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Jeder muß seine Freude haben

Meister Reichardts blinde Tochter Sabine war sehr erstaunt, als sie von Jule um ein Geographiebuch gebeten wurde, in dem man auch die Ostsee sehen könne. Jule war sonst gar nicht für derartige Dinge, er las nichts, begnügte sich mit dem Riesengebirge, seinen Steinen und Blumen, wenn er Feierabend hatte. Vom Lernen und Fortbilden hielt er gar nichts. Trotzdem war er ein guter Tischlerlehrling, dem die Berechnungen zwar Schwierigkeiten machten, der aber eine Arbeit, wenn er sie erst verstand, sehr gewissenhaft ausführte. Meister Reichardt sah daher dem Jule manches nach.

Er wußte um des Burschen trübe Jugendzeit und auch davon, daß der Knabe in der Schule recht wenig geleistet und aus Zeitmangel, weil er der Mutter helfen mußte, oftmals die Stunden versäumt hatte. Mitunter war er auch lieber durch Wald und Feld gestreift, statt zu lernen. Seine verstorbene Mutter, eine brave Witwe, die sich und ihr Kind durch Austragen von Zeitungen ernährte, konnte dem Knaben nicht die nötige Sorgfalt angedeihen lassen. So war der Jule wie ein Pilz im Walde aufgewachsen.

Ein Glück, daß sich Professor Bender des Knaben annahm. Der brachte ihm seltene Steine, die er beim Umherstreifen in den wildesten Gebirgsgegenden gefunden hatte, und war glücklich, wenn Bender darunter etwas Besonderes entdeckte. An natürlichem Verständnis für die Natur fehlte es dem Jule nicht. Alle Bemühungen des Vormundes aber, ihm etwas an sonstigem Wissen beizubringen, mißlangen. In ganz Hirschberg hielt man den Knaben daher für einfältig, und tatsächlich war er mit seinen sechzehn Jahren in manchen Dingen von geradezu unglaublicher Dummheit. Seinen Aberglauben konnte ihm niemand austreiben. Bis auf den heutigen Tag war er fest davon überzeugt, daß der mächtige Berggeist Rübezahl im Riesengebirge umherstreifte und den Menschen bald in dieser, bald in jener Gestalt erschiene. Fiel ein Salzfaß um, gab es Zank, der Schornsteinfeger bedeutete Glück, der schwarze Kater war Jules Berater für den Ausgang einer Sache, und fiel der Besen ihm aus der Hand, so war mit dem Tage nichts Rechtes anzufangen; dagegen brachten Scherben unbedingt Glück. An alles das glaubte der Jule fest. Er blickte auch jetzt wieder angstvoll nach dem schwarzen Kater, der schnurrend in der Werkstatt saß, während er verstohlen auf der Landkarte herumsuchte, die ihm Sabine heute früh gegeben hatte.

»O je«, murmelte er, »das wird eine Stange Geld kosten! Durch das ganze große Deutschland hindurch müssen wir fahren. Es ist beinahe so weit wie nach der Schweiz. Aber ich habe ja die Bücher, für die Professor Bender viertausend Mark bekommen hat. Heute abend gehe ich zu Kalks.«

Mit dem Finger fuhr Jule den schwarzen Bahnlinien entlang, die die Karte zeigte.

»Breslau – Glogau – Grünberg – Reppen –, dann kann man auch über Berlin nach Stettin weiterfahren. – Du verflixtes Vieh!« Jule sprang hinter dem Kater her, der von links nach rechts durch die Werkstatt eilte. »Von links nach rechts – bringt Schlecht's. – Nun ist alles wieder aus!« Und als er den Arm nach dem Kater ausstreckte, um ihn zum Umkehren zu zwingen, stieß er an den Besen, der in der Ecke stand. Der Besen fiel um.

»Nun ist überhaupt alles aus! Ich habe auch heute nacht von einer brennenden Lampe geträumt, die plötzlich verlöschte. – Es ist aus – es ist alles aus! Ich habe keine Freude mehr! Und Pommerle sagt: Jeder muß seine Freude haben. Aber ich, ich habe keine Freude – nein, ich habe keine Freude. – Der Kater ist schuld daran.«

Im innersten Herzen hoffte Jule dennoch, daß alles gut ausgehen werde. Sogleich nach Feierabend packte er sein Handwerkszeug rasch zusammen, zog den Arbeitskittel aus, kleidete sich sorgsam an und nahm vier schöngebundene Bücher unter den Arm. Damit ging er nach der Buchhandlung des Herrn Kalks.

