Kopf des Verunglückten in ihrem Schoß und wagte nicht, sich zu rühren, obgleich kalter Nebel über die Berge gezogen kam. – Als der junge Mann endlich aus der Bewußtlosigkeit erwachte, fühlte er sich kräftig genug, um mit der Sennerin nach der Sennhütte zu gehen. Die zitterte vor Kälte, obwohl sie die grobe Schürze über die Schultern gebunden hatte, weil sie ihr Blusenhemdchen ja hergegeben hatte.«

»Mutti, hatte sie denn in der Hütte kein Tuch, in das sie sich einwickeln konnte?«

»Das weiß ich nicht, Pommerle. Drei Tage blieb der Verwundete in der Sennhütte, dann fühlte er sich kräftig genug, um ins Tal abzusteigen. Beim Fortgehen sagte er der Sennerin, er werde sie in sein Schloß holen, sie solle seine Frau werden, weil sie ihm das Leben gerettet habe.«

»Erst dann hat sie gewußt, daß es ein reicher und feiner Mann war, der sogar ein Schloß besaß?«

»Ja, das hat sie erst bei seinem Abschied erfahren. – Wieder nach drei Tagen kam der reiche junge Mann mit anderen Leuten zurück nach der Sennhütte. Und weil ihm die Sennerin damals ihr weißes Hemdchen gegeben hatte, brachte der junge Mann ein prachtvolles weißes Samtkleid für sie mit. Das sollte sie bei der Verlobung tragen.«

»Mutti, weißer Samt!« Das Kind staunte.

»Doch die Leute kamen zu spät. Die junge Sennerin hatte sich bei ihrem Liebeswerk erkältet und war an diesem Morgen gestorben. Als die Leute die Hütte betraten, lag sie mit geschlossenen Augen, bleich und kalt, allein und verlassen, auf ihrem Lager. Da weinten alle. Man zog ihr das weiße Samtkleid an. Da sah die Sennerin aus wie eine seltene und schöne Blume. – An derselben Stelle, wo die Sennerin den Verunglückten gefunden hatte, wurde sie in dem weißen Samtkleid begraben. Und als im nächsten Jahr der junge reiche Mann die Grabstätte besuchte, sah er viele weiße Samtblümchen zwischen den Steinen, die man auf das Grab gelegt hatte, hervorschauen. Blümchen, deren Kleid aus edlem weißem Samt gefertigt war.«

»Mutti, ist das schön«, rief Pommerle, das atemlos lauschte.

Frau Bender aber fuhr fort: »›Du edles Mädchen‹, sagte der junge Mann voll Trauer, ›der liebe Gott hat dir ein Denkmal gesetzt! Dein weißes Hemdchen gabst du aus Edelmut für mich, ich aber konnte nichts anderes mehr für dich tun, als dir ein Sterbekleid aus Samt schenken. Nun sprossen aus deinem Grabe die edlen weißen Blüten hervor.‹ – Seit dieser Zeit nennen die Menschen jenes seltsame Blümchen, das hoch oben zwischen den Felsen wächst, ›Edelweiß‹.«

»Mutti, ich muß ein Edelweiß haben! Ich will es dem Jule mitbringen. – Mutti, ich würde auch mein Hemdchen zerreißen, wenn sich der Jule blutig geschlagen und ich gerade ein schmutziges Taschentuch bei mir hätte. – Ach, Mutti, immerfort schon möchte ich ein Edelweiß haben und bekomme keins, weil es so hoch in den Bergen wächst. Und ich habe dem Jule doch geschrieben, daß er Almenrausch und Edelweiß kriegt. – Siehst du, Mutti, das ist eine Pflicht, die muß ich noch erfüllen.«

»Und deswegen hast du so traurige Augen, Pommerle?«

»Ich möchte halt mal so gern ganz hoch hinauf; noch höher als auf den Rigi!«

»Um Edelweiß zu suchen?«

»Um – – ach, Mutti, um auch die Schneekoppe zu sehen. Vom Rigi haben wir sie nicht gesehen. Und bis an die liebe Ostsee kann man schon gar nicht sehn. – Wenn ich ganz, ganz hoch oben, dort drüben, auf dem allerhöchsten Berge wäre – könnte ich vielleicht doch die Schneekoppe sehen. Wir müßten an einem Sonntag hinaufgehen, denn – an einem Sonntag geht der Jule zur Schneekoppe. Sehen werde ich ihn ja nicht, auch nicht, wenn ich durch Vätis Gucker schaue. Aber denken kann ich mir, daß er dasteht. – Mutti, bin ich ein böses Kind, wenn ich mir als einziges wünsche, auf einen noch höheren Berg zu klettern als auf den Rigi?«

»Mein kleines Mädelchen wird wahrscheinlich noch in diesem Monat hinauf zum Pilatus fahren. Dort oben ist ein großer Alpengarten mit vielen Blumen, die der Väti sehen möchte. Er hat schon davon gesprochen.«

Pommerle lief ans Fenster. »Der Pilatus! Den kenne ich schon! Er guckt hier zwar nur mit einem ganz kleinen Zipfel vor, aber wenn wir nach Weggis gehen, steht er schön da. – Ach, Mutti, sehen wir vom Pilatus die Schneekoppe?«

»Nein, mein Kind.«

»Warst du schon mal oben?«

»Nein, mein Pommerle.«

»Weißt du ganz genau, daß man die Schneekoppe nicht sehen kann? Wenn du noch nicht oben warst, wirst du das vielleicht nicht sicher wissen.«

»Du bist ein Schäfchen, mein Liebling.«

»Mutti, ist der Pilatus höher als der Rigi?«

»Über vierhundert Meter höher ist er.«

»Na, dann werden wir schon was sehen! – Ach, wenn wir doch erst oben auf dem Pilatus wären. Dort oben in dem großen Alpengarten pflück' ich mir einen Strauß Alpenrosen und Edelweiß.«

Seit diesem Tage stand Pommerle oftmals am Fenster und schaute hinüber zu dem kleinen Spitzchen des Pilatus, das über dem Vierwaldstätter See zu sehen war. Sie winkte dem Berggipfel oftmals zu.

