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Von der Reise zurück

»Sie kommen! Sie kommen endlich!« Es war Jule Kretschmar, Meister Reichardts lang aufgeschossener Lehrling, der die Worte schrill herausstieß. Jeden Tag, sobald Feierabend angesagt worden war, lief der Jule hinaus zur Villa Professor Benders, in der Hoffnung, daß Pommerle mit den Eltern endlich zurückgekehrt sei. Er glaubte nicht an die Briefe, in denen stand, daß man erst Mitte September zurückkehre, er glaubte an seinen Traum, den sein Traumbuch dahin deutete: es kommen Freunde von der Reise zurück.

Vier Wochen lang war der Jule zur Villa gelaufen, vier Wochen lang alltäglich mit schwerem Herzen zu seinem Meister zurückgekehrt. Die Meisterin meinte, ehe Anna nicht ans Aufräumen der Villa herangehe, ehe Jule nicht weit geöffnete Fenster sähe, die blitzblank geputzt würden, könne man Benders nicht zurückerwarten.

Der Jule sah aber nicht, ob die Fenster blitzblank geputzt sind oder nicht. Trotzdem wußte er Rat. Er tauchte den Pinsel tief in den heißen Leim und ging damit zur Villa. Als er sich unbeobachtet wußte, machte er über zwei Scheiben je einen langen, schrägen Pinselstrich. Der Leim erhärtete an den Scheiben alsbald, und nun konnte man mit Leichtigkeit feststellen, ob die Fenster geputzt waren oder nicht. – Jeden Tag sah er nun an die beiden Leimstriche; ein Zeichen, daß Benders noch nicht kamen.

»Sie kommen, sie kommen endlich!« Die Leimstreifen waren verschwunden, die Fenster blitzten. Vielleicht waren sie schon da. Jule drückte auf die Klingel, drückte immer wieder, bis das Hausmädchen Anna vor ihm stand und ihn anfuhr:

»Jule, was fällt dir denn ein? Was soll das minutenlange Klingeln?«

»Wo ist Pommerle?«

»Verreist!«

»Sie is doch schon da, ich weiß es genau. – Wo ist sie denn?«

»Professor Bender kommt mit seiner Familie erst am Sonntag zurück.«

Jule schüttelte ungläubig den Kopf. »Ach wo, sie sind doch schon da.«

»So komm herein und überzeuge dich.«

Das erste, was ihm entgegenschallte, war der Ruf des Papageis: »Schafskopf – Schafskopf!«

»Warum kommen sie erst am Sonntag?«

»Weil es der Herr Professor so bestimmt hat.«

»Immer wird es so gemacht, wie er es haben will«, brummte der Jule. »Das Pommerle will längst nach Hirschberg zurück. Doch man kümmert sich eben nicht um die Wünsche des Kindes. – Nu' geb' ich dem Professor den schönen Stein nicht, den ich gefunden habe. – Ist er vielleicht doch schon hier?«

»Ach, Jule, stell' dich nicht so dämlich! Andere Burschen deines Alters benehmen sich viel gescheiter als du. Will dir der Verstand gar nicht kommen?«

Nachdem Jule das Kinderzimmer besichtigt hatte und auch hier sein Pommerle nicht fand, lief er, ohne Anna noch eines Blickes zu würdigen, grußlos davon. Er beschloß, morgen wiederzukommen, denn er glaubte der Anna nicht. Sie mochte ihn nicht, das wußte er und wollte gewiß mit Pommerle in den ersten Tagen nach der Rückkehr allein sein. Auf der Straße blieb er stehen und erhob drohend die Faust gegen das Bendersche Haus.

»Dir will ich deinen Schwindel gehörig anstreichen! Morgen sind sie ganz gewiß daheim.«

Tischlermeister Reichardt hatte in letzter Zeit allerlei Aufregungen mit dem Jule. Vor vier Wochen hatte ihm Pommerle geschrieben, daß es bald heimkommen werde. Dieses »Bald« war von Jule völlig mißverstanden worden. Er ließ sich nicht ausreden, daß Benders in den nächsten Tagen eintreffen müßten, er bereitete alles vor, um seine Freundin zu begrüßen. Der kleine Tisch und der Stuhl standen fix und fertig in seinem Zimmer. Mit Liebe und größter Sorgfalt waren die Arbeiten ausgeführt worden, und der Meister mußte seinen Lehrling loben. Nach Feierabend hatte der Jule diese Stücke angefertigt und keine Mühe gescheut. Tagelang quälte er sich auch damit ab, für Pommerle ein Gedicht zu machen. Es gelang ihm nicht. Pommerle schrieb von schönen Alpenliedern, die sie gelernt habe; sie würde von nun an noch viele schlesische Lieder lernen, damit sie, wenn sie wieder einmal nach der Schweiz komme, alle schlesischen Lieder dort singen könne.

Als Jule diese Stelle des Briefes gelesen hatte, stieß er einen Fluch aus. Für ihn stand fest, daß Pommerle bald wieder in die Schweiz fahren werde. Vielleicht gar nach Italien zu Professor Tschingschingtrata. Nun, – er würde seine Freundin mit tausend Ketten an die Heimat fesseln! Da er wußte, daß Pommerle die schlesischen Berge über alles liebte, wollte er ihm ein schönes Gedicht machen, das auf die Berge passe.

Jeder Zeitungsrand wurde von Jule bekritzelt, doch kam er über die beiden ersten Zeilen nicht hinaus. Kopfschüttelnd las die Meisterin die unorthographischen Ergüsse.