Im Laden waren mehrere Käufer. Jule, der sehr selten eine Buchhandlung betrat, schaute heute voller Aufmerksamkeit die ausgelegten Bücher an. Bange Zweifel überkamen ihn. Er sah dicke Bücher, die den Preis von zwölf Mark zeigten. Andere kosteten acht Mark, ja es gab sogar recht viele für eine Mark. – Und er wollte viertausend haben! Scheu drückte er sich in die Ecke des Ladens und wartete, bis die Käufer das Geschäft verlassen hatten. Dann trat er hervor. Ein wenig beklommen legte er die vier Bücher vor dem Buchhändler nieder.

»Das sind Bücher von dem berühmten Professor Bender, der über Steine und Blumen schreibt. – Ich möchte diese Bücher verkaufen. Sie haben keine Schmutzflecke und keine Eselsohren. Ich möchte dafür genau so viel Geld haben, wie der Professor bekommt.«

Buchhändler Kalks betrachtete die Bücher. Es waren funkelnagelneue Exemplare.

»Wo haben Sie denn die Bücher her, junger Mann?«

»Es sind meine Bücher.«

»Wie kommen Sie zu diesen Büchern?«

Jule reckte sich hoch auf. »Wie ich dazukomme?« sagte er grob. »Der Herr Professor hat sie mir gegeben. Wenn ich ihm die Steine nicht gebracht hätte, würden die Bücher nicht geschrieben worden sein. Ich bin der Jule Kretschmar, der Freund vom Professor. Darum hat er mir die Bücher gegeben.«

»Und nun wollen Sie sie verkaufen?«

»Ja.«

»Mein lieber junger Mann, ich habe bereits einige Bücher des Herrn Professors. Von wissenschaftlichen Büchern lege ich mir nicht gern ein Lager hin. – Sie haben diese Bücher geschenkt bekommen?«

Jule beugte sich über den Ladentisch und klappte eines der Bücher auf. »Von dem Buch weiß man in der Schweiz und in Schweden. Alle berühmten Leute kommen wegen dieser Bücher hierher. Ich sollte meinen, eine Buchhandlung müßte solch ein Buch haben. – Nehmen Sie es doch, ich will es Ihnen gern verkaufen.«

Jule achtete nicht darauf, daß während seiner Rede ein neuer Kunde den Laden betreten hatte. Eifrig fuhr er im Reden fort: »Das hier hat einen schönen blauen Deckel und goldene Schrift darauf. Das müssen Sie mir sehr gut bezahlen. Ich kann das Buch nicht brauchen.«

»So, so, Jule – –«

Jule fuhr herum und wurde blaß. Hinter ihm stand Professor Bender, sein Vormund.

»Der Kater – der Kater – der Besen«, murmelte er zusammenknickend. »Ich hab's ja gewußt.« Erregt packte er die Bücher zusammen, schob sie unter den Arm und rief: »Ich komme wieder, wenn der Herr Professor nicht mehr da ist.«

Aber Bender verstellte dem Flüchtenden den Weg. »Wir sprechen noch darüber, Jule. Die Bücher kannst du mir heute nach dem Abendessen zurückbringen.«

Jule war froh, daß er sich an seinem Vormund vorbeidrücken konnte. Im schnellen Lauf ging es heimwärts. Die Bücher rutschten ihm zwar dreimal unter dem Arm weg und fielen auf die Straße, doch das erregte Jule nicht so sehr, wie die Begegnung mit seinem Vormund. Er fühlte, daß er etwas Ungeschicktes getan hatte. Erst die Bücher erbitten, dann zum Verkauf anbieten, das würde Professor Bender kränken.

