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II
An der russisch-afghanischen Grenze festgehalten

Als ich am 2. September beim Morgengrauen zum ersten Male die kleinen Bauernhäuser von Kuschk sah, da ahnte ich nicht, daß ich in diesem weltverlassenen Winkel des Russischen Reiches volle sieben Wochen verbringen sollte. Wir waren gerade bei unserer Morgentoilette, als der Grenzkommissar Ostanin, in dessen Hause wir untergebracht waren, unsere Pässe verlangte; damit sie dem Festungskommandanten vorgelegt würden. Ich erklärte ihm mein Mißgeschick und übergab ihm das in Merw von der politischen Polizei ausgefertigte Schriftstück. Er prüfte es sorgfältig, legte es in die Pässe meiner Freunde und schickte dann seinen Sekretär mit den Papieren fort. Wir setzten uns darauf in den von hohen, schlanken Pappeln eingefaßten Hof und nahmen hier zusammen mit der Familie des Kommissars das Frühstück ein.

Gegen Mittag kam ein Soldat angeritten, brachte die Pässe zurück und den Bescheid, daß ich nicht die Grenze passieren dürfte, ehe nicht von Taschkent die Erlaubnis zur Weiterreise gegeben wäre. Sofort setzten wir ein Telegramm an die Bezirksstelle für auswärtige Angelegenheiten auf, das der Soldat mitnahm. Als am anderen Mittag noch keine Antwort eingetroffen war, entschied sich Wagner, aufzubrechen. Er wollte in dem ersten afghanischen Orte alles zur Weiterreise vorbereiten, während Blaich mir noch Gesellschaft leisten sollte. Auf einem Leiterwagen wurde unser großes Gepäck verstaut, auf diesem thronten die afghanischen Kuriere und Wagner, und in Begleitung von zwei berittenen Soldaten rollte der Wagen die staubige Straße entlang, die von Aleksejevka aus an den Grenzfluß führt.

Nachmittags unternahm ich mit Blaich, den beiden Kindern des Kommissars und seiner Schwägerin eine kleine Wanderung in die umliegenden Berge, die trostlos öde ausschauen. Rücken legt sich an Rücken – ein Meer flachgerundeter großer Hügel dehnt sich hier an der russisch-afghanischen Grenze aus. Der Fels ist stark verwittert. Schutt, Sand und Löß, wohin das Auge blickt. Die kärglichen Pflanzen verdorrt, gelb, trocken wie Zunder! Nur der Kameldorn hat seine olivgrüne Farbe behalten. Auf dem platten, trockenen Gras gleitet man leicht aus; aber was tut's, Steilabstürze gibt es hier nicht! Und immer wieder türmt sich ein Berg hinter dem anderen auf. Den Kindern machte es viel Freude, mit uns herumzutoben, und auch das kleine braune Lamm, das dem Mädelchen gehörte und das von selbst mitgelaufen war, schien an unseren Spielen Gefallen zu finden, denn es hüpfte und sprang vor Freude.

Endlich hatten wir den einen hohen Bergrücken erklommen, auf dem einige vereinzelte Pistazienbäume standen. Diese tragen haselnußähnliche Früchte, die gut schmecken. Es war sehr spät geworden; goldgelb versank die Sonne hinter den Bergen, und blaue Schatten legten sich auf das Tal. Wir gingen nach Norden, um wieder ins Dorf abzusteigen; aber ein Bergrücken folgte dem anderen. Olga fing an zu weinen und jammerte, sie könnte nicht mehr weiter; Aleksej brüllte und wollte durchaus auf den Arm genommen werden, und das Lämmchen blieb dauernd stehen und blökte. Es war zum Verzweifeln! Endlich hatten wir den letzten Hügelrücken erreicht und sahen das Dorf inmitten der Pappeln unter uns liegen. Da wachten die Lebensgeister wieder auf, und unter Lachen und Gesang fanden wir uns wieder im Garten ein. Als auch am folgenden und übernächsten Tage keine Antwort auf unser Telegramm eintraf, trotzdem wir noch ein zweites mit bezahlter Rückantwort abgesandt hatten, und wir auch beim Festungskommandanten nichts erreichen konnten, da machte sich auch Blaich auf den Weg nach Afghanistan.