»Schneekoppe, – du höchster Berg der Welt,
Ich bleibe immer auf dir, weil es mir dort gefellt!«

Auf einem anderen Zeitungsrand war zu lesen:

»Riesengrund, wie bist du scheen tief,
In der Schfeiz hat schon manch einer ein Hühnerauge gekrikt,
Aber nicht im Riesengebirge,
Denn das ist nicht so hoch, aber doch scheener – –«

Schließlich gab der Jule das Dichten auf. Er fragte aber die Meisterin, ob sie ein Gedichtbuch habe, daraus wolle er dem Pommerle ein Gedicht abschreiben. Als der Jule aber das dicke Buch sah, in dem alle Seiten bedruckt waren, legte er es verächtlich beiseite. Es ging auch ohne Gedicht; das Schreiben war sowieso nicht nach seinem Geschmack.

Am Mittwoch war der Jule wieder in der Villa.

»Ich habe dir doch gesagt, Jule, daß Benders erst am Sonntagnachmittag heimkommen.«

»Ich will nachsehen.«

»Meinetwegen, laufe durch die Zimmer, doch störe mich nicht beständig. Ich habe noch viel zu säubern und zu putzen. Die Wohnung soll blitzblank sein.«

Jule stellte fest, daß tatsächlich noch niemand außer Anna im Hause war. Er klagte Sabine sein Leid, die ihn tröstete.

»Hast du es so lange ohne Pommerle ausgehalten, wird es auch noch die drei Tage gehen.«

In der Nacht träumte der Jule von einer Kirche. Das bedeutete eine unerwartete Freude. Es war sicher, daß Benders heute heimkamen. So nahm er am Donnerstag nach Feierabend den selbstgefertigten Stuhl, um ihn als Willkommensgabe in Pommerles Stübchen zu stellen.

»Sind sie schon da?« fragte er Anna.

»Zum Kuckuck, Jule, sie kommen doch am Sonntag!«

»Ich will nachsehen.«

Noch immer alles vereinsamt. Jule stellte den Stuhl in Pommerles Zimmer und suchte lange nach einem geeigneten Standort. Er rückte ihn bald hierhin, bald dorthin, damit er die rechte Beleuchtung habe. Dann ging er seufzend heim. Vielleicht kamen Benders erst des Nachts. Morgen würden sie bestimmt da sein! So fand sich Jule am Freitag wieder ein. Diesmal brachte er den kleinen Tisch mit.

»Sitzen sie schon beim Abendbrot?«

»Mach' mich nicht böse, Jule! Das ist ja gerade, als ob ich einen Irrsinnigen vor mir hätte. Wenn du dir mal was in deinen dicken Kopf gesetzt hast, ist es nicht wieder 'rauszukriegen. Sie kommen am Sonntag.«

»Will mal nachsehen«, erwiderte der Jüngling trocken. Und wieder ging er von einem Zimmer ins andere. Schließlich setzte er den Tisch mit hörbarem Krach auf den Boden. »Du hast weder einen Tisch noch einen Stuhl verdient, wenn du nicht heimkommst, du gräßliche Pflanze.«

In der Nacht vom Freitag zum Sonnabend träumte Jule, daß Pommerle an seinem Bett stehe. Obwohl er tatsächlich erst Sonntagnachmittag in die Bendersche Villa gehen wollte, hielt er es nach diesem Traum nicht mehr daheim aus. Er beschloß so lange zu warten, bis die Haustür geöffnet sei und dann ganz heimlich ins Haus zu schleichen, damit ihn Anna nicht wieder anschrie. Um Pommerle noch eine Freude zu bereiten, pflückte er einen großen Strauß Feldblumen, mit dem er strahlenden Gesichtes zur Villa eilte.

Anna harkte den Vorgarten. Sie sah den Jule kommen und lachte ärgerlich.

»Meinetwegen, den Strauß kannst du hierlassen. Ich stelle ihn Benders ins Zimmer.«

»Er ist für Pommerle. – Wo ist Pommerle?«

»Noch auf der Reise. Wenn du noch lange fragst, dann – dann –« Anna machte eine Handbewegung, die Jule zum Zurückweichen veranlaßte. Schnell wie der Blitz war er im Hause verschwunden.

»Pommerle! – Pommerle!« erklang es.

Anna hörte den erregten Burschen rufen, hörte das Zuschlagen der Türen und sah, wie Jule mit grimmigem Gesicht aus dem Haus herausgelaufen kam, den Blumenstrauß in der Hand.

»Jule, so laß doch die Blumen hier«, rief ihm Anna nach, als er krachend die Gartenpforte hinter sich zuwarf.

Jule erwiderte nichts. Aber auf der Straße murmelte er unablässig: »Ich hab' 'ne Wut im Leibe, eine Wut – –«

Er nahm den Weg über die Apotheke und sah vor der Tür die blondzöpfige Else, die Tochter des Apothekers, stehen. Genau solche Zöpfe hatte Pommerle. Ungebärdig drückte er dem Mädchen den Blumenstrauß in die Hand. »Hier hast du was!«

Das kleine Mädchen war so überrascht, daß es Jule kein Wort des Dankes sagte. Der stürmte schon wieder weiter. In seinem Zimmer holte er das Traumbuch aus der Kommode und warf es wütend auf den Fußboden.

»Rein nischte als Lüge und Schwindel steht drin! Jetzt seh' ich gar nich' mehr nach. – Morgen kommen sie auch nicht! – Pommerle bleibt in der Schweiz und reitet auf dem hohen Esel. – Sie kommt nie mehr zurück, – nie mehr!«

Bei diesem Gedanken wurde dem armen Jule recht jämmerlich zumute. Mehrfach schluckte er die aufsteigenden Tränen energisch hinunter, und nur die leise Hoffnung, daß Pommerle morgen vielleicht doch käme, tröstete ihn ein wenig.

Um Pommerle noch eine Freude zu bereiten, pflückte er einen großen Strauß Feldblumen, mit dem er strahlenden Gesichts zur Villa eilte.

Zwischen Glauben und Hoffen wurde Jule hin und her gerissen, und als er abends in seinem Bett lag, rief er laut:

»Ich hab' 'ne Wut im Leibe, eine Wut – –«

Der Sonntag war ein strahlender Septembertag. Schon beim Frühstück sprach die Meisterin davon, daß Benders heute abend, gegen sechs Uhr, kämen.