»Ich hätte heute nicht gehen dürfen – der Kater hat's mir doch angezeigt, daß Schlechtes bevorsteht. Ich bin ein Esel, ja, ich bin ein großer Esel. – Ach, ich habe doch gar keine Freuden mehr!«

Am Abend kam Jule zu Benders. Sogleich suchte er Pommerle auf, drückte ihr die vier Bücher in den Arm und stotterte: »Gib sie dem Professor – ich mag sie nicht mehr. Und reisen können wir nun auch nicht. Fahre du nur ruhig weg. Du hast immerfort Freude, und ich hab' keine.«

»O doch, Jule, du sollst auch viel Freude haben. Jeden Tag eine neue! – Warte nur, ich weiß schon, was ich mache. Du wirst dich sehr freuen.«

»Ich freue mich überhaupt nicht mehr. – So, nun muß ich fort.«

Schon war er davongelaufen.

Jule hatte es heute sehr eilig. So brachte Pommerle dem Vater die Bücher.

»Väti, er meint, er hat keine Freude mehr. – Väti, wollen wir ihm nicht zu Ostern rasch noch 'ne große Freude machen? Wenn wir gleich nach Ostern fortfahren, muß der Jule doch noch mit Freuden an uns denken.«

»Der Jule hat eine Strafe und keine Freude verdient, Pommerle.«

Die Kleine kletterte auf des Professors Knie. »Väti, du weißt doch, jeder muß seine Freude haben, sonst wird er ein knurriger Mensch. Und wer viel Freude in seinem Leben hat, wenn er noch klein ist, der lacht dann immer noch, wenn er alt und häßlich ist. Dann denkt er zurück an die Freuden, die er früher hatte. Bald sind wir vier Monate fort von Jule. Wenn er in den vier Monaten gar keine Freude hat, wird er ein vergrämter Herr, wenn wir wiederkommen.«

»So schlimm wird es nicht sein, mein Kleines. Doch du hast recht, jeder Mensch muß von Zeit zu Zeit eine Freude haben – Was willst du denn dem Jule für eine Freude machen?«

Pommerle brachte die Lippen an des Vaters Ohr, dann schwabbelte sie so hastig Satz für Satz hinein, daß Bender mehrmals den Kopf fortbeugte, weil es im Ohr summte und brummte.

»Meinste nicht auch, Väti, daß er damit seine große Freude hat, solange wir in der Schweiz sind?«

»Ich soll dir also Geld geben, Pommerle? Was kostet dein Geschenk?«

»Du brauchst mir nur noch ein bißchen zu geben. Seitdem ich weiß, daß wir nach der Schweiz fahren, habe ich mir immer was zurückgelegt. Das nehme ich jetzt für den Jule.«

Die Kleine kletterte auf des Professors Knie.

»Wieviel hast du denn zurückgelegt?«

»Dreiundachtzig Pfennig, und eine Mark und fünfzig Pfennig kostet die Freude. – Nicht wahr, Väti, für den Jule können wir doch soviel Geld ausgeben? Wenn wir nach der Schweiz fahren, kostet es viel mehr. Ich habe gestern den Speisezettel vom ›Hotel zur Schneekoppe‹ gelesen, er hängt draußen neben der Tür. Wenn man dort ein einziges Mal Mittag essen will, kostet es eine Mark und fünfzig Pfennig, und wenn wir alle drei essen, kostet es – – kostete es – vier Mark und fünfzig Pfennig. – Meinst du nicht, Väti«, schmeichelte die Kleine, »daß wir da für den Jule eine Mark und fünfzig Pfennig ausgeben können?«

»Wenn du meinst, daß du ihm damit eine große Freude machst – –«

»Die aller-allergrößte, die er überhaupt haben kann. Ich habe mich gestern so gefreut und die Mathilde auch. Als wir aus der Schule kamen, haben wir uns alles angehört. Es war herrlich!«

»Meinetwegen, Pommerle. – Hier hast du eine Mark und fünfzig Pfennig – –«

»Nein, Väti, ich will doch von meinem Geld dem Jule was schenken. Du brauchst mir nur das zu geben, was noch zu meinem Gelde fehlt. Aber – wenn du mir dann das andere schenkst, damit ich mir in der Schweiz auch mal eine Freude machen kann, nehme ich es gern, und dafür gebe ich dir jetzt diesen Kuß. – So!«

Pommerle strich die drei Fünfzigpfennigstücke rasch ein.