»Pilatus, bald komme ich und hole mir Almenrausch und Edelweiß von dir! Wenn nur der Väti erst käme und mit mir hinaufführe.«

Auch Jule bekam wieder einen Brief, in dem Pommerle erzählte, daß sie in nächster Zeit die Schneekoppe sehen werde, weil sie hoch in die Wolken hinaufklettere. Von dort oben würde sie dem Jule Edelweiß und Almenrausch mit heimbringen. Der Brief schloß mit der erneuten Frage: »Kannst du endlich das Lied vom Almenrausch, vom Enzian und vom Edelweiß auswendig?«

Daß Jule das Lied nicht kannte, ahnte Pommerle nicht. Er verwahrte wohl die Platte, doch lag sie in fünf Teile zerbrochen in seinem Kommodenkasten.

Wieder kam Professor Bender am Sonnabend nach Vitznau; doch der Wunsch Pommerles, hinauf zum Pilatus zu fahren, erfüllte sich nicht, da das Wetter ungünstig war.

»Wir würden keine Aussicht haben.«

»Oh – das wäre schlimm, Väti; wir wollen doch recht weit sehen. – Sehen wir die Schneekoppe?«

»Ach nein!«

»Warst du schon oben?«

»Nein, Pommerle.«

»Väti – könnte es nicht sein, daß wir die Schneekoppe doch sähen? Wenn du noch nicht oben warst, wirst du vielleicht nicht genau wissen, was wir dort sehen.«

»Da hast du wieder recht, mein Kleinchen. Doch die Schneekoppe sehen wir nicht.«

Das kleine Mädchen erwiderte nichts darauf, doch in seinem Herzen lebte nach wie vor die Hoffnung, daß es von einem so hohen Berge die Schneekoppe vielleicht doch sehen würde. Der Väti hatte ja den Berg auch noch nicht bestiegen; er konnte also nicht wissen, welche Herrlichkeiten sich dort oben seinen Augen erschließen würden.

Wieder verging eine Woche, wieder schrieb Pommerle an Jule, und Sabine, daß man bald heimkäme und sie sich furchtbar auf ihr Schlesierland freue. Sie lugte aber auch ängstlich zum Fenster hinaus, ob sich die strahlende Sonne nicht erneut hinter Wolken verstecken werde. Blieb sie so hell und freundlich, dann wollte man morgen oder übermorgen hinauf zum Pilatus fahren.

Als Professor Bender am Sonnabend in Vitznau eintraf, lachte die Sonne vom wolkenlosen Himmel, und der Mann in der Bahnhofshalle, von Pommerle befragt, meinte, man habe schon seit Tagen oben eine gute Sicht.

So schrie Pommerle dem ankommenden Väti als Begrüßung zu: »Väti, wir haben eine gute Sicht! Wenn wir morgen auf den Pilatus fahren, können wir über die ganze Welt wegsehn! – Väti, wenn ich du wäre, führe ich morgen auf den Pilatus, damit die gute Sicht nicht wieder fortgeht.«

»Und weil ich der Väti bin, mein Pommerle, fahren wir morgen wirklich, vorausgesetzt, das Wetter bleibt so. Im Gebirge schlägt es schnell mal um.«

»Es schlägt nicht um, Väti, wir haben morgen eine gute Sicht«, beteuerte Pommerle ernsthaft.

Sie befragte auch nochmals den Mann in der Bahnhofshalle. Der mußte ja genau wissen, was morgen für Wetter sein würde, schon durch die Eisenbahn, die bis zur Wetterstation hinauffuhr. Als er sagte, es werde morgen genau so gut sein wie heute, stürmte die Kleine zurück zu den Eltern und fragte schmeichelnd: »Nicht wahr, Väti, du möchtest morgen furchtbar gern auf den Pilatus?«

Professor Bender lachte. Auch er trug sich längst mit dem Gedanken, den reichhaltigen Alpengarten auf dem Pilatus zu besuchen und die dort gehegten Pflanzen und Blumen eingehend zu betrachten. Er vereinbarte daher mit der Mutti, er werde morgen, am Sonntag, mit Pommerle hinauffahren, abends aber nicht heimkommen, sondern eine Nacht in einem der Hotels oben bleiben, da sonst die Zeit für eine eingehende Besichtigung der Alpenflora zu kurz sein würde.

»Willst du Pommerle wirklich mitnehmen?«

»Natürlich! Das Kind liebt Blumen doch so sehr. Auch ist es dort oben im Hotel gut aufgehoben. Wir steigen später zur Alm hinab, denn du weißt ja, welche Freude es daran hat, Milch von den Kühen zu trinken.«

Pommerle strahlte, als sie vernahm, daß sie sogar eine Nacht in einem Wolkenhotel schlafen werde. Oh, das würde der Jule nicht glauben wollen!

»Väti, wie hoch schlafe ich?«

»Ungefähr zweitausend Meter hoch.«

»Au, das ist verflixt hoch!« Dann trug das Kind allerlei Sachen zusammen, die es für die Wolkenreise zu brauchen meinte. »Nehme ich auch meine Puppe Berberitze mit?«

»Wo denkst du hin, Pommerle! Wir packen nur meinen Rucksack. Für eine Nacht brauchen wir nicht viel. Auch müssen wir Platz lassen; vielleicht finde ich oben einige seltene Steine.«

Pommerle seufzte. Wäre der Jule hier, er fände bestimmt interessante Steine.

Der Rucksack war leicht. Für Pommerle noch ein Paar Strümpfe, falls es feuchte Füße bekäme, und ein Wolljäckchen; für den Professor gleichfalls Strümpfe und das nötige Nachtzeug. Pommerle packle seinen langen Nachtkittel mit besonderer Liebe ein.

»Wenn ich zweitausend Meter hoch schlafe, möchte ich auch aussehen wie die Sennerin mit dem weißen Hemdchen. – Väti, finde ich Edelweiß dort oben?«

»Das weiß ich nicht, kleines Pommerle. Im Alpengarten wohl, doch dort darfst du nichts abpflücken.«

»Aber der Jule muß doch Edelweiß haben! Ach, Väti, ich muß irgendwo Edelweiß finden. Wir wollen auf dem Wolkenberg so lange suchen, bis wir Edelweiß haben.« –

Am anderen Morgen ging die Reise los. Frau Bender blieb daheim. Sie wollte sich noch immer schonen.