»Na, Jule, da wirst du wohl zum Abendessen bei Benders sein?«

»Pah, ich lasse mich nicht immerfort beschwindeln.«

Die sanfte Sabine beschwichtigte Jules Grimm. Sie meinte, Benders kämen heute ganz bestimmt. Wenn er zur Bahn ginge, könne er sie abholen.

Jule fühlte sein Herz vor Erregung heftig pochen. Das Mittagessen schmeckte ihm nicht, obwohl die Meisterin, Pommerles Bitte eingedenk, heute sogar Hammelfleisch mit grünen Bohnen gekocht hatte.

Gleich nach dem Essen eilte der Jule zur Villa.

»Ja, ja, Jule«, rief ihm Anna entgegen, die in der Küche stand und für ein warmes Abendessen alles vorbereitete, »heute um sechs Uhr kommen sie wirklich.«

Jules Gesicht glänzte wie die Sonne. Andachtsvoll betrat er Pommerles Zimmer, um nachzusehen, ob auch alles in Ordnung sei. Da stand der niedliche Tisch und der dazu passende Stuhl, liebevoll von ihm angefertigt. Ob Pommerle Freude empfand, wenn, wie damals, vor der Reise, alle Puppen in der Stube herumsaßen? Zwei hatte sie freilich mitgenommen, die mit dem zerrissenen Leib und die mit den eingedrückten Augen. Da aber Jules ganzes Denken jetzt darauf gerichtet war, seinem Pommerle einen wunderschönen Empfang zu bereiten, da er wußte, wie die Kleine ihre Puppen liebte, holte er aus der Kommode die dort verwahrten Puppenkinder hervor. Er warf sie aufs Bett, doch das gefiel ihm nicht. Pommerle setzte die Puppenkinder immer ordentlich auf Stühle oder gegen die Wand.

»Nicht mal ein Kleid haben sie an.«

Und nun begann der Jule die Puppenkinder anzuziehen. Die Arbeit ging ihm nicht leicht von den Händen, denn die Kleider paßten nicht. Mitunter zog er sie auch verkehrt an, brachte es sogar fertig, die Beinkleider des Granit dem Fenchel als Jacke anzuziehen. Doch das störte ihn nicht. Endlich waren die Puppen bekleidet und wurden von Jule an die Wand gesetzt.

»Ob sie sich freut?« sagte er halblaut vor sich hin, sein Werk betrachtend. »Jetzt fehlt nur noch ein Willkommensschild.«

Zu dumm, daß er den Blumenstrauß verschenkt hatte. Er würde einen neuen holen. Einen schönen! Vom Gärtner! Für Pommerle konnte er eine Mark opfern.

Dann suchte der Jule ein großes Stück Pappe, schnitt es rund, ging in des Professors Arbeitszimmer hinüber, nahm einen Blaustift vom Schreibtisch und schrieb groß und dick: »Filkommen!« Die Pappe hing er in Pommerles Zimmer an die Wand.

Wieder wurde Anna ärgerlich, denn Jule kam alle Viertelstunden gelaufen und fragte, ob der Zug bald da sei.

»So schau doch selbst nach der Uhr, du großer Junge. Hättest dir längst eine Uhr kaufen sollen. Bist bald Geselle und hast so gut wie gar nichts.«

»Haben Sie auch ein gutes Essen gemacht? Sie sind alle furchtbar verhungert, wenn sie von der Schweiz kommen.« Da Jule seinen eigenen Magen knurren hörte, interessierte ihn das heutige warme Abendessen gewaltig.

Es war fünf, als sich Jule auf den Weg zum Bahnhof machte. Dort saß er und starrte auf die Schienen, wartete darauf, daß sie zu summen anfingen. – Er sah einen Zug herankommen. Ein Schwindelgefühl überkam ihn. Am liebsten hätte er laut schreien mögen. Pommerle kam endlich heim, sein liebes Pommerle war wieder in Hirschberg!

Noch hielt der Zug nicht, da rannte Jule an den Wagen entlang. In höchster Erregung rief er: »Pommerle, – Pommerle, – Pommerle!«

Er stieß bald gegen diesen, bald gegen jenen Reisenden, riß den Stationsvorsteher fast um, – doch von Pommerle war nichts zu sehen, denn dieser Zug war nicht der rechte. Der Zug fuhr wieder ab, der Stationsvorsteher holte sich den Jüngling heran und zankte ihn wegen seines Betragens gründlich aus.

»Um sechs Uhr eine Minute kommt der Zug aus Görlitz. – Nehmen Sie sich zusammen, daß Sie nicht wieder solche Wirtschaft auf dem Bahnsteig machen!«

Da zog es der Jule vor, den Bahnsteig zu verlassen und Pommerle daheim zu erwarten. Dort konnte er rufen und sich freuen, soviel er wollte. Er würde Pommerle in ihr Zimmer ziehen. Dort schalt niemand.

Jule warf noch einen finsteren Blick auf den Vorsteher, und wieder murmelten seine Lippen: »Ich hab' 'ne Wut im Leibe, eine Wut – –« Dann rannte er, wie gehetzt, der Benderschen Villa zu. Hier würde ihn niemand schelten. Nicht einmal freuen durfte man sich, wenn die Freundin zurückkehrte!

Anna schloß die Tür der Küche ab und gab dem Jule, der draußen stand und Frage auf Frage an sie stellte, keine Antwort mehr. Da ging er zurück ins Zimmer, stand vor der Uhr und verfolgte den Zeiger.

Sechs Uhr! Nun noch eine Minute! – Nun war der Zug da. –

»Pommerle, – Pommerle, – Pommerle«, murmelten seine Lippen. Dann lief er hinaus in den Garten, betrat die Straße, ging zurück ins Haus, hinein in Pommerles Zimmer, rückte noch einmal Stuhl, Tisch und den Blumenstrauß zurecht und war schon wieder im Vorgarten.

