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XV
Unruhige Zeiten

Schon im Frühling, bevor ich nach Indien ging, liefen durch Kabul Gerüchte von einem Aufstand der Mangals, die im Khostgebiet nahe der indischen Grenze wohnen (s. Karte). Bestimmtes war aber nicht zu erfahren.

Als ich in Peshawar war, las ich in den Zeitungen oft Berichte über die Lage in Afghanistan, vermochte aber nicht, mir ein klares Bild zu machen. Inder und Afghanen, mit denen ich zu tun hatte, erzählten mir die größten Schauermären, unter anderem, daß in Kabul Revolution ausgebrochen sei. Gerade in jenen Tagen erhielt ich eines Abends auch ein Telegramm, durch das mir mitgeteilt wurde, vorerst keine weiteren Karawanen nach Kabul zu schicken, da Gefahr im Anzuge sei. Da ich gerade eine Karawane startbereit hatte, mußte ich alles wieder abladen und einlagern lassen. Bange Tage und Wochen folgten; nie aber konnte man etwas Bestimmtes erfahren. Alles waren Gerüchte, die beim genaueren Zuschauen sich als unwahr oder übertrieben erwiesen. Trotzdem mußte irgend etwas vor sich gehen.

Einmal hieß es, die Ghilsai-Stämme hätten sich den Aufständischen angeschlossen, das andere Mal, die Wasiris wären dem Emir zu Hilfe gekommen. Beides war nicht wahr. Eines nur hörte man immer wieder: Es sei ein Gegenemir aufgestellt, ein gewisser Abdul Kerim, der in dem Gebiet, das sich zwischen Ghasni und der indischen Grenze ausdehnt, die Stämme zum Kampf gegen den Emir Amanullah Khan aufgerufen habe. Daß irgend etwas nicht in Ordnung war, wurde uns dadurch bewiesen, daß die Post immer sehr lange unterwegs war, und daß der Telegraph häufig mehrere Tage nicht funktionierte.

Als ich aber Anfang Juni wieder nach Kabul zurückkehrte, hatten sich die Wogen gelegt, und es hieß, daß der Krieg vorbei sei. Die Soldaten kamen zurück, wurden mit Blumen geschmückt, und jeder erhielt vom Emir ein kleines Geldgeschenk und ein seidenes buntes Tuch. Im Basar war das Gedränge noch einmal so groß; überall standen Gruppen um Soldaten herum und wollten hören, wie es im großen Krieg, im »Jenk«, gewesen war. Und die Soldaten erzählten die größten Romane.

Als ich eines Abends nach Hause kam und gerade die Treppe hinaufgehen wollte, sah ich auf einem der Dienerbetten einen Soldaten sitzen. Da die Diener häufig Freunde und Bekannte einluden, ging ich achtlos vorbei. Da rief er mich plötzlich an: »Doktor Sahib«, ich drehte mich um – es war Abdul Sebur. Ich hätte ihn nicht wiedererkannt, so mager und elend sah er aus. Er freute sich wie ein kleines Kind, daß er wieder zurück war und Aussicht hatte, bald wieder in unsere Dienste treten zu können. Mehr und mehr Truppen kamen zurück, und es sah ganz danach aus, als ob wirklich der Friede wiederhergestellt sei.

Aber Ende Juli begannen neue Unruhen; diesmal schien es ernster zu werden. Am 3. August fuhren wieder 20 große Lastautos mit Soldaten, Gewehren und Munition an die Front. Im Basar ging das Gerücht, die Aufständischen seien nur noch einen halben Tagesmarsch von Kabul entfernt. Am 4. August wurde erzählt, daß die in Darulaman wohnenden Europäer sich in die Stadt zurückziehen wollten. Viele Italiener hatten ihre Pässe eingefordert und reisten ab. Auf der Gesandtschaft wurden Beratungen gepflogen, welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen seien, damit die Kolonie im Ernstfalle nicht ganz ratlos und schutzlos sei. Vorerst wollten wir alle in unseren Wohnungen bleiben, packten aber unsere entbehrlichen Sachen zusammen und verstauten alles in einem großen Hause, in dem sich der größte Teil der deutschen Kolonie im Notfalle verschanzen sollte.