»Du kleine Krabbe«, sagte Bender zärtlich. »Ich würde mit dem Geschenk aber warten bis zum Tage unserer Abreise.«

»Freilich, Väti, aber morgen kaufe ich es schon. Ich darf doch? Wenn ich aus der Schule komme, gehe ich gleich zum Herrn Gumpel.«

»Aber sei hübsch vorsichtig, Pommerle. Solch ein Ding ist zerbrechlich.«

Am nächsten Tage konnte Pommerle kaum den Schulschluß erwarten. Sie vertraute ihrer Schulfreundin Mathilde an, daß sie heute zu Gumpel gehen werde, um für den Jule ein Abschiedsgeschenk zu kaufen.

Der Musikalienhändler Gumpel erkannte die beiden Mädchen sogleich wieder, die seit Tagen sein Geschäft besichtigten und sich allerlei Grammophonplatten vorspielen ließen. Und nun hatte Pommerle, ganz durch Zufall, eine Platte gehört, die »alpisch« redete und von den Alpen sang. Meister Reichardt besaß auch ein Grammophon, und Jule starrte jedesmal die schnellaufende Platte mit großen Augen an; er konnte nicht begreifen, daß aus der Platte die Töne kamen. Wenn er jetzt sogar das »alpische« hörte, konnte er in Gedanken Pommerle auf der Reise begleiten und jeden Abend, wenn die Platte spielte, seine große Freude haben. So würde er kein vergrämter alter Herr werden.

»Hier hätte ich eine sehr hübsche Platte, Pommerle: Wo die Alpenrosen blühn, dahin – dahin möcht' ich ziehn!«

»Lassen Sie die Platte, bitte, mal spielen.«

Das Lied wurde gespielt, doch Pommerle schüttelte den Kopf. »Ich finde das Lied von den roten Alpenrosen, vom blauen Enzian und vom weißen Edelweiß noch viel schöner. Der Jule hat alle Blumen so lieb, dem wird das Lied auch gut gefallen. – Bitte, ziehen Sie noch mal die Platte auf.«

Entzückt lauschte das kleine Mädchen dem Gesang. Das war gewiß ein Alpenmädel, das dieses Lied in der schönen Schweiz sang, solch ein Mädel mit rotem Rock und schwarzem Samtmieder. Es sprach so komisch, gar nicht so, wie man in Hirschberg redete. Der Vater meinte, in der Schweiz sprächen viele Leute anders als hier in Schlesien.

»Almenrausch, Almenrausch, bischt a liab's Blümle,
Almenrausch, Almenrausch, blüahst so schön rot.«

Pommerle warf der Freundin einen verzückten Blick zu. Weiter und immer weiter sang die Stimme.

»Hör mal, Mathilde, jetzt geht es vom Enzian los. Enzian haben wir auch im Riesengebirge. – Ach, wird der Jule eine große Freude haben!«

»Enzian, Enzian, bischt a liab's Blümle,
Enzian, Enzian, blüahst so schön blau.
Blau ischt die Treue, und treu ischt mein liaber Bua ...«

Pommerle hätte am liebsten gejauchzt. Es war gerade so, als ob das Lied nur für den Jule sei. Er war auch ein lieber Bua und treu dazu. Der dritte Vers, der vom Edelweiß handelte, wurde andächtig von den Mädchen angehört. Er war sehr traurig, das Büble war tot.

»Der Väti hat gesagt, das Edelweiß wohnt hoch oben in den allerhöchsten Bergen. So hoch werde ich wohl nicht kommen, um eines herunterzuholen. Man darf es auch nicht pflücken, sonst kommt ein Schweizer Polizist oder ein Grenzjäger und verbietet es. Das hat auch der Väti gesagt. Aber wenn ich mal eins sehe und es ist gerade kein Schweizer Polizist in der Nähe, dann knipse ich doch ganz behutsam ein Edelweiß für den Jule ab, damit er seine Freude hat. Ich werde dem Blümchen die Beinchen nicht ausreißen, Mathilde. Sie können in seinem Erdbettchen steckenbleiben. Aber der Jule hat doch soviel Freude an schönen Blumen und –«

»Soll es diese Platte sein, Pommerle?«

»Ja, vom Enzian und dem treuen Bübelein. Die Platte schenke ich meinem Jule, weil er auch so treu zu mir ist.«

»So, so«, lachte der Musikalienhändler. »Du bist wohl schon mit dem Jule einig?«

»Der Jule wird mal ein großer Tischler, ein berühmter Tischler. Er macht dann für die Schweiz und für Schweden die Möbel. Dann kann er auch in die Schweiz fahren und Edelweiß pflücken. Aber jetzt müssen wir den Jule hier allein zurücklassen. – Ich hätte wohl eine Bitte – –«