»Pommerle, – Pommerle, – Pommerle – –«

Ein Auto kam heran, mußte aber vorzeitig halten, sonst wäre der Jule direkt in den Wagen gelaufen. – Dann wußte er nichts mehr als das eine: daß er Pommerle umarmte und fest an sich drückte, daß er sie fest an der Hand hielt und durch den Garten zog, hinein in ihr Zimmer. Was Pommerle anfangs sagte, hörte er nicht. In seinem Herzen sang und klang es: Pommerle ist da!

»Ach du guter, lieber Jule, du allerbester Jule! Ist das alles mein Eigentum? Oh, so ein wunderschöner Stuhl, – ach, so ein feiner Tisch! – Ach, guten Tag, Marmora, Erika und Granit! Seid ihr auch gesund gewesen, Kalk und Basalt?«

Alle Puppenkinder wurden begrüßt, wieder wurde der Jule umhalst, wieder gaben beide ihrer Wiedersehensfreude stürmischen Ausdruck.

Professor Bender und Gattin kamen herein. Jule hörte kaum, was sie sagten. Er schielte nur ständig angstvoll nach Pommerle, das ihm an diesem Abend allein gehören sollte.

Dann ging es zum Abendessen. Jule hätte zwar, trotz seines Hungers, lieber mit Pommerle allein geredet. Als ihn aber der Bratenduft dann in der Nase kitzelte, empfand er es doch recht angenehm, auch etwas für den Magen zu bekommen.

So saß man endlich wieder, wie früher an den Sonntagen, gemütlich am Eßtisch. Der Professor fragte den Jule nach manchen Dingen, erzählte vielerlei von der Reise, und zwischendurch plauderte Pommerle von der schönen Schweiz und ihrer großen Sehnsucht nach der Heimat.

»Ich hab' dir was mitgebracht, lieber Jule. – Hier hast du das schöne Edelweiß, ich habe es selbst gepflückt. Es wächst zwischen den Steinen, ganz hoch oben am Pilatus-See. Ach, es ist sehr schön! Jetzt steck' dir mal gleich das Edelweiß an die Jacke.«

Als Jule keine Miene machte, den Wünschen der Freundin nachzukommen, nahm Pommerle die Blüte. »Jule, was hast du denn da für vertrocknetes Zeug im Knopfloch stecken?«

Jule wurde rot. Pommerle hatte ihm kurz vor der Abreise ein selbstgepflücktes Sträußchen Habmichlieb geschenkt. Einen Teil dieser Blüten trug er am Arbeitskittel, den anderen am Sonntagsanzug. Jedesmal, wenn er darauf niedersah, glaubte er Pommerles Stimmchen zu hören: Ich hab dich lieb. Das vertrocknete Kraut war ihm ein Heiligtum.

»Was ist denn das, Jule? Schmeiß es fort und nimm dafür das schöne Edelweiß.«

Die Kleine wollte die vertrockneten Stengel aus dem Knopfloch ziehen. Doch da wurde der Jule grob. »Das sind meine Blumen, Pommerle, die gehen dich gar nischte an. Ich laß sie mir nicht wegnehmen.«

»Aber Jule«, tadelte Professor Bender, »kaum ist Pommerle zurück, da fährst du sie so häßlich an.«

»Sie soll mich in Ruhe lassen«, sagte der Jule, der sich schämte, daß er an die Blüten von einst erinnert wurde; der seine Gefühle so ungern zeigte. Er glaubte daher, durch Grobheit alles wieder ausgleichen zu können.

»Behalte ruhig die verdorrten Stengel«, sagte Pommerle herzlich, »aber das Edelweiß verwahre auch gut. Es gibt nur ganz wenig Blümchen davon. Du, Jule, in dem Pilatus-See, an dem sie wachsen, schwimmt der tote Pontius Pilatus.«

»Haste ihn gesehen?«

»Nein, die Leute sagen es.«

»Quatsch!«

»Ach, Jule, ich hab' viele komische Sachen gesehen: eine Berglokomotive, sie hat vorn ganz kleine Räder und hinten große. Einmal haben wir, fünf Menschen, in einem Heubett zusammen geschlafen – –«

»Red' doch keinen Unsinn, Pommerle, ich glaub' dir das doch nicht. – Bist ja auch auf einem Esel geritten, der zweitausend Meter hoch war. Pah, so dumm ist der Jule nicht!«

Pommerle lachte fröhlich. »Julchen, dieser Esel ist doch kein richtiger Esel – –«

»Du, ich laß mir nischt vorreden«, rief der Jule ergrimmt. »Du brauchst mir überhaupt nischte aus der dummen Schweiz zu erzählen. Ich weiß schon, wie es dort aussieht. Wir haben hier auch Berge. Sei nur still ...«

»Ich glaubte, mein lieber Jule, du würdest dich über unsere Rückkehr freuen«, sagte Frau Bender, »doch nun bist du gleich am Tage unserer Ankunft wieder wild und störrisch.«

Darauf sagte Jule nichts mehr. Er aß hastig seinen Teller leer und hörte widerwillig auf die Erzählungen des Vormundes.

Als man vom Essen aufstand, klopfte ihm der Professor liebevoll auf die Schulter. »Du lieber, dummer Junge! Ich weiß doch, daß du dich riesig freust, Pommerle endlich wiederzuhaben und uns auch. Warum verbirgst du deine Gefühle hinter einem so grimmigen Gesicht?«

Jule erwiderte nichts. Er ging zu Pommerle, nahm sie an der Hand und zog sie wieder ins Kinderzimmer.

Dort angekommen, war Jule völlig verändert. Vor Pommerle brauchte er seinen Gefühlen keinen Zwang anzulegen. Und wieder wallte die Freude in ihm auf: denn nun würde Pommerle nicht so bald wieder Hirschberg verlassen, nun blieb sie daheim.