Nun war ich allein in Kuschk und wartete und wartete – – Tage – – Wochen – –. Jeden Morgen wachte ich mit der Hoffnung auf, daß der Tag die ersehnte Antwort aus Taschkent bringen würde, aber vergebens. Tagsüber war ich immer im Freien, denn im Zimmer war es nicht auszuhalten. Der Raum, in dem ich untergebracht war, enthielt nur eine gepolsterte Bank, zwei Stühle und einen Flügel, der aber, da die Beine abgeschlagen waren, auf Holzgestellen ruhte und vollständig verstimmt war! Spielen konnte man nicht darauf. Frühmorgens mußten wir schon Bretter vor die Fenster stellen, um die glühende Hitze abzuhalten und auch um die Fliegen zu vertreiben, die in den so verdunkelten Raum nicht gerne hineinflogen. Trotzdem war es unmöglich zu schlafen, ohne sich ganz unter das dünne Betttuch zu verkriechen, das ich zum Glück mitgenommen hatte; aber bei der Hitze war dies natürlich wenig angenehm. Hätte ich nur mein großes Gepäck gehabt, dann hätte ich es mir schon gut einrichten können; aber so besaß ich nur das, was ich auf dem Leibe hatte, und einen kleinen Pappkarton, in dem ich noch ein Paar Strümpfe, Unterzeug und sechs Taschentücher hatte. Das schlimmste war, daß ich auch keine Lektüre hatte; wohl erhielt ich öfters vom Grenzkommissar die russischen Zeitungen, aber diese waren auch schnell durchflogen. So benutzte ich die Zeit denn, um große Spaziergänge in die Umgegend zu machen.

Morgens um halb neun wurde im Hof gefrühstückt. Frau Ostanin bereitete selbst das Essen zu, und wir hatten immer ausgezeichnete Spiegel- oder Rühreier oder auch wohl Fleischpasteten. Nach dem Essen machte ich mich fertig und wanderte dann in die Berge; durchschritt zuerst das flache, breite Talbecken und erklomm den Bergrücken, der sich genau im Südosten erhebt. Von hier aus hatte man einen weiten Überblick über das Land. Ich sah den Gipfel, auf dem ich mit Blaich und den Kindern gewesen war und wo wir die Pistazien gepflückt hatten, aber ein noch viel höherer Gipfel türmte sich im Süden auf. Von dort müßte man noch etwas mehr von den afghanischen Grenzbergen sehen können!

Eines Tages machte ich mich schon frühzeitig auf und folgte der großen Straße nach Tschihil Duchteran. Ich schritt tüchtig aus und war ungefähr nach einer Stunde am Fuße dieser Bergrücken. Die Sonne brannte; ich erklomm erst einen kleineren Hügel und legte mich in den Schatten einiger Pistazien. Kein lebendes Wesen war ringsumher zu erblicken. Es war alles so hell um mich, daß ich kaum die Augen offen halten konnte. Hin und wieder wurde die Stille durch den Ruf eines Raubvogels unterbrochen, der langsam um die morschen Gipfel seine Kreise zog. Hinter mir erhob sich gerade der markante Bergrücken, den ich mir zum Ziele genommen hatte. Auf der Nordseite war der Berg stark zerklüftet, was mich einigermaßen erstaunte, da sonst hier ein Rücken wie der andere flachgerundet aussah. Als ich endlich den Gipfel erreicht hatte, konnte ich feststellen, daß es ein alter Vulkan war. Überall lagen Tuffe, Bomben, Trachyte umher, und ich sammelte mir eine ganze Serie Handstücke für meine geologische Sammlung. Der Ausblick war herrlich! In allen Farben schillerten die Berge, die sich bis an die afghanischen Hochgebirge hinzogen. Wie bedauerte ich, meinen Zeichenkasten und meinen photographischen Apparat nicht bei mir zu haben. Gen Norden konnte ich bis in die transkaspische Ebene sehen, und gen Süden bildeten die hohen Bergketten des Parapomisos, die in hellila Tönen schimmerten, den Hintergrund.