»Was soll's denn sein, Pommerle?«

»Damals sind wir aus der Schule hier vorbeigekommen, da war die Tür auf, und Musik kam aus Ihrem Zimmer. Wenn die Tür zu ist, hört man nichts. Der Jule hat aber so gern Musik. Wollen Sie nicht die Tür rasch aufmachen, wenn Sie den Jule vorbeigehen sehen? Wir fahren doch weg, dann hat der Jule nur die Meisterfamilie, und er braucht doch auch ein bißchen Freude. Nicht wahr, Herr Gumpel, wenn Sie den Jule sehen, spielen Sie ihm was Schönes vor.«

»Du kleines liebes Mädelchen! – Wenn der Jule uns die Stühle zurückbringt, die bei Meister Reichardt zur Reparatur sind, werde ich ihm was vorspielen.«

»Ach, ich danke schön.«

Beglückt zog Pommerle mit der Grammophonplatte los, nachdem sie vorher nochmals von Herrn Gumpel ermahnt worden war, recht behutsam damit umzugehen, weil sie sehr zerbrechlich sei. So trug das Kind das wertvolle Geschenk mit größter Vorsicht in beiden Händen heim.

Am Nachmittag mußten sich Benders die Platte vom Almenrausch etwa zehnmal vorspielen lassen, und immer wieder wollte Pommerle bestätigt hören, daß der Jule an dem Blumenlied seine große Freude haben werde.

Auch in den nächsten Tagen wurde die Platte so häufig gespielt, daß Pommerle das Lied bald auswendig konnte.

»Mutti«, jubelte sie, »jetzt bin ich ein richtiges Schweizermädel, jetzt kann ich alpisch sprechen!« –

Vor dem Freunde hielt Pommerle ihr Geschenk noch streng geheim. Erst am Abschiedstage sollte es ihm das Scheiden versüßen. Jule würde, die Platte unter dem Arm, heim eilen, um das Lied zu hören, würde sich freuen und nicht an sein Pommerle denken, das ihn für vier Monate verlassen hatte. Trotzdem überlegte das gutherzige Mädchen immer wieder, was es Jule noch für Freuden bereiten könne. Das Osterfest würde man gemeinsam verbringen, und Pommerle beschloß, beim Suchen der Eier recht flüchtig zu sein, damit Jule die meisten fände, denn auch Schokolade machte ihm Freude.

Das kleine Mädchen war von den Reisevorbereitungen vollkommen ausgefüllt. Was würde es alles sehen? Immer wieder begann es von Wilhelm Tell zu erzählen, und ebensooft rümpfte der Jule verächtlich die Nase.

»Pah, der Wilhelm Tell! Der ist gar nichts. Aber der Rübezahl, der kann sich in eine Maus verwandeln, er kann Steine zu Gold machen. Das kann dein Wilhelm Tell nicht. – Mir gefällt der Rübezahl viel besser, ich würde niemals aus seinem Reich 'nausgehen.«

»Oh, Jule, ich werde das Wasser sehen, auf dem der Tell bei großem Sturm gefahren ist. Dann hat er den Kahn mit dem Fuß zurückgestoßen, ist auf eine Klippe gesprungen. Die Klippe werde ich auch sehen und die Gasse, in der er den scheußlichen Geßler niedergeschossen hat – –«

»Was ist denn dabei? – Hier siehst du Rübezahls Leichenstein, Rübezahls Wurzgarten, Rübezahls Kanzel und vieles andere. Der Tell ist lange nicht so wichtig wie der Rübezahl.«

Ganz plötzlich wurde das ärgerliche Gesicht Jules sorgenvoll. Mehrmals legte er den Finger an die Nase und rieb sie kräftig.

»Es geht nicht gut aus. Ich falle heute noch in den Schmutz.«

»Warum denn, Julchen?« fragte die Kleine neugierig.