Zunächst bestiegen Vater und Tochter das Schiff und fuhren über den See nach Alpnachstad. Von dort ging die Pilatusbahn steil empor. Wieder war es eine wundervolle Fahrt. Diesmal gab es sogar einige Tunnel, die Pommerles besondere Aufmerksamkeit erregten. Der Gedanke, durch den Fels hindurchzufahren, verursachte ihr ein leichtes Gruseln, so atmete sie jedesmal erleichtert auf, wenn wieder Tageshelle eintrat. Auch hier gab es mehrere Stationen, bis man schließlich auf der Endstation, dem Pilatus-Kulm, angekommen war.

»Wir gehen zunächst hinauf zum Esel, Pommerle.«

»Ach ja, Väti. Unterwegs pflücke ich Grünes für den lieben Esel, dann freut er sich. – Du, was macht das Tier hier oben?«

»Dieser Esel ist kein Tier; der eine Gipfel des Berges heißt der Esel –«

Pommerle lachte hell auf. »Wenn ich das dem Jule sage, der schreit sich tot. Väti, wie hoch ist der Esel?«

»Der Esel ist der zweithöchste Gipfel und hat zweitausendeinhundertzweiundzwanzig Meter.«

»Ach, so ein hoher Esel! Der Jule wird mich aber schön auslachen, wenn ich ihm erzähle, daß es einen Esel gibt, der zweitausendeinhundertzweiundzwanzig Meter hoch ist! Komm, Väti, nu' wollen wir rasch zu dem großen Esel gehen.«

Im Hotel hielten die beiden sich nicht auf, sondern stiegen über die Treppen zum Gipfel empor. Abermals fragte das Kind nach der Schneekoppe und wurde sehr still, als der Vater ihr sagte, man könne sie auch von hier nicht sehen.

»Ist drüben der Gipfel noch höher, Väti?«

»Jawohl, mein Kleinchen.«

»So komm schnell!«

Man erreichte nach einer halben Stunde auf einem guten Fußweg den höchsten Pilatusgipfel, das Tomlishorn; allerdings nur zehn Meter höher als der Esel, aber mit besserer Fernsicht. Als auch hier von der Schneekoppe nichts zu sehen war, schritt Pommerle schweigend und bekümmert neben dem Vater einher. Doch bald wurde sie von den seltenen Blumen angezogen, die sich in dem herrlichen Alpengarten ihren Blicken boten.

»Wann suchen wir Edelweiß?«

»Zunächst gehen wir in das Hotel, und wenn wir Mittag gegessen haben, steigen wir zur Alm hinab.«

»Ach ja, Väti, zur Alm!«

»Es heißt aber gut aufpassen, denn der Weg ist steil und steinig.«

»Hab' nur keine Angst, Väti, ich halte dich gut fest«, sagte Pommerle treuherzig.

Langsam schritt Professor Bender weiter. Oftmals blieb er stehen, um die hier und dort hervorschauenden Blümchen genauer zu besichtigen. Jedesmal ließ sich die Kleine den Namen sagen, den sie jedoch gar bald wieder vergaß.

»Schau her, Pommerle!«

Die Kleine beugte sich nieder und sah vier weiße Blümchen, die zwischen dem Gestein ihre Köpfchen hervorsteckten. Sammetweiße Sterne mit kleinen Knöpfchen in der Mitte.

»Edelweiß, mein Pommerle.«

Es wurde dem Kinde fast andächtig zumute. Zum erstenmal im Leben sah sie die seltene Alpenblume zwischen dem Gestein. Auf Bildern hatte man ihr Edelweiß schon öfters gezeigt, in den Läden im Tal konnte man sogar die gepreßten Sterne kaufen, hier aber stand es lebendig im Grase.

»Da hat nun so eine arme Sennerin in ihrem weißen Samtkleid dagelegen. – Sieh mal, Väti, das Samtkleid war gewiß auch mit Knöpfchen besetzt. Man sieht es noch ganz deutlich. Oh, das muß aber schön gewesen sein. – Du liebes edles Blümchen! – Väti, darf ich es abzwicken?«

»Nein, Pommerle, das darfst du hier nicht.«

»Väti, bitte, bitte! Nur ein einziges für den Jule.«

»Nein, mein Kind, nicht ein einziges Blümchen.«

»Liebes, liebes Väti, ich möchte doch dem Jule ein Edelweiß mitbringen. – Ach, Väti, bitte, laß mich nur ein Blümchen abknipsen, ganz behutsam. Ich tu' ihm nicht weh, ich zupfe es nicht mal an den Beinchen. Oder, Väti, zwicke du es ab.«

»Nein, mein Kind. – Es besteht ein Verbot, daß man hier keins der gepflegten und treu behüteten Blümchen abpflücken darf.«

Das Edelweiß ging dem Kinde nicht aus dem Köpfchen. Zwar versprach der Vater, er werde irgendwo, unten im Tal, ein Sträußchen Edelweiß kaufen, damit Pommerle dem Freunde die Blümchen heimbringen könne, doch das befriedigte die Kleine nicht.

»Ach, ich wollte es doch selbst pflücken, Väti.«

Beim Mittagessen wurde Pommerle ein kleiner Trost zuteil. Der Kellner meinte, daß weiter unten, auf der Alm, die auf sechzehnhundert Meter läge, viel Almenrausch blühe und man ganz nach Belieben die Blumen pflücken dürfe.

»Dann kann ich dem Jule wenigstens Almenrausch geben, Almenrausch und Enzian. Aber ich hätte ihm doch gar so gerne auch Edelweiß gepflückt.«

»Dann mußt du höher hinaufsteigen, kleines deutsches Pommerli«, sagte der freundliche Kellner, der den seltsamen Namen des Kindes gehört hatte.

»Das ist wieder so ulkig, hier in der Schweiz«, flüsterte die Kleine dem Vater zu, »sie sagen hier alle Pommerli zu mir. Hier gibt es nur Sachen, die ein bißchen anders heißen als bei uns daheim: Brötli, Leckerli, Köpfli, Bähnli, Händli und vieles andere. – Zu ulkig!«

Nach dem Essen drängte das Kind zum Abstieg nach der Alm. Zuvor wurde das Zimmer im Hotel besichtigt, in dem man abends schlafen wollte. Fürsorglich ließ sich der Professor auch noch einige belegte Brote geben, als er hörte, daß man unten auf der Alm wohl Milch, doch nichts zu essen bekomme.