»Willste nicht jetzt das Edelweiß anstecken, Julchen? Ich hab' es doch für dich gesucht. Auf der ganzen Reise hab' ich danach gesucht.«

Vorsichtig löste Jule die verdorrten Stengelchen aus dem Knopfloch.

»Du, das schmeißen wir weg!«

»Nein, Pommerle, nein, das ist doch dein Habmichlieb. Das behalte ich.«

Erst wußte das kleine Mädchen nicht, was der Freund meinte, doch bald kam ihm die Erinnerung an den Abschiedsstrauß zurück.

»Ach, du lieber, lieber Jule!« Sie küßte ihn auf die Nasenspitze, auf die Wangen und auf die Ohren. Der Jule hielt mit glücklichem Ausdruck ganz still. »O Jule, ich hab' dir so viel aus der Schweiz zu erzählen; von den Alpenrosen, von dem blauen Enzian und dem Edelweiß. – Du, Jule, hast du oft das Lied gesungen?«

»Das Edelweiß ist ein schönes Blümchen.«

»Kannste den Vers auswendig, der auf der Grammophonplatte steht?«

»Wirklich, ein sehr schönes Blümchen ist das Edelweiß.«

»Jule, ich möchte doch wissen, ob du das Lied auswendig kannst, das ich dir bei der Abreise schenkte.«

»Nein«, erwiderte Jule mit tief gesenktem Kopf.

»Ach, du Faulpelz! Morgen komme ich zu dir, dann spielen wir die Platte so oft, bis du sie kannst.«

»Pommerle, – die können wir nicht spielen.«

»Doch, Jule, wir spielen sie.«

»Sie ist kaputt!« stieß er hervor. »Gleich auf dem Bahnhof ist sie kaputtgegangen. – Sie läßt sich nicht leimen.«

Nun mußte der Jule von dem schlimmen Vorfall berichten.

»Darum hast du auch nie was geschrieben, wenn ich fragte, du guter, lieber Dollpatsch!«

»Ja, Dollpatsch bin ich in deinen Augen! Du machst dich auch oft lustig über mich.«

»Ach nein, Julchen, wer solch einen schönen Tisch und Stuhl machen kann, ist ein kluger Mensch. Wenn du auch nicht immer richtig schreiben kannst, macht es nichts, das kann ich auch nicht. Ich mach' mich über dich nicht lustig.«

»Doch, doch«, beharrte er. »Du bist auf einem Esel geritten, der zweitausend Meter hoch sein soll. – Wie biste denn hinaufgekommen?«

»Da gehen Treppen hinauf.«

»Na, das ist doch Quatsch, Pommerle! Auf einen Esel gehen keine Treppen.«

Nun lachte das Kind hell auf. »Jule, haste wirklich geglaubt, daß es ein vierbeiniges Eselstier ist? Ach, Jule, ein Berg heißt so! Du bist doch auch schon auf dem Ziegenrücken gewesen, auf unserem schlesischen Berg, der dort drüben liegt. So einen hohen Rücken hat auch keine Ziege.«

»Ach so, das ist auch ein Berg? Das hast du aber nicht geschrieben. Du hast mir immer nur geschrieben, du bist auf den Esel gestiegen, der zweitausend Meter hoch ist. Da habe ich mich furchtbar geärgert. Ja, wenn es so ist – –«

»Aber lieber Jule, das mußtest du dir doch denken. Viele Berge haben komische Namen. Hier bei uns der Reifträger und das hohe Rad, und das ist auch kein Rad. – Ach, du lieber, dummer Jule!«

»Hast du nu' in der Schweiz keine Sehnsucht gehabt nach der Schneekoppe?«

»Ach ja, Jule, massenhaft«, klang es leise. »Ich bin auf ganz hohe Berge hinaufgekommen und habe immer gedacht, ich würde die liebe Schneekoppe sehen. Aber ich habe sie nicht gesehen. Nur den Schwarzwald. – Jule, manchmal war mir schrecklich traurig ums Herz, da wäre ich am liebsten heimgelaufen. – Ach, Jule, einmal war es ganz besonders schlimm. Da hat der Väti gesagt, wir fahren in acht Tagen heim. Dann war es wieder nichts. Da habe ich furchtbar geweint.«

»Warste da auch auf einem hohen Berge?«

»Nein, Jule, da war ich nur auf einer Bank am Vierwaldstätter See. Und auf einer Bank daneben haben zwei Männer gesessen, die hatten so ein Klimperding, so 'ne Laute. Dann haben sie angefangen zu singen, und da habe ich geweint, Jule.«

»Weil sie gesungen haben, Pommerle? Ich singe doch auch manchmal?«

»Ja, Jule, sie haben so ein schönes Lied gesungen, das haben sie mir dann noch einmal gesungen, weil ich ihnen das Schönste und Liebste, was ich hatte, schenkte, mein kleines, süßes Edelweiß. Aber ich wollte, daß sie das Lied noch mal singen sollten. Dann hab' ich wieder geweint.«

»Was haben sie denn gesungen?« fragte der Jule neugierig.

»Gleich sage ich es dir.« Pommerle ging zur Wand, an der ein Bild von der Schneekoppe hing. Sie stellte sich davor und begann zu singen:

»Wenn du noch eine Heimat hast,
So nimm den Ranzen und den Stecken
Und wandre, wandre ohne Rast,
Bis du erreicht den teuren Flecken.
Ob du ein Bettler, du bist reich,
Ob krank dein Herz, dein Mut beklommen,
Gesunden wirst du allsogleich,
Hörst du das süße Wort: Willkommen!«

»Hm!« sagte der Jule und weiter nichts. Doch in Pommerles Augen glänzten wieder Tränen.