Lange blieb ich hier oben; aber gegen 12 Uhr wurde die Hitze unerträglich; die Luft flimmerte über den Bergen. Auf einem großen Felsblock sonnte sich eine kleine schwarzweiß geringelte Schlange. Sie rührte sich kaum, als ich herantrat. Ich beobachtete diese Schlangen häufig in diesen Bergen und fand, daß, wenn man sie angreift, sie sich stets äußerst heftig verteidigen. Sonst war wenig Tierleben zu beobachten. Überall hatte die Sonne das Land versengt, das Leben vernichtet. Die Bachbetten waren ausgetrocknet, die sie einfassenden Büsche verdorrt. In den tiefsten Senken fand ich nur manchmal eine tiefrot blühende, große Malve. Immer war es eine große Freude, wenn man aus den Wüsteneien der Felsberge in das Tal des Kuschkflusses abstieg und das wie eine Oase schimmernde Aleksejevka betrat!

Eines Tages wandte ich mich in die nordöstlichen Berge. Das Tal ist hier sehr breit, und der Fluß wird vom Wald eingefaßt. Ich erklomm wieder einen der das Tal einsäumenden Hügel und fand auch hier dasselbe trostlos öde Bild. Dann folgte ich einem kleinen, ausgetrockneten Bachbette, in dem ich einige hübsche Versteinerungen auflesen konnte. Nachdem ich zwei Stunden in diesen öden Bergen umhergewandert war, entdeckte ich auf einem Hange eine große Melonenplantage. Als Wächter war hier ein alter Afghane angestellt; er hatte sicher schon manchen Sturm erlebt, denn das eine Auge war ihm ausgeschlagen und ein Knie war steif, so daß er humpelte. Mißtrauisch blickte er mich an; als ich ihm aber erzählte, daß ich kein Russe sei und daß ich nach Afghanistan reisen wollte, war er die Liebenswürdigkeit selbst und schenkte mir ein paar große saftige Wassermelonen, die meinen Durst stillten. Ich habe wohl nie wieder während meines Aufenthaltes in Turkestan und Afghanistan solche süßen Wassermelonen gegessen, und ich erkläre mir dies aus der Lage der Plantage, die auf dem Berghange den ganzen Tag der vollen Sonne ausgesetzt ist.

Oft waren die Berghänge schwarz gesprenkelt von Schafherden. Es waren meist afghanische Hirten, die mit ihren Herden auch auf das russische Gebiet zogen. Von ferne gesehen, sahen diese Herden wie ein großer schwarzer Fleck aus, der langsam über die Hänge zog; erst wenn man das Fernglas zu Hilfe nahm, löste sich der Fleck in einzelne schwarze Punkte auf.

Oft kamen große Karawanen aus Herat. Sie trafen meist abends bzw. nachts ein. Schon lange, bevor wir sie sahen, hörten wir das Geläute der großen Karawanenglocken von den Bergen widerhallen. Gegenüber von unserem Hause war das russische Zollamt, und alle Waren, die von Afghanistan kamen, wurden erst dort eingelagert.

Es dauerte manchmal Stunden, bis allen Kamelen ihre Lasten abgenommen waren. Dann war der Zollhof mit Warenballen übersät, und für die Kinder gab es nichts Schöneres, als hier herumzutollen und von Ballen zu Ballen zu springen. Tagsüber wurden die Kamele auf die Weide geschickt, und oft konnten wir sie auf fernen Bergen herumwandern sehen. Abends wurden sie zurückgetrieben, und in Reih' und Glied lagen sie dann alle auf dem großen Platze, der sich vor dem Zollhause ausdehnte. Es waren stattliche Karawanen – manchmal 250-300 Kamele stark –, die Wolle und Häute aus Afghanistan brachten. Auch diese Karawanen wurden von russischen Soldaten begleitet, denn das russisch-afghanische Grenzgebiet ist vor Räubern nicht sicher.