»Herr Professor, wollen Sie den Rucksack nicht im Zimmer lassen?« fragte der Portier. Bender schüttelte lachend den Kopf:

»Den brauche ich zum Sammeln. Lassen Sie ihn ruhig auf meinem Rücken; er ist nicht schwer. Wenn ich im Gebirge umhersteige, muß ich ihn auf dem Rücken haben. Wir kommen, auch wenn ich ihn mitnehme, heute abend bestimmt hierher zurück.«

Dann bezahlte er das Zimmer im voraus und ging mit Pommerle abwärts, der Alm entgegen. Dabei mußten die Wanderer gut auf den Weg achten.

»Väti, es ist gut, daß die Sonne lacht. In der Nacht möchte ich den Weg nicht gehen.«

»Nachts geht ihn auch kein Mensch. Das wäre zu gefährlich.«

Man beeilte sich nicht, da Professor Bender aufmerksam das Gestein betrachtete. Er hielt Pommerle an der Hand und erklärte ihr mancherlei.

So verging eine gute Stunde, bis man der Almhütte ansichtig wurde.

Bender hatte schon mehrfach prüfend zum Himmel hinaufgesehen. Im Westen kam eine dicke Wolkenwand herauf, die böses Wetter kündete. Die Sonne stach, es wurde immer dunkler, und man begann rascher auszuschreiten.

Die Alm war bald erreicht. Wieder bunte Kühe nahebei und an den Hängen, die von dem Kinde mit Jubel begrüßt wurden. Doch schon setzte heftiger Wind ein.

Vor den Professor und Pommerle stellte sie sodann je ein großes Glas frische Milch.

»'s gibt hite Gwitter«, sagte die Sennerin, »dr Herr het in dr Hütt e Schutz.«

Das Gewitter kam überraschend schnell. Es blitzte und donnerte, dazu ging strömender Regen nieder. Professor Bender und Pommerle aber hatten in der Hütte Schutz gefunden und schauten sich darin aufmerksam um. In einer Ecke war aus Steinen eine Feuerstelle errichtet, über der an Ketten ein Kessel hing. Dort bereitete die Sennerin das Mahl. An einer der Wände unter den Fenstern hin liefen Sitzbänke, davor stand ein Tisch. Gerade gegenüber, an der anderen Wand, befand sich das Nachtlager. Eigentlich nichts anderes als eine große Kiste mit Heu, über die ein Laken gebreitet war. Eine Wolldecke und ein bunt bezogenes Kopfkissen vervollständigten dieses einfache Bett. Zahlreiche Geräte aus Zinn und Holz hingen neben dem Herd an den Wänden; wie die Sennerin sagte, zur Herstellung des Käses notwendig.

Draußen strömte der Regen unaufhörlich. Vom Dach liefen die Wasserbächlein lustig herab. Ein jedes hatte seine eigene Melodie. Dazu heulte der Wind, der sich langsam bis zum Sturm gesteigert hatte. Blitz und Donner folgten so jäh aufeinander, daß dem Kinde ängstlich zumute wurde. Doch die freundliche Sennerin beruhigte Pommerle und meinte, die Blitze täten der Hütte nichts, sie suchten sich lieber die hohen Felsen aus, wenn sie einmal niederfahren wollten.

Vor den Professor und Pommerle stellte sie sodann je ein großes Glas frische Milch, in der, wie das Kind feststellte, richtige Fettaugen schwammen. Die Kleine trank und klopfte mit der Hand auf das Bäuchlein.

»Väti, die Milch schmeckt nach Blümchen. Sie schmeckt ganz anders als in Hirschberg.«

»Freilich«, erwiderte Bender, »das machen die herrlichen Alpenkräuter, die die Kühe fressen.«

»Edelweiß fressen sie doch nicht? Was machen sie, wenn sie was finden?«

»Edelweiß gibt es hier auf der Alm nicht, das wächst viel höher oben.«

»Ja, dort oben!« Pommerle wies nach dem Pilatusgipfel hinauf. »Doch man darf es nicht abreißen. Und doch möchte ich dem Jule so gern ein Blümchen bringen. – Aber Almenrausch gibt es hier?«

»O ja«, sagte die Sennerin. »Aber augenblicklich kannst du nichts pflücken.«

Eine volle Stunde verging; das Wetter besserte sich nicht. Plötzlich wurden aus der Entfernung Stimmen laut. Die Sennerin ließ ein lautes: »Holdrio« ertönen und trat vor die Tür.

»Da scheinen noch welche zu kommen.«

Es dauerte auch nicht lange, da betraten drei triefende junge Menschen den Raum. Von den grauen Filzhüten floß das Wasser in kleinen Bächlein herunter, die Pelerinen tropften, die nackten Knie glänzten vor Nässe. Pommerle krampfte die Hände ineinander. Der eine sah dem Jule ein ganz kleines bißchen ähnlich. Genau so naß war auch der Jule einmal in die Villa gekommen. Sein Hut tropfte damals so wie der des rotblonden Burschen, und ebenso lachte er, wie damals der Jule gelacht hatte, als sie ihm ein Handtuch gebracht hatte, um sich abzutrocknen.

»Isch e Sauwetter! 's het me drwische!«

Pommerle staunte. Die Sennerin erlaubte, daß die nassen Leute aus der Bank Platz nahmen. Sie betrachtete schweigend die Wasserpfützen, die sich unten auf den Holzdielen bildeten.

»Bischt au nasch worde?« fragte der Rothaarige.

Doch Pommerle vergaß das Antworten. Sie hatte auf dem Hut des einen die weißen edlen Blümchen entdeckt. Der Bursche hatte Edelweiß gepflückt, das sie nicht abbrechen durfte.

»Hast du der Sennerin vom weißen Brautkleid was weggenommen?«

»Wasch meinscht?«

»Mein Töchterchen sieht das Edelweiß auf Ihrem Hut«, erklärte Professor Bender. »Sie kommen von weither. Wo haben Sie das Edelweiß gepflückt?«

»Wir kommen aus dem Berner Oberland, haben schöne Touren hinter uns. Das Edelweiß hab i' selber abrupfe.«

Gar bald entspann sich eine lebhafte Unterhaltung zwischen den drei jungen Burschen, Professor Bender und Pommerle. Als sie merkten, daß die Kleine ihre Ausdrucksweise nicht recht verstand, gaben sie sich Mühe, hochdeutsch zu reden. Sie erzählten von schweren Eis- und Klettertouren, vom Wandern in Eis und Schnee, von Gletschern mit riesigen Spalten und anderen gefährlichen Dingen. Pommerles Bewunderung für die jungen Burschen stieg von Minute zu Minute.