»Ach, Jule, an dem Tage wollte ich auch meinen Ranzen und meinen Stecken nehmen und ohne Ruh und Rast nach Hirschberg wandern. Aber es ging nicht. – Es war schlimm! Und wenn wir nicht bald heimgefahren wären, wäre ich am Vierwaldstätter See gestorben.«

Voller Angst legte Jule beide Arme um Pommerle. »Nun bist du aber wieder hier, und nun bleibst du hier!«

»Ja, Jule, aus meinem lieben Deutschland gehe ich nicht so fix wieder 'raus, damit ich nicht wieder so große Sehnsucht habe. – Hier bleibe ich jetzt sitzen.« Dabei ließ sich Pommerle auf dem neuen Stühlchen nieder. »Hier ist meine Heimat – hier bin ich zu Hause.«

»Freut dich das?« Jule wies auf Tisch und Stuhl.

»Fürchterlich, lieber Jule. Weil du es gemacht hast, ist es mir besonders lieb. Und auch wenn ich ganz alt bin, behalte ich den Stuhl. Da setze ich mal alle meine Kinder hinein.«

»Ich habe mir auch große Mühe gegeben«, sagte der Jüngling stolz. »Wenn was nicht glückte, habe ich es wieder anders gemacht. Der Meister hat gesagt, – doch das darfst du dem Professor nicht sagen, das mag ich nicht –, Meister Reichardt hat gesagt, der Tisch und der Stuhl wären so schön gemacht wie ein Gesellenstück. Er hätte es kaum besser machen können.«

»Soviel Mühe hast du dir meinetwegen gemacht, du gutes Julchen! – Ach, du liebes Julleinchen, ich hab' dich doch so furchtbar gern!«

Die Unterhaltung der Kinder wurde durch das Eintreten der Eltern unterbrochen. Pommerle ging mit dem Stuhl auf die Mutter zu.

»Mutti, der Jule ist ein Künstler, er wird mal ein berühmter Möbeltischler. – Sieh nur, wie schön er alles gemacht hat. Der Meister hätte es kaum besser gekonnt.«

Benders betrachteten eingehend das Geschenk.

»Ich freue mich, lieber Junge«, sagte der Professor, »ich sehe, du hast gute Fortschritte gemacht. Das hier ist saubere Arbeit. Wenn du nur etwas mehr im Schreiben und Lesen leisten wolltest! Mit den Händen aber geht die Arbeit gut voran; ich freue mich wirklich über dich.«

Der Jule wurde dunkelrot, denn das Lob des Vormundes beglückte ihn.

»Und damit du siehst, mein lieber Junge«, fuhr Bender fort, »daß wir in der Ferne an dich gedacht haben, bringen wir dir etwas mit, was du gut brauchen kannst. Gerade in der Schweiz fertigt man die besten Uhren an. – Hier, Jule, hast du eine Armbanduhr.«

Jule kniff die Augen zusammen. Er nahm die Uhr zunächst nicht, er sah Bender mißtrauisch an. Rübezahl hatte auch mal einen Handwerksburschen gefoppt und ihm eine Uhr hingehalten, die später ein Stein war. Oder war es eine Spielzeuguhr, wie man sie beim Kaufmann Tiegel für zwanzig Pfennige zu kaufen bekam?

»Na, Jule, willst du die Uhr nicht? Mußt ein wenig vorsichtig mit ihr umgehen. Ich dachte mir, daß ein junger Mann, der Ostern Geselle wird, eine Uhr brauchen könne. Laß dir erst vom Meister Unterricht erteilen, wie man sie behandelt.«

»Eine richtige Uhr, – für mich?«

»Ja Jule. Es ist keine goldene, es ist eine Stahluhr, mit allerbestem Werk. Eine Uhr, wie sie ein tüchtiger Handwerker braucht.«

»Herr Professor, wirklich – für mich?«

»Ach, Jule, du bist ein merkwürdiger Bursche! Hast du nicht gehört, daß sie unser Mitbringsel für dich ist?«

Nun nahm der Jule behutsam die Uhr. Seine Augen glänzten. Eine Armbanduhr! Wie oft hatte er sich eine solche Uhr schon gewünscht, doch sie erschien ihm unerschwinglich. Wohl hatte er einiges Geld gespart, doch dafür eine Uhr kaufen, das wäre Verschwendung gewesen. Und nun hielt er eine solche Uhr in der Hand. – Sie tickte lustig.

»Wollen wir sie umbinden?« fragte Bender väterlich.

Jule hielt dem Vormund steif den Arm hin. Er nahm den Arm auch nicht herunter, als der Lederriemen längst um sein Gelenk lag, er stand wie eine Bildsäule und starrte auf die Uhr.

»Gefällt sie dir?«

Da kam endlich Leben in den Jule. »Ich habe eine Uhr, ich hab' eine feine Armbanduhr. – Ach, ist das eine schöne Uhr! Jetzt mache ich Ihnen als Gesellenstück ein schönes Schränkchen, Herr Professor, mit Glasscheiben, um seltene Steine hineinzulegen. – Ach, ich habe eine Uhr, und jetzt ist es acht Uhr und vier Minuten. – Ich hab' eine Uhr – –«

Den Dank vergaß der Jule natürlich wieder. Doch Bender ließ sich an seiner Freude genügen.

Man saß noch ein ganzes Weilchen beieinander und erzählte, doch wurden die Berichte häufig von Jule unterbrochen, der nach seiner Uhr schaute:

»Jetzt ist es acht Uhr zwanzig.«

»Weißt du, Jule«, sagte Pommerle, »du müßtest jetzt noch ein bißchen was im Schreiben lernen. Sieh mal, der Zettel an der Wand ist auch falsch. Es heißt doch Willkommen, weil ich nämlich kommen will. Und die Schweiz schreibt sich auch anders als du geschrieben hast.«

»Wenn du nicht mehr hinfährst, brauche ich das nicht zu wissen. – Und jetzt ist es acht Uhr und zweiundzwanzig.«

»Wollen wir nicht, wenn wir zusammensitzen, ein bißchen Schule spielen? Wir schreiben lauter schwere Worte, dabei lernen wir viel. Wenn du mal ein berühmter Tischlermeister werden willst, mußt du auch gut schreiben lernen. – Jule, willst du?«

»Ich will alles, was du willst«, sagte der Jule sanft. »Pommerle, auf meiner schönen Uhr ist es jetzt acht Uhr dreiundzwanzig. – Sieh mal, wie der Zeiger immer weitergeht.«

»Wenn ich mal siebzehn Jahre alt bin, bekomme ich auch eine Uhr. Und nun, Jule, lernen wir zusammen Schreiben und Lesen. Wir fangen gleich in der nächsten Woche an. Sollst mal sehen, wie sich der Väti freut, wenn du ihm wieder einen Brief schreibst, der ohne Fehler ist.«

Jule betrachtete nur immerfort seine Uhr. »Acht Uhr vierundzwanzig«, murmelte er.