Die Karawanenführer – meist alte, würdige Weißbärte – mußten in meinem Zimmer übernachten, denn in dem kleinen Hause waren nur drei Zimmer: in dem einen hausten Ostanins, im anderen wohnte der Besitzer Simon, ein vierschrötiger Bauer, mit seiner kranken Frau und fünf Kindern, und das dritte war das Gästezimmer. Waren die Afghanen mit im Zimmer, so war an Schlaf nicht zu denken. Schon morgens um drei Uhr fingen sie an zu reden und die Wasserpfeife zu rauchen. Und schliefen sie, so schnarchten sie meistens so laut, daß man kaum ein Auge zumachen konnte. Einmal hatte ich sogar das zweifelhafte Vergnügen, mit einem Karawanenführer zusammen zu schlafen, der so laut schnarchte, daß Ostanins, deren Zimmer von dem meinigen durch den Korridor und durch Doppeltüren getrennt war, die Nacht nicht schlafen konnten.

Morgens nahmen die Karawanenführer auch das Frühstück mit uns ein. Eines Morgens, als wir am Kaffeetisch saßen, hörte ich hinter mir ein seltsames Quieken. Ich fragte Ostanin, was es wäre, und er sagte mir mit einem Augenblinzeln nach den Afghanen: »Swinja« (Ferkel)! Nun gibt es für einen Mohammedaner nichts Ekelerregenderes als ein Schwein; und Schweinefleisch essen ist für ihn das Furchtbarste, was er sich denken kann. Dies Schweinchen war in einem Sacke verpackt und lag im Hofe an der Hausmauer. Die Afghanen hörten wohl das Quieken, blickten verstohlen nach dem Sack, in dem es sich dann und wann regte, und waren unschlüssig, was sie tun sollten. Da trat mit schwerem Schritt Simon aus der Haustür, nahm den Sack, zog das kleine Ferkel heraus und schlachtete es im Hof vor unseren Augen. Die Afghanen standen ohne ein Wort zu sagen auf, und gingen. Simon hatte anscheinend von Schweineschlachten keine große Ahnung; es war grauenhaft anzusehen, wie das Ferkel, acht Minuten, nachdem er ihm die Kehle durchschnitten hatte, noch lebte, bis er es in einen Tubben mit kochendem Wasser geworfen hatte. Mittags gab es also gebratenes Spanferkel, und wir ließen es uns recht gut schmecken, zumal Frau Ostanin den Braten äußerst schmackhaft zubereitet hatte. Aber wie jeden Mittag konnten wir uns kaum vor den Wespen, Hornissen und Fliegen retten. Während man mit der einen Hand aß, mußte man mit der anderen Hand die Insekten vertreiben. Ich versuchte öfters zu schätzen, wie viele dieser Quälgeister uns immer beim Mittagessen störten. Es waren ca. 8 bis 10 große Hornissen, die ihr Nest unter dem Dach hatten, 10 bis 20 Wespen und ca. 5o bis 6o Fliegen. Gerade als wir unserem Schweinebraten gut zusprachen, kam einer der Karawanenführer über den Hof an unserem Tisch vorbei. Nie werde ich den verächtlichen Blick vergessen, den er uns zuwarf, als er das geröstete Spanferkel auf dem Tische erblickte. Den Mohammedanern ist der Ekel vor dem Schwein so in Fleisch und Blut übergegangen wie uns der Ekel vor einer Ratte oder einer Schlange. Man kann einem Afghanen keine größere Beleidigung sagen, als wenn man ihn »Chuk« schimpft. Seitdem die Afghanen uns hatten Schweinefleisch essen sehen, zogen sie sich auch mehr und mehr von uns zurück, tranken nicht mehr mit uns Tee und ließen nicht mehr die Wasserpfeife zirkulieren.