»Nun sitzen wir hier fest«, sagte der eine, der eben einen Blick hinausgetan hatte. »Nun kommt der Nebel, und man sieht die Hand nicht mehr vor den Augen.«

Der Regen hatte nachgelassen, doch aus dem Tale heraus kam es wie dicke Milch höher und immer höher heraufgezogen und hüllte die Berge ringsum ein. Pommerle staunte. So etwas hatte sie noch nicht erlebt. Es gab auch im Riesengebirge Nebel. Da aber die Kleine bei schlechtem Wetter noch nie auf einem Berge gestanden hatte, war ihr dieses Naturschauspiel fremd. Pommerle dachte an Annas Milchtopf, in dem die kochende Milch höher und immer höher stieg. Genau so war es hier.

Auf die Frage der Sennerin, wohin die drei Burschen wollten, erklärten sie, es solle zunächst hinauf zum Pilatus gehen und dann hinunter nach Hergiswil.

»Dösch wird hite nischt. Wertsch wohl im Heu bleibe müsse.«

Wieder eröffnete sich Pommerle eine neue Welt. Sie hörte, daß neben der Stube ein Unterkunftsraum sei, der zum Schlafen hergerichtet war, weil häufig Touristen vom Unwetter überrascht wurden. So wie heute, da nicht einmal der einstündige Aufstieg zum Pilatushotel anzuraten war.

»Ja, kleines Pommerle«, lachte Bender, »da wird auch uns nichts anderes übrigbleiben, als hier auf der Alm im Heu zu schlafen.«

Der Professor wäre von der stürmischen Kleinen fast umgerissen worden. Im Heu eine ganze Nacht schlafen, vielleicht neben den lieben Kühen, das mußte herrlich sein!

Als Pommerle den Raum sah, jubelte sie laut auf. Der Vater, die drei jungen Leute und sie selber brauchten sich nur in das viele Heu zu legen und konnten schlafen. Es gab keinen Schrank, keinen Waschtisch; nur ein kleines Fenster war vorhanden, durch das man kaum sehen konnte, so hoch war es.

Der Nebel blieb, auch setzte wieder Regen ein. So rüstete alles zur Abendmahlzeit. Der geringe Vorrat, den Professor Bender mitgenommen hatte, war bereits zur Vesper verspeist worden, doch die drei Burschen packten bereitwilligst aus ihren großen Rucksäcken Brot und Wurst aus.

»Nimm tüchtig, du kleines deutsches Mädchen, und iß dich satt. Milch können wir hier bekommen, so viel wir wollen.«

Die Sennerin brachte auch noch ein großes Stück Käse. Brot könne sie nicht geben, meinte sie, das sei knapp.

Noch niemals glaubte Pommerle eine so prächtige Mahlzeit eingenommen zu haben wie heute. Die Burschen legten das Brot auf den Tisch, daneben die Wurst, dann spickten sie die belegten Stücke auf die Messer und führten sie zum Munde. Alles das reizte das Kind zum Lachen. Der Vater mußte es ebenso machen, denn Gabeln gab es in der Sennhütte nicht.

»Hier ist es viel schöner als oben im Hotel«, flüsterte Pommerle dem Vater zu.

»Warte nur, wenn du ins Heu kriechen mußt! Das ist nicht so weich wie dein Bett.«

»Ach, es wird herrlich sein!«

Der rothaarige Bursche schob Pommerle noch einige Scheiben Wurst zu.

»Trocken Brot macht Wangen rot,
Aber dick belegte Bröter machen sie noch röter!«

»Das sagt der Jule auch«, lachte das Kind. Dann schaute es sorgsam auf dem Tisch umher, und als es merkte, daß einer der Burschen die Wurst sehr dürftig auf die dunkle Brotscheibe legte, hielt sie ihm mit den Fingerchen einige Scheiben hin.

»Sie sind so weit gelaufen, ich nicht. Essen Sie lieber, daß Sie hübsch dick und rund werden.«

»I' dank schön, kleines liebes Mädeli, aber behalt's nur.«

Als die Sennerin später die Milchgläser vom Tisch räumte, forderte sie die Burschen auf, ein Lied zu singen, bevor sie ins Heu gingen.

»Ach ja, singen«, rief Pommerle jubelnd. »Das Lied vom Almenrausch, vom Enzian und dem Edelweiß, das kann ich auch.«

Die jungen Leute ließen sich nicht lange nötigen, und bald klang das Alpenlied durch die Sennhütte. Pommerle sang begeistert mit. Am Schluß klagte sie allerdings:

»Edelweiß habe ich leider nicht und möchte doch so furchtbar gern der Mutti und dem Jule ein Edelweiß bringen.«

»Da mußt du viel weiter hinaufsteigen, du kleines Pommerli.«

»Ich will dir das Sträußchen von meinem Hut schenken«, sagte der andere Bursche.

»Ach, – ich möchte so furchtbar gern Edelweiß pflücken, es selber abzupfen. – Vielleicht geht der Väti doch noch mal mit mir auf einen Berg, wo man es abzupfen darf.«

Professor Bender unterhielt sich noch eine ganze Weile mit den drei jungen Leuten; dann dachten alle ans Schlafengehen. Draußen regnete es noch immer, doch die Sennerin meinte, morgen werde wieder gutes Wetter sein.

»Bitte, singen Sie doch noch einmal«, bat Pommerle, »irgendein Lied, das man nur in den Alpen singt, etwas von den Bergen.«

Die drei berieten kurze Zeit, dann begannen sie zu singen:

»In die Berg' bin i gern,
Ja, da freut si' mei' G'müt,
Wo die Almros'n wächst
Und der Enzian blüht.

Und wenn i vo' weitem
A Bergle ka' seah,
Do lupft 's m'r mei' Bluet
Und mei' Herz glei' in d' Höah.

Uns're Hearrgott hot's g'wißt, daß
Die Berg' sind so schea,
Drum hot er die Bergle
Naufzoga in d' Höah.

Schön jung is mei' Bluot,
Und schön rund is mei' Huot,
Und Kurasch wie a Teufel,
Will sehn, wer mir was tuot!«

»Oh, das war schön!« Pommerle klatschte freudig in die Hände. »Bitte, gleich noch mal!«

Die Burschen lachten und sangen das Lied zum zweitenmal.