Am 6. August steigerte sich die Unruhe. Gerüchte schwirrten wieder durch die Stadt von dem bevorstehenden Überfall auf Kabul. Am Abend saßen wir gerade beim Essen auf dem Dach unseres Hauses, als der Hauswirt kam und uns flehentlich bat, ihm Benzin zu geben. Er bot einen außerordentlich hohen Preis; aber wir mußten unser Benzin für den schlimmsten Fall selbst behalten. Sämtliche Gefährte in Kabul – auch Autos – waren von der Regierung requiriert worden, nur den Europäern hatte man ihre Wagen gelassen. Am Tage vorher hatte Gulam erzählt, daß auch die Straße nach Dschalalabad unsicher sei; ein Freund von ihm, der nach Peshawar wollte, sei wieder zurückgekehrt, da die Karawanen in der Gegend von Dschelalabad geplündert würden.

Wir fragten uns oft, was wohl mit den Europäern geschähe, wenn die Stadt genommen würde und eine neue Regierung käme. Die Ansichten waren sehr geteilt; die einen waren sehr pessimistisch, and ahnten das Schlimmste. Andere sahen ruhig in die Zukunft. Da sich die Bewegung der Aufständischen jedoch indirekt gegen die Europäer wandte, glaubte ich eher, daß die erste Ansicht die zutreffendere war.

Es ist eine große Frage, ob man jemals wird feststellen können, was die Ursachen des Aufstandes gewesen sind. Zweifellos spielten innenpolitische Motive eine sehr wichtige Rolle, wenn man auch nicht ganz den Gedanken unterdrücken kann, daß Rußland die Hand im Spiel hatte. Rußland unterhält in Kabul eine große Gesandtschaft und arbeitet gegen England. Es intrigiert, wo es kann, und arbeitet mit einer riesigen Propaganda, um außer vielen anderen Englands Herrschaft in Asien zu stürzen, das Chaos zu schaffen und einen gewaltigen asiatischen Block zu schaffen, in dem es die führende Stellung einnimmt. Auf diese Weise versucht es, seine Ideen zu verbreiten, der Weltrevolution den Weg zu ebnen. Es hat Europa vorerst fallen lassen; dafür aber seine Tätigkeit in Asien in verstärktem Maße aufgenommen. Bei den europäischen Völkern haben die Russen wenig Gegenliebe für ihre Ideen gefunden, daher versuchen sie jetzt zunächst die asiatischen Völker zu gewinnen.

Afghanistan ist für Rußland das Sprungbrett nach Indien. Das Volk war über die vielen Neuerungen des Königs mißmutig. Die Steuern waren hoch. Das Volk murrte, und die Gelegenheit, einen Aufstand zu unterstützen, war für Rußland günstig. Als im Sommer das afghanische Parlament zusammentrat, mußte der Emir verschiedene Konzessionen machen. Unter anderem wurde er gezwungen, die Mädchenschulen im Lande aufzuheben!

Anfang August spielten sich die Kämpfe zwischen Hisarek und Gärdes ab, wo eine Abteilung Regierungstruppen eingeschlossen worden war. Von allen Teilen des Landes wurden nun Truppen herbeigezogen, und in den August-Septembertagen 1924 bot Kabul ein buntes Bild. Als die ersten Truppen ankamen, glaubten wir schon, es seien die Aufständischen. Ich arbeitete nachmittags gerade in meinem Zimmer, als ich in der Ferne ein tausendstimmiges Rufen und Schreien vernahm. Ich eilte hinaus und fragte die Diener, was es bedeute. Diese wußten aber auch nichts Bestimmtes zu sagen; Jakub nur sagte: »Ich werde gehen und sehen, was los ist.« Nach einer Weile kam er wieder und sagte, daß es Hilfstruppen der Mohmands seien, die den Emir unterstützen wollten. Da waren wir wieder beruhigt.