Wir hatten oft unseren Spaß an den Wespen und Hornissen. Wenn wir uns ruhig verhielten, taten sie uns nichts, und dann konnten wir ungestört ihr Leben studieren. Oft konnten wir beobachten, wie eine Wespe sich auf eine Fliege stürzte, die gerade auf dem Tische naschte. Sie packte die Fliege – stach sie aber nicht – und flog mit ihr zum Nest. Manche Wespen hatten geradezu eine Virtuosität, die Fliegen im Fluge zu fangen. Die Hornissen aber gaben sich weder mit den Wespen noch mit den Fliegen ab; hatten wir aber eine Hornisse totgeschlagen, so stürzten sich die anderen auf diese und rissen sie auseinander. Trotzdem wir Tag für Tag, morgens und mittags, diesen Kampf mit den Wespen und Hornissen auszufechten hatten, um überhaupt essen zu können, wurde keiner von uns in der Zeit gestochen. Nur eines Tages – wir saßen schon alle am Mittagstisch – kam der kleine Aleksej heulend angelaufen. Er sah einfach »verboten« aus! So verbeult und verbogen habe ich noch nie ein Gesicht gesehen! Er hatte mindestens fünf bis sechs Wespenstiche im Gesicht; seine Augenlider waren derart geschwollen, daß man vom Auge kaum etwas sah. Er sah so kurios aus, daß wir alle das Lachen nicht verbeißen konnten, und der alte Ostanin wollte sich vor Lachen schütteln und neckte den Jungen immer mit: »Kitajez – Kitajez« (kleiner Chinese)! Desto mehr aber brüllte Aleksej, der, nachdem er noch eine Tracht Prügel erhalten hatte, mit kalten Umschlägen ins Bett befördert wurde. Jedesmal, wenn Aleksej Schläge bekam, wurde auch Olga vorgenommen, die dann für irgendwelche Streiche, die sie Tage vorher begangen hatte, noch einmal eine Lektion erhielt. – Trotzdem konnte es Aleksej nicht lassen, nach ein paar Tagen dasselbe Wespennest noch einmal aufzusuchen und sich noch einmal so übel zurichten zu lassen.

Mit der Verpflegung wurde es schlechter. Wir mußten hamstern gehen, um die nötigsten Lebensmittel zu erstehen. Froh waren wir, wenn wir Butter und Eier erhielten. Gegen Sowjetrubel aber verkauften die Bauern nichts, und wenn wir noch so bettelten; nur gegen Zaren-Goldrubel oder afghanisches Silbergeld konnten wir die notwendigsten Lebensmittel erstehen.

Von Taschkent kam keine Antwort. Nachdem noch einmal auf dienstlichem Wege ein Telegramm mit Rückantwort abgesandt worden war, und auch auf dieses keine Antwort kam, sandte ich ein Radiotelegramm an die deutsche Botschaft in Moskau. Und wartete – – – und wartete – – –.

Inzwischen war ein neuer Grenzkommissar gekommen; denn Ostanin wurde nach Poltarazk (ehemalig Astrabad) versetzt. Der Platz in dem kleinen Hause wurde zu eng, und so wurde ich ausquartiert und bezog Wohnung beim Sekretär im Dorf. Er hatte sich bei einem Bauern ein großes Zimmer gemietet und ganz hübsch eingerichtet. Ich fühlte mich hier doch wohler, zumal ich in einem richtigen Bett schlafen konnte, wenn auch nur in eine dünne Wolldecke gewickelt. Der Sekretär, ein junger, blonder, großer Mensch, war mir sehr sympathisch. Er hatte viel gelesen, hatte orientalische Sprachen studiert und gab mir aus seiner kleinen Bibliothek zu lesen. Er war viel zu Hause und arbeitete für sich. Abends saßen wir zusammen bei einer kleinen Petroleumlampe an dem schweren Holztisch und verschlangen russische Romane, die uns die Dorfschullehrerin lieh. Ich hatte mein Russisch während der Wochen, die ich in Rußland weilte, schnell vervollkommnet, und es machte mir viel Freude, ohne Schwierigkeit A. K. Tolstois Roman: Fürst Sere brjanyj lesen zu können. Abends gingen wir meist spät zu Bett. Oft kam der Sekretär auch mit zu Ostanins, und dann saßen wir bis spät in die Nacht hinein im Garten. Die kleine Petroleumlampe, deren Zylinder nur noch halb war, verbreitete ein trübes Licht; aber ein helles Licht hätte gar nicht hierhergepaßt. Es war alles so gedämpft und still; wie schwarze Silhouetten standen die Berge schweigend ringsum; unbeweglich reckten die Pappeln ihre schlanken Stämme zum sternenübersäten Himmel empor. Hin und wieder ertönte vom Dorf her der so melancholisch und traurige Gesang eines russischen Mädchens. Noch oft glaube ich diese Klänge zu hören, möchte sie festhalten, sie zu Papier bringen, um sie jederzeit wieder hören zu können. Oft hörten wir die Schakale gellend weinend bellen. Dann war wieder Ruhe, überall tiefes Schweigen. Wie oft habe ich dieses Schweigen später auf meinen Wanderungen empfunden: bei den Nachtmärschen durch Afghanistans Berge oder in den schwülen Nächten in Indien. Es ist etwas Feierliches, Erhabenes. Es ist die unendliche Ruhe, die noch über dem großen Asien liegt. Dann leuchten die Sterne in so magischem Glanz, und die Landschaft liegt so still und unberührt da, daß man sich ganz verlassen und einsam vorkommt, und im Geiste wandern dann die Gedanken nach Europa, wo das Leben hastet und den Menschen keine Ruhe mehr läßt.