»Bitte, bitte, nu' noch mal, ich möchte es später dem Jule vorsingen.«

Pommerle begann zu summen: »Und Kurasch wie a Teufel, will sehn, wer mir was tuot!«

Zum drittenmal wurde das Lied gesungen.

»Nun geh schlafen«, mahnte der Professor. »Sie, meine Herren, werden gewiß noch wach bleiben – – –«

»Wo denken S' hin, wir freu'n uns aufsch Heu!«

»Väti, schlafen wir alle zusammen im Heu? – Du, – ich und die Triasleute?«

»Ja, alle zusammen.«

»Ach, das wird aber ein Ulk! Das ist dann gerade so wie im Kuhstall.«

Die Sennerin führte ihre Gäste nach dem kleinen, der Sennhütte angebauten Raum, in dem das Heu lag.

»Ich habe leider nur ein Laken, darauf mag sich der Herr legen.«

Pommerle half der Sennerin das derbe Laken über das Heu breiten:

»Wirste auch gut schlafen, Väti?«

»Ei freilich –«

Die Kleine kniete im Heu. Dort, wo der Kopf liegen sollte, wurde es von ihr hoch aufgetürmt. Sie tat das nicht nur für den Vater, auch den drei Burschen bereitete sie liebevoll das Lager. Emsig klopfte sie das Heu nieder, damit es schön glatt läge.

Lächelnd schauten die drei Burschen zu.

»Sag mal, Pommerli, sind alle deutschen Mädchen so gute Hausmütterchen wie du?«

»Ihr sollt gut schlafen. Ihr seid sehr weit gelaufen und müde. – Väti, ziehen wir uns 'nu aus?«

»Nur die Schuhe und die Jacken, mein Kleinchen. Du kannst das Kleidchen ausziehen und das Nachtröckchen überstreifen.«

Unter fröhlichem Lachen und Scherzen wühlte sich Pommerle tief ins Heu. Sie wälzte sich bis dicht an den Vater heran, umarmte ihn zärtlich und gab ihm den Gutenachtkuß.

»Ach ulkig ist das, Väti. Und Kurasch hab i wie a Teufel, will sehn, wer mir was tuot!«

»Brauchst keine Angst hier zu haben, Pommerle. Wir beschützen dich.«

Das Kind richtete sich nochmals auf und schaute prüfend auf die Burschen. »Oh«, sagte sie, »der da hinten hat zu wenig Heu unterm Kopf. Warten Sie mal ein bißchen.«

Fix kroch die Kleine hinüber zu dem Rothaarigen. Der duldete es, daß ihm Pommerle den Kopf hochhob und mehr Heu darunter schob.

»So, nu' werden Sie gut schlafen.«

Sie ging zum zweiten, zum dritten. »Hier unter den Füßen fehlt auch noch so 'n bißchen Heu.« Auch dieser junge Mann wurde liebevoll betreut. Dann kroch das Kind wieder zurück zum Vater. »Ach, hier riecht es so schön! Ich möchte immer im Heu schlafen.«

»Jetzt mußt du ruhig sein, kleine Plaudertasche, unsere Schlafgenossen sind müde. Mach die Augen zu.«

»Aber Väti, – noch nicht!« Und zum drittenmal setzte sich das kleine Mädchen auf, faltete andächtig die Händchen und begann mit halblauter Stimme das Abendgebet zu sprechen. Als es damit fertig war, wandte es fromm die Augen nach oben und fügte hinzu:

»Lieber Gott, heute ist es so anders als sonst, wenn ich im Bett liege. Laß den Vati hier recht gut schlafen und behüte auch die Mutti, die allein sein muß. Dann schicke deinen Engel zu den drei Leuten hier, damit sie morgen gesund erwachen und auf ihrer Reise recht viel Freude haben. Und dann laß auch den Jule was recht Schönes träumen und laß ihn nicht so große Sehnsucht haben. – Grüß' auch meine Heimat. – Nun gute Nacht, lieber Gott, jetzt schlafe ich.«

Einer der Burschen legte die Hand über die Augen. Es war lange her, daß er ein Abendgebet gesprochen hatte. Dieses prächtige deutsche Mädel erinnerte ihn daran, daß es dort oben, hoch über den Wolken einen gab, der seine Schritte lenkte.

»Du liebes Pommerli«, murmelte er. »Womit kann ich dir wohl eine Freude machen?«

Dann herrschte sehr bald tiefste Stille in der Sennhütte. Professor Bender fand zwar das Lager nicht angenehm, schlief schlecht und sehnte sich nach seinem Hotelbett. Aber er verhielt sich ganz ruhig, um die Mitschläfer nicht zu wecken. Als der erste helle Schein durch das kleine Fenster drang, schaute er auf sein Töchterchen. Pommerle schien etwas Schönes zu träumen, sie lächelte im Schlaf.

Vom Poltern der Milchkannen wurden die Schläfer geweckt. Pommerle rieb sich die Augen und fand sich in den ersten Augenblicken nicht zurecht. Dann lachte sie fröhlich auf.

»Ach, war das schön im Heu! Ich wünschte, mein Bett wäre auch voll Heu! – Haben Sie alle gut geschlafen?«

Schon stand das kleine Mädchen auf den Füßen und zupfte den Burschen die Heuhalme ab, die an ihren Kleidern hafteten.

»Väti, – ich hab' schon wieder zum lieben Gott gebetet, daß er mich heute ein Edelweiß finden läßt, für die Mutti, und noch eins für den Jule.«

»Sieh, Pommerle, heute ist wieder schönes, klares Wetter. Wir werden Alpenrosen suchen. Edelweiß finden wir hier nicht.«

»Ich möchte ja nichts weiter als ein bißchen Edelweiß finden, Väti. Kannste das nicht einrichten? – Ach, Väti, ich will auch keine Speise im Hotel essen, aber ein Edelweiß möchte ich so gerne haben.«

Professor Bender war schon ein wenig ratlos, weil Pommerle immer wieder nach dem Edelweiß verlangte.