Tags darauf wurde gemeldet, daß der Emir sich mit der Bitte um Überlassung von Flugzeugen an die Engländer gewandt habe.

In der Nacht vom 8. zum 9. wurden wir durch lebhaftes Gewehrfeuer geweckt, das ganz in der Nähe war. Wir stiegen auf das Dach unseres Hauses und blickten aus unseren kleinen Ecktürmchen. Es war sehr dunkel, aber wir konnten doch, nachdem unser Auge sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, die Umrisse der Häuser erkennen. In einem Hause am Fuße des Scher Dervase-Berges brannte noch Licht. Wir hörten vereinzelte laute Rufe und dann wieder eine Reihe von Schüssen, die aus verschiedenen Richtungen kamen. Einige wurden direkt gegenüber von unserem Hause abgegeben, ungefähr in der Richtung, wo die Brücke über den Fluß führt. Nach einer Stunde wurde es still, und wir legten uns wieder schlafen. Am Morgen hörten wir, daß es eine Räuberbande gewesen war, von der man einige der Burschen erwischt hatte.

Mitte August verschlechterte sich die Lage. Das Jeschm – das Unabhängigkeitsfest –, das in jedem Sommer gefeiert wird, fiel aus; und die Regierung sowohl wie der Emir waren aus Paghman plötzlich zurückgekehrt.

Am 20. August wurde ein großer Sieg der Regierungstruppen gemeldet. Es wurde erzählt, daß die Köpfe der 15 erschlagenen Mangals durch die Straßen getragen werden sollten. Aber nichts dergleichen geschah. Eine Kompanie Regierungstruppen wurde bei Ghasni abgefangen und vollständig ausgeplündert.

Am 22. August, einem herrlichen Sommermorgen, trafen die beiden englischen Flugzeuge ein, die in ca. vier Stunden von Peshawar nach Kabul geflogen waren. Die Flugzeuge wurden den englischen Offizieren abgenommen, und in den folgenden Tagen schon flog der in afghanischen Diensten stehende deutsche Flieger Dr. Weiß an die Front, um zu rekognoszieren. Er bekam aber – trotzdem er das von den Mangals besetzte Gebiet überflog – nichts von feindlichen Truppen zu sehen. Er flog mehrmals in das Aufstandsgebiet und sollte eine Landung in Gärdes versuchen, wo die eingeschlossenen Regierungstruppen saßen. Er warf vorher ein Bündel Briefe über diesem Dorfe ab, um die Truppen zu informieren, einen geeigneten Landungsplatz ausfindig zu machen und durch Feuer zu markieren. Dann flog er wieder hin. Als er am ersten Tage nicht zurückkam, dachten wir uns nichts dabei; als aber zwei, drei Tage, ja eine ganze Woche verstrichen war, ohne daß wir ein Lebenszeichen von ihm hörten, machten wir uns doch Sorge um ihn.

Da hieß es eines Tages, Weiß sei wieder zurück, und ein paar Tage später erschien er auch bei uns und erzählte seine Geschichte.

Er war nach Gärdes geflogen, fand auch leicht den Platz, der für die Landung bestimmt war, und landete. Er ließ den Apparat auslaufen; da sah er aber, daß der Platz zu klein war. Ein breiter Graben tat sich vor ihm auf. Es gelang ihm zwar, diesen zu überfliegen; aber kaum war er wieder auf dem Boden, als direkt vor ihm ein anderer schmaler Graben sich hinzog, so daß die Maschine im Graben landete und der Propeller zerbrach. Von der eingeschlossenen Besatzung wurde er liebenswürdig aufgenommen. Nachdem er einige Tage dort geblieben, verkleidete er sich als Mangal, und es gelang ihm auch, mit einigen afghanischen regierungstreuen Offizieren sich durch das unsichere Gebiet durchzuschlagen.