Als nach vier Wochen immer noch keine Antwort eingetroffen war, entschied ich mich, nach Taschkent zu fahren, um meine Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Es traf sich gut, daß auch gerade zwei afghanische Kuriere mitreisten.

Ich packte meinen kleinen Pappkarton und stieg in die Bahn. Die afghanischen Kuriere waren während der Fahrt sehr besorgt um mich, und ich brauchte mich um nichts zu kümmern. Nachts zwei Uhr kamen wir in Merw an, und erst um sieben Uhr fuhr der Zug nach Taschkent weiter. Wir blieben auf dem Bahnsteig, da die Kuriere das schwere Gepäck nicht in das Hotel Franzia schleppen wollten, und der Bahnhofswartesaal geschlossen war. Es war eine bitterkalte Nacht, und ich fror entsetzlich, hatte ich doch nur einen leichten Anzug und meinen dünnen Mantel an. Einer der Afghanen lieh mir eine Decke, und als Kopfkissen benutzte ich meinen Pappkarton. Trotzdem gelang es mir einzuschlafen. Aber als es fünf Uhr war, war ich so durchfroren und so steif, daß ich mich kaum rühren konnte. Ich stand auf und ging eine halbe Stunde auf dem Bahnsteig hin und her, um warm zu werden. Wie froh war ich, als endlich die Sonne aufging.

Als ich in Samarkand eintraf und dort auf dem Bahnsteig auf und abging, kamen zwei Offiziere der Tscheka auf mich zu und fragten, ob ich Trinkler sei, was ich bestätigte. Es stellte sich nun heraus, daß inzwischen in Kuschk aus Moskau die Antwort eingetroffen war, daß ich meine Reise nach Afghanistan fortsetzen konnte. Ich hatte nun die Wahl, in Samarkand zu bleiben oder nach Taschkent zu fahren, bis der Zug nach Merw kam, der nur alle drei Tage verkehrte. Ich entschied mich für Taschkent, da ich noch einige wichtige Besorgungen dort erledigen wollte. In Taschkent war nirgends Platz; Hotel Regina voll besetzt! So nahm ich Quartier in der afghanischen Gesandtschaft, wo ich auch gut aufgenommen wurde. Wie wenig ahnte ich, daß ich vierzehn Tage später den Konsul noch einmal wiedersehen sollte; wieviel Sorge und Unbequemlichkeiten wären mir erspart geblieben, hätte ich mir auch gleich von ihm einen neuen Paß ausstellen lassen!