Nach kurzer Zeit sagten Benders dem Jule, er solle Pommerle verlassen, sie sei von der Reise ermüdet und müsse zu Bett.

»Ja«, sagte er, »jetzt ist es acht Uhr vierundvierzig, und Pommerle muß schlafen. Jetzt weiß ich auch, daß du nicht mehr fortfährst, daß du morgen auch hier bist, wenn ich wiederkomme. – Gute Nacht, Pommerle, träume was recht Schönes und habe vielen Dank für das Edelweiß.«

Im Flur rief Bender den Jule an. »Ich möchte noch ein paar Worte mit dir reden. Komm in mein Zimmer.«

»Was hab' ich denn wieder gemacht?« fragte Jule und blickte sorgenvoll drein.

Der Professor antwortete nicht auf seine Frage, schloß die Tür hinter sich und ließ Jule niedersitzen.

»Mein lieber Junge, ich habe heute gesehen, mit welcher Freude du uns empfangen hast. Besonders deine große Liebe zu unserem Pommerle hat mich gerührt. Du magst noch so sehr maulen und brummen, ich weiß, daß du an uns hängst und daß du zu deinem Vormund Vertrauen hast. Schau, Jule, solange ich lebe, werde ich an dir Vaterstelle vertreten und will, daß du auch in mir deinen Berater und Freund siehst. Du bist nun siebzehn Jahre alt, bist kaum über Hirschbergs Grenzen hinausgekommen und kennst die Welt nicht. Daher malt sie sich in deinem Kopfe anders, als sie in Wahrheit ist.«

Jule hob die Augen und schaute ein wenig unsicher auf den Vormund. Da dessen Ton aber nicht streng, sondern recht liebevoll war, brauchte er nicht zu fürchten, daß eine Strafpredigt herauskam.

»Ich bedank' mich auch recht schön für die Uhr, das habe ich vorhin vergessen, – weil ich mich so furchtbar freute. Es ist wirklich eine feine Uhr, und ich werde gut aufpassen, daß sie bis an mein Lebensende nicht kaputtgeht.«

»Na, Jule, bei deinem Temperament wird dieser gute Vorsatz nicht ausführbar sein. Doch nun will ich dir noch etwas ans Herz legen, mein guter Junge. Ich habe mich vorhin recht herzlich über mancherlei freuen können; saubere Tischlerarbeit wurde geliefert, so daß ich glauben kann, daß du im Handwerk einmal etwas Gutes leisten wirst. Dann hörte ich, daß du bereit bist, mit Pommerle zusammen zu lesen und zu schreiben. Das ist sehr nötig, Jule, ist unbedingt nötig. Andere Knaben haben fleißig in der Schule gelernt und waren dir schon mit zwölf Jahren in der Schulweisheit überlegen. Du hast gebummelt, bist in jeder Klasse sitzengeblieben, bist aus der Schule gegangen ohne die einfachsten Kenntnisse, die ein Mensch braucht. Als Knabe magst du geglaubt haben, du lernst für den Lehrer, doch später muß es dir klargeworden sein, daß man die Schulweisheit dringend fürs Leben braucht. Ich habe dich lieb, mein Junge, es schmerzt mich, wenn man in Hirschberg sagt: ›Der Jule ist ein Dummkopf, der Jule muß seinen Verstand nicht beieinander haben.‹ Gefällt dir das?«

»Nee, Herr Professor, – wenn ich so was höre, krieg' ich die Wut.«

»Du trägst selbst Schuld daran. Ich weiß, du liebst Pommerle, doch mit deinen törichten Reden setzest du auch Pommerle Flausen in den Kopf, machst ihr das Leben schwer.«

»Ich? – –«

»Ja, du, Jule! Pommerle glaubt, daß ihr siebzehnjähriger Freund mehr wissen muß als sie. Sie läßt sich von dir beeinflussen, und so kommen törichte Vorstellungen in ihr Köpfchen. Jule, Jule, was hast du dem Kinde nicht alles von der Schweiz vorgeredet! Heute weiß Pommerle, daß Zürich kein Dorf ist, daß die Schweiz bedeutende Städte hat, daß es dort nicht nur Berge, Kühe und Käse gibt. Wenn es so weitergeht, mein Junge, wird Pommerle das Vertrauen zu dir verlieren. Wäre das nicht schlimm?«

»Ich hab' halt gedacht, es ist so.«

»Wenn dich die Leute derartiges sagen hören, müssen sie tatsächlich denken, daß du nicht richtig im Kopf bist, mein Junge. Doch du bist nur denkfaul. Nimm dich also zusammen; es ist die höchste Zeit. Mit siebzehn Jahren darfst du nicht länger solch dummes Zeug reden. Du willst doch auch mal im Leben deinen Mann stehen?«

»Das will ich wohl, Herr Professor.«

»Nun also, Jule. Zu Ostern sollst du dein Gesellenstück machen; bis dahin gibt es für dich noch viel zu lernen. Die Innung läßt dich bestimmt durchfallen, wenn du nicht einmal weißt, wie man das Wort ›Willkommen‹ schreibt. – Jule, Pommerle würde sehr traurig sein, wenn sie zu Ostern hörte, daß du durchgefallen bist. Auch mir würdest du einen großen Schmerz zufügen, denn ich möchte, daß du weiterkommst. – Nun sage mal, mein lieber Junge«, Bender legte dem Jule die Hand auf die Schulter, »willst du nicht ernsthaft versuchen, deine Gedanken zusammenzunehmen und die Augen aufzumachen, damit du lernst, wie es in der Welt aussieht?«

Jule senkte beschämt den Kopf.