»Wenn die Nase juckt«, erwiderte Jule düster, »bekommt man entweder ein Stück Kuchen oder fällt in den Schmutz. – Ich bekomme wochentags aber keinen Kuchen vom Meister – also falle ich in den Schmutz. Gerade heute, wo es so stark geregnet hat, werde ich auf der Straße stolpern. Dann soll ich noch den Nähtisch forttragen. – Dabei werde ich stolpern, in den Schmutz fallen, der Nähtisch wird zerbrechen, und der Meister wird schelten. – Es geht nicht gut aus!« Und wieder rieb Jule die Nase kräftig.

»Vielleicht kriegste doch noch ein Stück Kuchen«, tröstete ihn Pommerle.

»Nein, nein, ich falle in den Schmutz«, beharrte Jule.

Ein Weilchen betrachtete Pommerle den sorgenvollen Ausdruck im Gesicht des Freundes. Dann lief sie hastig aus der Werkstatt. Am Ende der Straße wohnte der Konditor Hanke, der hatte viel Kuchen. Der arme Jule sollte nicht in den Schmutz fallen, sollte auch nicht den Nähtisch zerbrechen. Die zehn Pfennig, die Pommerle gestern, am Sonntag, von der Mutti bekommen hatte, wollte es eigentlich für die Schweizer Reise sparen, um mal mit der Bergbahn ein Stück an einem Berg emporzuklettern. Da aber der arme Jule heute noch in den Schmutz fallen sollte – –

»Geben Sie mir ein recht großes Stück Kuchen für zehn Pfennig. Es kann schon ein bißchen vertrocknet sein. Das merkt der Jule nicht. Er stopft alles rasch in den Mund und schluckt es 'runter.«

Die gutherzige Konditorsfrau schenkte Pommerle außer dem gekauften Kuchenstück noch zwei Anisplätzchen. Pommerle kämpfte nur einen kurzen Kampf: es aß die beiden Plätzchen nicht.

»Ich habe bald so viele Freuden in der Schweiz. Ich bekomme dort große Stücke Schweizerkäse, und der Jule bekommt sie nicht. Er soll auch die Plätzchen haben.«

Eine Minute später hielt Pommerle dem erstaunten Lehrling die Kuchenstücke hin und sagte beglückt: »Siehst du, Julchen, nun hat die Nase gejuckt, nun kriegst du viel Kuchen. Jetzt brauchst du nicht in den Schmutz zu fallen, brauchst auch den Nähtisch nicht zu zerbrechen.«

Doch der Kuchen nützte nichts. Der Jule stolperte am Nachmittag doch über die Bordschwelle und fiel auf die nasse Straße. Glücklicherweise blieb der Nähtisch heil.

»Ich hab's ja gewußt«, murmelte er, »wenn die linke Nasenseite juckt, nützt auch der Kuchen nichts.« –

An einem schönen Tage, kurz vor Ostern, bedrängte Pommerle die Eltern sehr, noch einmal nach dem Prudelberg zu gehen. Dort steckten weißrosa Blümchen schon die Köpfchen hervor.

»Väti, ich möchte dem Jule einen ganzen Haufen der lieben Blümchen schenken. Du weißt doch, Väti, wie sie heißen?«

»Ja, mein Kleinchen, im Volksmunde heißen sie: Habmichlieb.«

»Siehst du, Väti, in Jules Munde heißen sie genau so. Wenn ich ihm die vielen Blümchen gebe, heißt das: er soll mich auch lieb haben, wenn ich vier Monate in der Schweiz bin. Immerfort soll er sich dann die Blümchen ansehen. Ich behalte den Jule immer lieb, und ich denke, der Jule macht es genau so, wenn er die Blümchen ansieht.«

Am Abend desselben Tages brachte das Kind einen großen Strauß der weiß-rosalichen Frühlingsblumen ins Reichardtsche Haus. Der Meister empfing das Kind erfreut. »Ich wünsche dir recht viel Freude für die schöne Reise, mein liebes Kind. Möge sich deine gute Mutter am Vierwaldstätter See bald gut erholen und die Reise deinem Vater große und neue Ehren einbringen. Auf Wiedersehen im September, mein kleines Pommerle! Ein Blümchen aus deinem Strauß schenkst du mir doch auch? Dann weißt du, daß ich dich, auch wenn du fern bist, herzlich liebbehalten werde.«

»Machst du mir auch noch eine Freude, Meister Reichardt?«

»Gewiß, kleines Pommerle.«

»Weißt du, jeder Mensch muß seine Freude haben, ohne Freude kriegt man bald Runzeln im Gesicht. Da möchte ich – – sieh mal, Meister Reichardt, der Jule kommt nun am Sonntag nicht mehr zu uns zum Essen – –«