siehe Bildunterschrift

42. Der Verfasser

Zurück nach Kuschk, drei Tage und drei Nächte Bahnfahrt! Endlich hatte die Befreiungsstunde geschlagen! Zum letztenmal – so glaubte ich – nahm ich das Mittagsmahl in Kuschk ein. Dann sattelte Simon zwei Pferde, und gegen fünf Uhr verließen wir Aleksejewka. Es war ein herrlicher Tag, und da die Sonne bald hinter den Bergen verschwand, war das Reiten sehr angenehm. Noch einmal grüßte ich die Berge, auf denen ich so manchen Tag geweilt hatte und wo mir fast jeder Baum und Strauch, jeder Felsblock vertraut war; dann bogen wir in ein Seitental und ritten gen Süden. Langsam legten sich die Schatten auf die Berge. Sie hüllten zuerst die Täler in blaue Farben und kletterten dann die Hänge hinauf. Bald sahen wir die ersten Sterne flackern. Der Weg ist sandig, und tief sanken die Pferde in den Staub ein. Oft hatten wir kleine schluchtähnliche Risse zu kreuzen. Es war schon stockdunkel, als wir den russischen Grenzposten erreichten. So späten Besuch hatten die Herren kaum erwartet. Lange mußten wir rufen, ehe der Stacheldrahtzaun geöffnet und unsere Papiere geprüft wurden. Ein russischer Soldat begleitete uns bis an den ersten afghanischen Posten am jenseitigen Ufer.

Wir reiten an den Fluß hinunter, durchqueren ihn in einer Furt und suchen unseren Weg durch verschiedene Sümpfe. Es ist recht dunkel, und man kann kaum sehen, wohin das Pferd tritt. Vorsichtig, Schritt für Schritt, arbeiten wir uns durch das morastige Gelände. Endlich erreichen wir das aus ein paar elenden Lehmhütten erbaute afghanische Tschihil Duchteran (vierzig Töchter). Wir müssen lange klopfen und rufen, ehe sich jemand blicken läßt; wir sind hungrig und durstig und sehnen uns nach einem Nachtlager. Die Hunde schlagen an und machen Lärm, und endlich zeigen sich ein paar wilde, verschlafene Gestalten; aber nur, um uns mitzuteilen, daß wir hier nicht bleiben können, sondern nach Kara-Tepe (der schwarze Berg) weiterreiten müssen. Also wieder auf die Pferde und weiter! Ein afghanischer Soldat begleitet und bewacht uns.

Die Wolken haben sich verteilt, und obgleich der Mond nicht scheint, ist es doch ziemlich hell, denn wie tausend Lichter flackern die Sterne am Firmament. Zur Linken haben wir kleine flachgewölbte, schwarze Bergrücken, zur Rechten das Flußbett. Schweigend reiten wir durch die kühle Nacht. Ich bin sehr müde und nicke dann und wann ein. Es kommt mir alles wie ein Traum vor. Ich sehe vor mir im Halbdunkel eine ganze Karawane von Pferden auf einer endlosen Chaussee. Aber es ist eine optische Täuschung. Vor uns taucht ein viereckiger Turm auf, ein afghanischer Wachtposten. Wir werden angerufen; man fragt, woher und wohin, dann ziehen wir weiter in das Dunkel der Nacht. Wieder reiten wir ungefähr eine Stunde. Ein dunkler Berg zeichnet sich wie eine Silhouette vor uns ab; endlich sehen wir die afghanische Festung vor uns auftauchen. Es ist halb zwei Uhr geworden. Wütend kläffen die Hunde, als wir an das Festungstor klopfen und Einlaß begehren. Auch hier müssen wir endlos lange warten, ehe man uns öffnet. Es ist bitter kalt. Wir haben uns in unsere Mäntel gehüllt und stampfen auf dem hartgefrorenen Boden umher. Endlich finden wir in der Festung Einlaß; aber man gibt uns nichts mehr zu essen, und so legen wir uns auf den steinernen Fußboden, hüllen uns in unsere dünnen Decken und Mäntel und schlafen bald ein. Früh sind wir schon wieder auf. Wir erhalten Tee, Brot, und man verspricht mir Pferde und einen Begleitsoldaten. Da erscheint der unglückselige Dolmetscher, den ich schon von Kuschk her kannte, und fragt nach meinem Paß. Ich sage ihm, er wisse doch, daß mir mein Paß gestohlen sei und daß der Gouverneur von Herat mich jetzt erwarte. Er geht zum Oberst und meldet es. Doch der läßt sich nicht erweichen. Er weiß auch über den Stand meiner Angelegenheit nichts, da er erst vor kurzem hierher versetzt worden ist. Er ist unfreundlich, hochmütig. Ich sage ihm, er solle telephonisch beim Gouverneur anfragen; denn zwischen dem afghanischen Grenzposten und Herat existiert bereits Telephonverbindung. Er erwidert, das Telephon funktioniere nicht. Ich will ein Radiotelegramm nach Taschkent an den afghanischen Konsul aufgeben; aber er erklärt: Telegramme existierten für ihn nicht! Er wolle ein richtiges Visum: gestempelte Photographie usw. Es war zum Verzweifeln! Aber man gewöhnt sich langsam an solche Dinge; Geduld lernt man in Asien! Es blieb also nichts anderes übrig, als nochmals nach Taschkent zurückzureisen. Wohl spielte ich einen Augenblick mit dem Gedanken, einfach auf eigene Faust nach Herat zu ziehen; aber das hätte sicher schlecht geendet. Ich kannte den Weg nicht, hatte keine Karte, kein Pferd, und mein Geld ging auf die Neige. Ein afghanischer Soldat war ständig um mich, und auch Simon hatte ein Auge auf mich. Es wäre ein hoffnungsloses Beginnen gewesen. Aber mir graute auch vor der ca. 1100 km langen Rückreise nach Taschkent, mir graute vor den Strapazen auf der russischen Bahn, die noch größer waren als die auf den Karawanenreisen im Inneren Afghanistans. Nur der Gedanke, noch einmal wieder nach Merw zu müssen, wieder beim afghanischen Konsul in Taschkent zu übernachten – – –