Im Laufe des Augusts hatte sich schon das Gerücht verbreitet, daß auch die Russen Flugzeuge schicken wollten. Und richtig, an einem herrlichen Septembermorgen gegen elf Uhr erschienen in großer Höhe fünf Flugzeuge, die wie Silberpünktchen am blauen Himmel schwebten. In ca. fünfstündigem Flug hatten diese die Strecke von der russischen Grenze bis nach Kabul zurückgelegt und dabei den 5000 Meter hohen Hindukusch überflogen; zweifellos eine großartige Leistung. Zuerst hieß es, Rußland habe die Flugzeuge dem Emir geschenkt; dann aber, daß die Afghanen wegen Kaufs der Apparate mit den Russen verhandelten. Nachmittags wurde großes Schaufliegen veranstaltet, bei dem Tausende von in persischer Schrift und Sprache abgefaßte Propagandazettelchen über Kabul abgeworfen wurden. Daß dies ganze Manöver mit den Flugzeugen nur darauf abzielte, sich die Freundschaft der Afghanen zu erobern und England zu ärgern, ist wohl ohne weiteres klar. Zuletzt hieß es dann auch, Rußland wolle die Flugzeuge nur dann abgeben, wenn auch die russischen Flieger mit übernommen würden. Wie diese Angelegenheit dann geregelt wurde, weiß ich nicht, da ich Anfang Oktober Afghanistan verließ.

Immer mehr Truppen wurden in Kabul zusammengezogen, und vor der Stadt war ein kleines Heerlager errichtet worden. Eines Morgens kamen ca. 4000 Mann aus Kohistan; viele zu Pferde. Jeder Stamm trug seine Fahnen, die schon manchen Sturm mitgemacht haben mußten, denn sie sahen alt und zerfetzt aus. Die Leute waren meist nur in Lumpengewänder gehüllt und bekamen in Kabul neue Anzüge. Auf dem Wege von ihren Heimatorten nach der Hauptstadt hatten sie natürlich alle Dörfer gebrandschatzt, und wir waren der Ansicht, daß diese wilden Stämme unter Umständen viel gefährlicher werden könnten als die Mangals selbst. Froh waren wir immer, wenn diese Burschen an die Front expediert wurden.

Anfang Oktober hatten die Regierungstruppen große Erfolge zu verzeichnen; Gärdes wurde frei, Hisarek genommen und die Aufständischen über den Altimurpaß nach Süden gedrängt.

Im November fand eine Zusammenkunft zwischen Abgesandten des Emir und den Aufständischen in Dschelalabad statt, führte aber zu keinem Ergebnis, so daß die Kämpfe fortgesetzt wurden. Ende des Jahres brach der Aufstand zusammen. Die Strafen, die über die Mangals verhängt wurden, waren furchtbar. 1575 Männer wurden hingerichtet, 600 Frauen nach Kabul verschleppt, 3000 Häuser dem Erdboden gleichgemacht und niedergebrannt. So ist der Stamm der Mangals für lange Zeit lahmgelegt worden und wird sich sobald nicht wieder erheben können.