»Komm jetzt frühstücken, mein Kind.«

Die drei Burschen standen währenddessen beieinander und flüsterten. Als man dann in der Sennhütte beim Glase Milch saß und die Burschen wieder ihr Frühstück mit Bender und Pommerle teilten, sagte der Rothaarige plötzlich:

»Ich weiß eine Stelle, wo Edelweiß wächst.«

»Ja«, seufzte das Kind, »dort oben beim Hotel. Doch dort darf man es nicht abknipsen.«

»Ich weiß aber eine Stelle, an der man es abknipsen darf. Es ist gar nicht weit von hier.«

»Man darf es abknipsen?« fragte das Kind atemlos. »Väti, haste gehört?«

Der dunkelhaarige Bursche hatte inzwischen leise einige Worte mit Professor Bender geflüstert. Bender schüttelte anfangs den Kopf; als er aber von seinem Töchterchen gar so stürmisch umhalst wurde, nickte er dem Rothaarigen zu.

»Wenn du die Milch getrunken hast, gehen wir.«

Pommerle stürzte das Glas Milch hinunter. »Nu' bin ich fertig! Gehen wir gleich zum Edelweiß?«

Der dritte der jungen Burschen war bereits aus der Hütte gegangen. Pommerle ahnte ja nicht, daß die drei gutherzigen Schweizer beschlossen hatten, den Herzenswunsch des lieben Kindes zu erfüllen. Das Edelweißsträußchen vom Hute des einen sollte für Pommerle geopfert werden. Da die Kleine die Blümchen aber selbst pflücken wollte, würde man sie in das Gestein stecken und den Stengel mit Erde befestigen, damit Pommerle in dem Glauben blieb, sie pflücke die Blüten ab. Zu diesem Zweck war der eine der Burschen davongegangen. Professor Bender, der anfangs meinte, es sei nicht recht, das Kind zu täuschen, gab schließlich nach, weil er die brennende Sehnsucht in den Augen seines Töchterchens sah.

»Wir wollen nachher noch an den Pilatus-See, Pommerle. Der Sage nach hat man einstmals Pontius Pilatus nach seinem Tode in diesen See geworfen.«

»Vati, ich möchte viel lieber zum Edelweiß.«

»Zum See gehen wir auch noch«, sagte der Rothaarige.

»Gerade auf dem Wege zum See wächst das Edelweiß.«

Unruhig lief das kleine Mädchen in der Sennhütte hin und her. Der Vater war mit Frühstücken noch immer nicht fertig und wollte doch mitgehen.

»Väti, vielleicht schmeckt es dir am Pilatus-See noch besser. Wollen wir schnell einpacken?«

Doch diesmal gab Bender nicht nach. Pommerle mußte seine Ungeduld bezähmen. Als der Vater aber den letzten Bissen in den Mund steckte, hatte sie bereits seine Mütze vom Nagel genommen und drückte sie ihm auf den Kopf.

»Fertig, – jetzt holen wir Edelweiß!«

Der dritte Bursche stellte sich auch wieder ein, und gemeinsam wanderte man los.

»Es ist keins da«, jammerte das Kind.

»Du mußt gut suchen, denn das Edelweiß wächst vereinzelt. Komm, ich will dir zeigen, an welchen Stellen es besonders gern wächst«, sagte der Bursche, der die Blüten versteckt hatte.

Dann sah das Kind das erste weiße Blümchen. Sein jauchzender Schrei durchschnitt die Luft. Bender glaubte anfangs nichts anderes, als daß sein Töchterchen gestolpert sei und den Fuß gebrochen habe. Doch dann sah er: Pommerle hatte Edelweiß gefunden.

»Väti, – Väti, – Väti –!«

Das Kind merkte nichts davon, daß es das Blümchen einfach aus der Erde zog. Das große Glück, ein Edelweiß selbst gefunden und gepflückt zu haben, füllte es vollständig aus. Nun stand es auf der Alm und sah entzückt auf die weiße Blüte nieder.

»Das Samtkleid der Sennerin! – Ach, soll es die Mutti haben oder der Jule? Ich möcht's ja auch gern für mich behalten, das liebe, liebe Edelweiß.«

»Vielleicht finden wir noch mehr«, sagte der Bursche.

Das zweite Blümchen wurde gefunden. Auch diesmal schrie Pommerle wieder laut auf vor Glück. Und unweit stand ein drittes. »Es hängt mit den Füßchen gar nicht fest in der Erde, es will in meine Hand. Es geht ganz leicht ab! – Siehste, Vati, ich habe den lieben Gott gebeten, er soll mir Edelweiß schenken. – Nu' hat er's getan.«

Als sechs schöne Edelweißblüten gefunden waren, meinten die Burschen, man dürfe nicht weiter suchen. Man solle sich mit wenigen Blüten begnügen, denn andere wollten auch noch etwas finden.

Pommerle leuchtete das ein. Sie kam sich im Besitz der sechs weißen Sterne unendlich reich und glücklich vor. Vor allem freute sie sich, daß gerade sie die Blüten gefunden hatte, während der Vater, der sonst allerlei seltsame Blumen entdeckte, heute leer ausgegangen war.

»Sei nicht traurig, Väti! Hier hast du ein Edelweiß, damit du wieder was Berühmtes darüber schreiben kannst. – Eins für dich, eins bringen wir der Mutti, eins ist für mich, eins für den Jule, eins für die Sabine und – und – –«

»Und wer bekommt das sechste, Pommerle?«

Der kleine Blondkopf senkte sich. »Das verwahre ich«, klang es zurück. »Und wenn wir mal wieder nach Neuendorf an die liebe Ostsee fahren, bringe ich es auf das Grab, in dem mein toter Vater liegt. Als ich die Blümchen fand, hab' ich gleich an ihn denken müssen.«

»So ist es recht, mein Liebling. – Doch nun laß uns zum Pilatus-See gehen, denn auch den wollen wir sehen.«

Der herrliche tiefblaue Gebirgssee machte heute auf das Kind wenig Eindruck. Es hatte nur Sinn für die Edelweißblüten.

Die drei Burschen verabschiedeten sich. Da das Wetter gut geworden war, wollten sie ihre Wanderung über den Pilatus nach Hergiswil fortsetzen. Mehrfach drückten sie die kleine Kinderhand.

»Dich werden wir nicht so rasch vergessen, liebes, kleines Pommerli.«

»Wo haben Sie denn Ihren Edelweißstrauß vom Hute?«

»Im Rucksack, gut verwahrt«, sagte der Bursche. In ihm war keine Trauer, daß er die Blümchen an das deutsche Mädchen verschenkt hatte. Im Gegenteil, die Freude des Kindes beglückte ihn.