»Nein, der Jule ißt jetzt auch am Sonntag bei uns.«

»Der Jule mag am allerliebsten Hammelfleisch mit grünen Bohnen. Willst du dem Jule immerfort Hammelfleisch kochen, damit er an mich erinnert wird?«

»Komm, wir wollen es der Meisterin sagen; die kocht, nicht ich.«

Frau Reichardt lachte belustigt und versprach, sie werde des öfteren Hammelfleisch mit grünen Bohnen kochen, damit der Jule das Haus seines Vormundes nicht gar zu sehr vermisse.

Dann kam Jule. Mit leuchtenden Augen reichte ihm Pommerle den Strauß. »Denke mal nach, Jule, was das heißen soll. Ich sage dir gar nichts. – Hier hast du die Blumen. – Na?«

Jule nahm zögernd den Strauß.

»Na, Jule, was soll das heißen?«

Erst überlegte der Lehrling angestrengt, dann sagte er hastig: »Du bist heute in der Nähe des Prudelbergs gewesen, dort sind sie schon 'raus.«

»Nein, ich meine was anderes!«

Wieder längeres Überlegen. Dann zog Jule eine Lippe.

»Ich weiß schon«, klang es mürrisch, »wenn man einem was schenkt, soll er wieder was schenken. – Meinetwegen, ich werde dir, wenn du fortfährst, eine Tüte Bonbons kaufen.«

»Nein, Julchen, das meine ich nicht! Bonbons will ich von dir nicht haben, – aber, wenn du nicht weißt, was die Blumen bei dir sollen, – dann – – dann – –« Pommerles Stimme begann merklich zu schwanken, »dann nehme ich sie wieder mit.«

»Ich denke, ich soll die – Habmichlieb behalten, Pommerle?«

»Na, Jule, – na, endlich!«

»Was denn?« fragte er zurück.

»Jule, du bist doch mein liabs Büable, du bist so blau wie der Enzian, ach nein, so treu wie der Enzian, – aber dumm bist du auch. Wirst du mich auch liebhaben, wenn ich fort bin?«

Jule sagte nichts, nur ein Blick aus seinen guten grauen Augen kündete Pommerle, daß sein Lehrlingsherz dem kleinen blondzöpfigen Mädchen gehörte.

Das Osterfest war für Jule diesmal nicht so fröhlich wie sonst. Er wußte, daß Pommerle nur noch drei Tage in Hirschberg weilte. Dann ging das Kind fort und kam vielleicht nicht mehr wieder. Entweder blieb es in Eis und Schnee stecken oder purzelte in den See, an dem Benders Wohnung nehmen wollten. Oder es geschah sonst irgendein Unheil. Schon zweimal hatte Jule von verfaulten Weintrauben geträumt. Das bedeutete Schlimmes.

Nun suchte er emsig die schönen Schokoladeneier, die Frau Bender im Garten der Villa versteckt hatte, wie in jedem Jahr. Diesmal waren besonders schöne Eier gekauft worden, damit Jule noch eine Abschiedsfreude habe. Pommerle entdeckte natürlich rasch einige Verstecke, doch ging sie daran vorüber. Der Jule sollte die meisten finden.

»Nun, Pommerle, du scheinst nicht ordentlich zu suchen. Hast du in dem Strauch nichts gefunden?« fragte die Mutter.

Zwei Lippen preßten sich an Frau Benders Ohr. »Ich hab's schon gesehen, Mutti! Aber ich habe vier Monate lang Freude, ich laß es dem Jule. Er freut sich, wenn er recht viele findet, und ich habe schon drei Eier.«

»Es sind zwanzig Stück versteckt, mein Kleinchen.«

»Laß sie ihm, Mutti, ich habe drei und er siebzehn. Er hat dann siebzehnmal Freude, und ich habe viermal dreißig Tage Freude.

Aber der Jule suchte und suchte und hatte nach einer Stunde erst sieben Eier gefunden. Schließlich mußte ihn Frau Bender an die Verstecke führen; doch auch dabei sah Jule noch über die Eier hinweg. Gerade neben dem Strauch, unter dem ein Ei lag, blühte ein großer Busch blauer Krokus; die bestaunte der Jule. Erst als Frau Bender das Ei aus dem Strauch herausrollte, sah er es. Schließlich hatte er auch das letzte gefunden, stopfte die Taschen damit voll und strahlte über das ganze Gesicht.