Furchtbar sind überhaupt alle Strafen, die in Afghanistan verhängt werden. Räubern und Dieben wird die Hand abgeschlagen und der Stumpf in siedendes Öl gesteckt. Die Todesstrafe wird durch Hängen vollzogen oder dadurch, daß man den Delinquenten vor die Kanone bindet. Von unserem Hause aus sahen wir einen flachen Hügel, der sich hinter der Ark erhebt. Dort fanden die Hinrichtungen statt. Eine Riesenmenschenmenge strömte dann herbei, um das blutige Schauspiel mit anzusehen. Eines Nachmittags wurde eine ganze Reihe hingerichtet. Kanonenschuß folgte auf Kanonenschuß. Ein Freund von mir, der gerade an dem Berge vorbeiritt, sah zufällig, wie die Stücke des zerfetzten Körpers in die Luft gerissen wurden. Übrigens ist es nicht ganz ungefährlich, in der Nähe zu weilen. In Kandahar soll es vorgekommen sein, daß ein Mann, der bei der Vollstreckung des Urteils zugegen war, von dem losgerissenen Arm des Verurteilten derart an den Kopf getroffen wurde, daß er auf der Stelle tot war. Auch die Todesstrafe durch Steinigen ist noch nicht abgeschafft. Im vorigen Jahre wurden verschiedene Leute auf diese Weise hingerichtet. Grausam waren die Strafen, die die früheren Emire austeilten. Ein paar Beispiele mögen dies veranschaulichen.

Wir hatten uns in Kabul einen großen Stall gemietet, dessen Besitzer ein alter Afghane war. Er hatte sich früher irgendeines Verbrechens schuldig gemacht – was es war, weiß ich nicht mehr – und wurde dadurch bestraft, daß ihm die Augenlider zusammengenäht wurden. Wie diese grausame Prozedur vor sich gegangen sein mag, kann man sich denken; denn daß man keine Operationsnadel dazu nahm, braucht wohl kaum erwähnt zu werden. Später wurden die Lider wieder aufgeschnitten. Er trug eine große, dunkle Hornbrille; einmal wohl zum Schutz der Augen, sodann, damit man seine verstümmelten Augen nicht so sehen konnte. Einen anderen interessanten Fall berichtet Thornton in seinem Buche: Notes from an Afghan Scrap Book:

Eines Tages wurde vor Emir Abdur Rahman ein Bäcker gebracht, der zu leichtes Brot verkauft hatte. An jenem Tage war der Emir gerade in guter Stimmung; er schalt den Bäcker einen Betrüger und sagte dann zu ihm: »Kein Mensch kann im Leben vorwärtskommen, wenn er nicht ehrlich ist. Geh, arbeite, wie es der Koran vorschreibt!«

Ein paar Wochen später wurde derselbe Mann wieder vor den König gebracht; er war desselben Vergehens wegen angeklagt. Dieses Mal sagte der Emir: »Du bist nicht nur ein Betrüger, sondern ein Schurke! Du zahlst 3000 Rupien, 3000 Annas und 3000 Pais (ca. 5000 Mark). Diese Strafe wird für dich so hart sein, daß du nie wieder vor mir zu erscheinen brauchst.«

Einige Monate später aber geschah es, daß derselbe Mann trotzdem wieder vor den Emir gebracht wurde. Da aber war Abdur Rahman in finsterer Stimmung. Er sagte: »Komm einmal her, mein Freund, du bist ein Bäcker, nicht wahr!« »Jawohl, Sahib.« »Und deine Brote haben nicht die vorgeschriebene Größe?« »Nein, Sahib.« »Nun, dann muß in deinem Backofen zuviel Platz sein«; und in leidenschaftliche Erregung ausbrechend, rief der Emir: »Führt ihn fort und backt ihn in seinem eigenen Ofen!« Diesem Befehl wurde sofort Folge geleistet.