»Von dir habe ich gestern abend sehr viel gelernt, Pommerli«, sagte der eine der drei warm. »Ich muß dir danken.«

Die kleine Schlesierin verstand nicht, was er meinte. Sie ahnte nicht, daß der Bursche von ihrem Abendgebet tief ergriffen worden war.

»Was sollen wir dir zum Abschied singen?« fragten die drei.

»Das Lied vom Almenrausch, vom Enzian und vom Edelweiß.«

Im Fortwandern sangen sie das gewünschte Lied. Dabei wandten sie sich mehrfach zurück und schwenkten die grauen Berghüte. Pommerle sah ihnen lange nach. Der Aufenthalt auf der Alm würde ihr unvergeßlich bleiben.

Bender rastete mit seiner Tochter eine volle Stunde an dem kleinen See. Dann wurde ein herrlicher Strauß Alpenrosen gepflückt, die hier in dichten Büschen standen.

»Jetzt hat der Jule alles«, sagte Pommerle. »Wie wird er sich freuen!«

Ein Strauß war für die Mutti gebunden worden; in den zweiten sollten sich Jule und Sabine teilen.

»Und nun gehen wir wieder hinauf zum Hotel, sonst denkt man dort, wir sind verunglückt. Nachmittags fahren wir dann mit der Bahn hinunter, damit wir zum Abendessen bei der Mutti sind.«

Im Hotel ahnte man, daß das schlechte Wetter den Professor zum Verbleiben in der Almhütte gezwungen hatte. Pommerle erzählte glückstrahlend von den Edelweißblüten, von der Nacht auf dem Heu und der komischen Stube der Sennerin. Sie erzählte auch von den drei jungen Leuten, die ihr Brot und Wurst gegeben hatten.

»Es leben sehr viele gute Leute in der schönen Schweiz. Das weiß ich jetzt ganz genau!«

Mit der Bahn ging es schließlich wieder zu Tal. Man erreichte unten gerade das Schiff, das über Weggis nach Vitznau fuhr; zum Glück, denn Pommerle war voller Ungeduld. Es hatte der Mutti sehr viel zu erzählen.

Endlich war man daheim. Dem Portier unten in der Hotelhalle zeigte Pommerle die Edelweißblüten. »Die habe ich selber gefunden. Ach, ich bin so glücklich!«

Frau Bender verstand anfangs nicht, was das Kind erzählte. Es sprudelte seine Erlebnisse heraus, alles bunt durcheinander. Erst ganz allmählich kam ein wenig Ordnung in den Bericht.

»Ich habe immerfort das Gesicht an der Erde gehabt und dabei ganz kleine Schritte gemacht, Mutti. Hinter alle Steine habe ich geschaut, und auf einmal – oh, Mutti – da stand das hier! Es sah mich an. – Und meinte: nimm mich mit. Ich durfte es abknipsen. Das gehört dir, Mutti. Es ist das allerschönste Blümchen. Dann bin ich wieder einen Schritt nach dem anderen gegangen, – – auf einmal – da stand noch eins! Oh, war das eine Freude! – –« So ging es weiter. Frau Bender mußte den langen Bericht ihres Töchterchens geduldig über sich ergehen lassen, dazu die Schilderung des Nachtlagers in der Sennhütte.

»Du hast mal gesagt, Mutti, es gibt viele Kinder, die kein Bett haben. Wollen wir zu Weihnachten mein Bett einem armen Kinde schenken? In mein Bett kommt dann ein großer Haufen Heu. Sollst mal sehen, wie gut man darin schläft.«

Frau Bender lachte. »Auf die Dauer würde es dir im Heu nicht gefallen, mein Kleinchen. Sei froh, daß du dein gutes Bett hast.«

»Und dann haben die drei so schöne Lieder gesungen. – Paß mal auf, wie ulkig das war! Ganz genau kann ich das Lied nicht. Es handelt davon, daß der liebe Gott die Berge ganz hoch hinaufgezogen hat, weil das Schönste immer oben ist. Und Kurasch hab' i' jetzt wie a Teufel, will sehn, wer mir was tuot!«

Pommerle bemühte sich, das Lied der Mutter vorzusingen. »Es ist ein ganz richtiges Alpenlied, Mutti. Nicht wahr, schön ist es? Aber wir haben auch schöne Lieder in Schlesien, – nicht wahr, Väti? Der Harfenkarle weiß die allerschönsten. – Ich bin gesund und wohlgemut, und das ist wohl mein höchstes Gut! – Nun, liebe Mutti, möchte ich noch eins wissen. Wie lange bleiben wir noch hier?«

»Noch drei Wochen, Pommerle.«

Ein Seufzer kam über des Kindes Lippen: »Drei lange Wochen muß der arme Jule noch auf sein Edelweiß warten. – Väti, weißte nicht ein Lied, in dem steht, daß man am allerliebsten wieder in seine Heimat zurück möchte? Ich möchte euch das dann immerfort singen. – Weißte so ein Lied?«

»Natürlich weiß ich ein solches Lied. Von der Heimat gibt es viele schöne Lieder.«

»Aber eins, in dem von der Sehnsucht steht? Eins, in dem man singt, daß man aus dem fernen Lande, auch wenn es sehr schön ist, bald weg möchte?«

»Nein, mein Kind, so ein Lied weiß ich nicht.«

Frau Bender hatte sich vom Stuhl erhoben und war ans Fenster getreten. Sie konnte Pommerles Sehnsucht begreifen. Auch sie hatte Verlangen nach der Heimat, und halblaut sagte sie die Worte:

»O Heimat, wunderbares Wort,
Nur der hat dich verstanden,
Der sich nach deinem Frieden dort
Gesehnt in fremden Landen.«

»Mutti, – was haste eben gesagt?«

Frau Bender schlang liebevoll den Arm um ihr Töchterchen und wiederholte den Vers. Pommerle legte das Blondköpfchen an ihre Brust.

»Mutti, – wer sich gesehnt in fremden Landen. – Mutti, ich sehne mich! Nach Hirschberg, – nach Schlesien, – nach dem Jule und allen anderen. – Mutti, nicht wahr, drei Wochen werden wir hier noch aushalten, – aber dann, – holldrio hooooo!«


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