»Ich würde nicht so zu dir reden, Jule, wenn ich wüßte, daß du wirklich ein Dummkopf bist, wie das viele in der Stadt glauben. Du bist aber nicht dumm, mein Junge, hast nach mancher Richtung hin sogar einen sehr hellen Kopf. Wenn ich an die vielen Steine denke, an die Kräuter, die du mir brachtest, zeugt das von deiner Intelligenz. Aber du willst in manchen Dingen nichts lernen, und das ist unrecht. Pommerle wird mit dir lesen und schreiben. Willst du nicht auch versuchen, deinen dummen Aberglauben zu bezwingen? Jule, lieber Junge, laß dich nicht immer auslachen damit!«

»Pommerle sagte auch schon mal, ich sei dumm.«

»Nun zeige ihr, daß du ein strebsamer Bursche bist. Jule, ich sehe, wie dich die Uhr freut. Ich weiß, ich habe dir mit diesem Geschenk einen lange gehegten Wunsch erfüllt. Nun gib mir mal deine Hand und versprich mir, du willst dir Mühe geben, die Augen gut aufmachen und gut lernen. Du hast einen tüchtigen und braven Meister, hast die sanfte Sabine, die gern bereit ist, dich, trotz ihrer Blindheit, zu belehren. Vor allem aber hast du mich, deinen väterlichen Freund. Wenn dir etwas unklar ist, mein Junge, wenn dich Zweifel befallen, komm zu mir, ich werde immer für dich zu sprechen sein. Ich werde dich auch nicht auslachen, wenn du törichte Fragen stellst. – Na, Jule, wie ist's, wollen wir zwei von nun an recht gute Freunde sein?«

»Sie sind sehr gut zu mir, Herr Professor – –«

»Du bist mir ans Herz gewachsen, Junge, fast wie mein eigenes Kind. Wenn du recht oft mit Anliegen zu mir kommst, werde ich mich herzlich darüber freuen, weil es mir Beweis ist, daß du Vertrauen zu mir hast, daß du lernen willst. Wenn aber meine heutigen Ermahnungen wieder keinen Erfolg haben sollten, wenn du nach wie vor Pommerle deine einfältigen Gedanken erzählst, müßte ich daran denken, dich zu Ostern in einen anderen Ort, zu einem anderen Meister zu geben.«

Alle Farbe wich aus Jules Gesicht. »Fort von Hirschberg?«

»Nur dann, mein Junge, wenn du nach wie vor der eigensinnige, abergläubische und alberne Junge bleibst, der nichts hinzulernen will.«

Beide Hände streckte der Jule seinem Vormund entgegen. »Herr Professor, schicken Sie mich nicht fort, lassen Sie mich hierbleiben! – Herr Professor, ich würde auch den Ranzen und den Stecken ergreifen und ohne Rast und ohne Ruh wandern, bis ich erreicht habe den Heimatflecken. – Nein, Herr Professor, ich will gleich morgen, nach Feierabend, zu Ihnen kommen, um was zu lernen. Nur lassen Sie mich in Hirschberg.«

»Mein lieber Jule, wozu deine Angst? Ich weiß, daß meine Ermahnung genügen wird, dich zur Umkehr zu bewegen. Daß es einer Drohung nicht bedarf. Ich weiß auch, daß du mit Pommerle lernen willst, dich bemühen wirst, dein einfältiges Wesen abzulegen. Und wenn du wirklich hier und da wieder was Dummes redest, werde ich auch dafür Verständnis haben, Jule. So, mein lieber, junger Freund, nun gehe heim, und überlege alles nochmals, was ich dir sagte.«

Jule sah nach der Uhr. »Es ist neun Uhr und – – ach nein, es ist wohl auch dumm, wenn ich immerfort von der schönen Uhr rede. Aber sie freut mich doch so sehr.«

»Sollst dich ruhig freuen, Jule. Also, wie spät ist es jetzt, mein Junge?«

»Neun Uhr dreißig, Herr Professor«, antwortete Jule glücklich. Er freute sich, daß der Vormund die Zeit von seiner Uhr wissen wollte.

»Schlaf wohl, Jule, und denke nochmals über alles nach, was ich dir sagte.«

»Ja, das will ich tun.«

Gedankenschwer ging der Jüngling heim. Merkwürdig, daß ihm heute alles ganz richtig erschien, was der Vormund zu ihm gesagt hatte.

»Wie ein Vater hat er zu mir gesprochen. Sehr lieb hat er geredet! Ach ja, er ist ein guter Mann!«

Und weiter überlegte der Jule. Schon viele hatten ihn einen Dummkopf genannt. Einmal hatte er sogar hören müssen, daß er nicht ganz richtig im Kopf sein müsse. Er war aber richtig im Kopf, nur faul, denkfaul, hatte der Vormund gesagt. –

Doch es sollte anders werden! – Hirschberg verlassen? – Nein – niemals! Er hatte sich in Gedanken längst die Straße ausgesucht, in der er einmal seine Werkstatt als Meister Kretschmar eröffnen wollte.

»Er hat recht – er hat recht«, murmelte der Jule.

Weder dem Meister noch der Meisterin wollte er am heutigen Abend mehr unter die Augen treten. Es gab noch soviel zu bedenken, soviel zu überlegen. Kurz vor dem Einschlafen rief er sich nochmals die Worte des Vormunds ins Gedächtnis zurück.

»Wie ein Vater, wie ein richtiger Vater hat er gesprochen.«

Das Edelweiß lag neben ihm auf dem kleinen Nachttisch.


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