Als ich eines Abends nach Hause kam, hörte ich, daß einer der in Staatsdiensten stehenden Italiener einen afghanischen Polizisten erschossen hatte. Wegen eines kleinen Vergehens – die einen sagten, er habe einem Postbeamten eine Ohrfeige versetzt, die anderen, er habe einem Tongafahrer das Fahrgeld zu zahlen verweigert, da er es unverschämt hoch fand – sollte er von Polizisten vor den Kotwali – den Polizeipräsidenten – gebracht werden. Piperno – so hieß der Italiener – wollte sich aber nicht wie ein Verbrecher durch die Stadt führen lassen und weigerte sich mitzugehen. Als die Polizisten ihn daraufhin festnehmen wollten, riß er sich los und verschloß sich in sein Zimmer. Darauf versuchten sie das Haus zu stürmen. In seiner Erregung schoß nun Piperno durch die Holztür, die die Polizisten mit ihren Bajonetten aufbrechen wollten, und traf dabei einen derselben tödlich. Darauf erbrachen die anderen die Tür und schleppten den Italiener auf die Polizeipräfektur. Er wurde nun zunächst im finstern Gefängnis untergebracht und nach langen Verhandlungen zum Tode verurteilt. Man wandte sich an die höheren Instanzen, aber auch die bestätigten das Urteil.

Eines Morgens kamen unsere Diener und sagten, der Italiener werde zu Tode gesteinigt, ob sie hingehen und sich das Schauspiel ansehen dürften. Aber die Vollstreckung des Urteils wurde aufgeschoben. Einen Ausweg gab es noch, um das Schlimmste zu verhüten. Man konnte den »Mörder« loskaufen. Das übliche Lösegeld beträgt ca. 7000 bis 10 000 Rupien (5600 bis 8000 Mark), und schließlich gelang es auch, zu der Summe von 15 000 Rupien (12 000 Mark) die Angehörigen des Polizisten zu bestimmen, auf das Blut des Italieners zu verzichten.

Manchmal, wenn wir abends spät von einem Spaziergang am Gefängnis vorbeikamen, sahen wir aus den kleinen finsteren Räumen flackernden trüben Lichtschein in das Dunkel der Nacht dringen. Vor dem Eingange standen afghanische Polizisten in dunkelroten Uniformen mit schwarzen Aufschlägen und schwarzen Lammfellmützen. Das Ganze machte einen trostlos finstern Eindruck. Außer dem Gesandten und dem italienischen Arzte durfte kein Europäer den Italiener besuchen. Nachts schlief eine Wache in demselben Raume. Ich malte mir aus, welch furchtbare Stunden der Gefangene hier wohl durchleben mochte, Stunden, Tage, Wochen furchtbarster Ungewißheit. Als ich im Herbst Kabul verließ, saß er immer noch im Gefängnis. Wir alle hofften damals, daß er bald in Freiheit gesetzt werden würde; aber seine Leidensgeschichte sollte sobald nicht zu Ende gehen.

Seit meiner Rückkehr aus Afghanistan hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Da brachten in den Junitagen die Tagesblätter die Nachricht, daß Piperno umgebracht worden war. Folgendes konnte ich in Erfahrung bringen:

Als man sich über das Sühnegeld geeinigt hatte, wurde der Italiener eines Tages auf den Richtplatz geführt, wo er niederknien mußte und vom Richter dem Schwager des Getöteten übergeben wurde. Dieser zog sein langes Messer und warf es dann mit den Worten zu Boden: »Ein Afghane beschmutzt sich nicht die Hand mit dem Blute eines Ungläubigen.«

Nach afghanischem Gesetz hätte Piperno nun noch zehn Jahre im Gefängnis absitzen müssen. Man kann verstehen, daß er schließlich einen Fluchtversuch unternahm, der durch Bestechung der Wachen glückte.

Er soll bis zur Grenze gekommen sein, dann aber brach er zusammen. Der Sprache unkundig, von Sorgen und Kummer seelisch niedergedrückt, stellte er sich freiwillig wieder den afghanischen Behörden. Diese brachten ihn wieder nach Kabul zurück ins Gefängnis. Hier blieb er einige Tage, dann holten sie ihn in aller Stille heraus und richteten ihn hin. Die Europäer und die italienische Gesandtschaft erfuhren von der Hinrichtung erst, als schon alles vorbei war.

Anfang Oktober verließ ich Kabul und begab mich über Dschelalabad-Peshawar nach Delhi, wo ich am 6. Oktober eintraf.


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