»Siehst du wohl«, sagte er zu Pommerle, »heute früh habe ich den Rübezahl gebeten, er soll mich recht viele Eier finden lassen. Er hat mich gehört.«

Pommerle warf einen listigen Blick hinüber zur Mutter und schwieg.

Aber auch Professor Bender hatte für sein Mündel noch ein Ostergeschenk. »Hier, mein lieber Junge, hast du ein Buch im blauen Deckel. Brauchst es nicht zu verkaufen, es bringt nichts ein. Du bekommst höchstens dreißig Pfennig dafür, und das lohnt nicht. Aber lesen sollst du recht oft darin. Brauchst es erst daheim auszupacken.«

Am Abend des ersten Feiertages, als Jule in seinem Stübchen saß, packte er das blaue Buch aus und klappte es auf. Es war ein Bilderbuch. Unter jedem Bild ein kleiner Vers. Den ersten las er mit hochrotem Kopf.

»Mein Kind, befolge diese Lehren,
Geschenke hält man stets in Ehren.«

Das war Jules Strafe für den Versuch, die Bücher des Professors zu verkaufen!

Dann der zweite Vers:

»Sei immer höflich und bescheiden,
Dann mögen dich die Menschen leiden.«

Und noch ein dritter Vers:

»Wer Schulaufgaben niemals macht,
Bleibt dumm und wird oft ausgelacht.«

Jule klappte das Buch zu und legte es in die Kommode, ganz unten hin unter die Wäschestücke. Er schämte sich. Das brauchte weder der Meister noch die Meisterin zu sehen. Als seine Blicke dann zu dem Strauß hinübergingen, der noch frisch im Glase stand, hellten sich seine Mienen wieder auf.

»Sie müssen mich doch alle liebhaben, sonst hätten sie den Strauß nicht für mich gepflückt.« –

Der Tag der Abreise kam heran. Pommerle hatte es sich in den Kopf gesetzt, dem Jule die schöne Grammophonplatte erst auf dem Bahnhof zu geben, damit er freudevoll mit ihr heimlaufen könne.

»Sonst weint er vielleicht, Mutti, wenn er sieht, daß unser Zug abfährt. Wenn er aber ein Geschenk unter den Arm klemmen kann, freut er sich und ist nicht traurig.«

Auf dem Hirschberger Bahnhof hatten sich zahlreiche Bekannte eingefunden, denn Professor Bender und seine Familie erfreuten sich allgemeiner Beliebtheit. Auch Pommerles Schulfreundinnen waren vertreten. Man sah sogar Meister Reichardt mit Sabine und Jule. Obwohl Pommerles Herz voll freudiger Erwartung schlug, war doch ein wenig Traurigkeit darin, daß sie für so lange Zeit fortreisen sollte und keinen der lieben Menschen sehen würde. Aus dem Abteil reichte sie oftmals die Hand heraus; schließlich winkte sie Jule.

»Weil du immer so ein liabes Büble bist, sollst du noch eine Extrafreude haben. Jetzt kannst du jeden Tag das schöne Lied singen vom Almenrausch, vom Enzian und vom Edelweiß. Nun brauchst du auch nicht traurig sein, Julchen! – Hier hast du eine schöne Erinnerung an mich. Hier hast du deine große Freude.«

Jules traurige Augen hellten sich jedoch nicht auf, als er die Platte in Empfang nahm.

»Paß gut auf, Jule«, rief Pommerle, »sie geht leicht kaputt, und du sollst doch vom Almenrausch und vom Enzian singen. Oh, jetzt rutscht der Zug los! – Ich grüße euch alle tausendmal, denn jetzt geht es nach der Schweiz! – Holdrio!«

Man rief, man winkte, Pommerle lehnte sich aus dem Fenster. »Auf Wiedersehen! – Auf Wiedersehen!«

Sie sah Jules langen Arm, sah, wie er mit der Mütze schwenkte, aber sie sah nicht mehr, daß dem erregten Freunde seine Grammophonplatte unter dem Arm herausglitt, auf den Bahnsteig fiel und zerbrach.


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