Doch es half nichts, es sollte wohl so sein; zwei volle Tage mußte ich erst wieder in Aleksejevka warten, ehe ich nach Taschkent aufbrechen konnte. In Merw traf ich wieder spätnachts ein. Ich wollte mich im Wartesaal auf eine Bank niederlegen, als ich einen afghanischen Kaufmann sah, den ich öfters in Kuschk gesprochen hatte. Er schlug mir vor, mit ihm ins Hotel Franzia zu gehen. In den Straßen war es stockfinster, und ich wunderte mich, wie mein Gefährte den Weg fand. Ein Mädel öffnete und wies uns eines der finsteren Zimmer an: Holzpritsche, ein paar zerbrochene Stühle, ein kleiner Tisch, auf dem das Wachslicht flackerte. Es konnte gegen ein Uhr sein. Wir tranken eine Flasche feurigen Süßweins und dann verschwand der Afghane mit dem Mädel und ließ mich allein. Ich war todmüde. Als ich meine Stiefel auszog, stieß ich gegen den Tisch. Das Licht fiel um und erlosch. Streichhölzer hatte ich nicht. Ich verschloß Fenster und Tür und schlief bald ein. Nachts wachte ich von einem eigentümlichen Geräusch auf. Es mußte jemand in meinem Zimmer sein. Ich stand auf und ging leise ans Fenster und an die Tür: Beides verschlossen. Ich tastete im Zimmer umher, fand aber nichts; darauf legte ich mich wieder auf die Pritsche und versuchte einzuschlafen. Lange war es still, und schon wollte mich der Schlaf übermannen, als ich wieder das seltsame Geräusch vernahm. Es hörte sich an, als ob jemand die Seiten eines alten Pergaments umblätterte. Ich horchte gespannt; einmal kam es mir vor, als komme das Geräusch vom Tische her, dann, als ob es an der Tür sei. Es konnte nur irgendein Tier sein.

Morgens, als es dämmrig wurde, ging ich von neuem dem Geräusche nach; und nun stellte es sich heraus, was es gewesen war. Am Abend vorher hatte der Afghane das Papier, in dem die Flasche eingewickelt war, auf den Boden vor die Tür geworfen. Ein Nashornkäfer, der sich im Zimmer herumgetrieben hatte, wollte ins Freie und versuchte, sich durch die Tür zu klemmen. Dadurch kam er oft an die Stelle, wo das Papier lag und hakte mit seinen kleinen, dornigen Beinen hinter das harte Papier, wodurch der eigentümliche Laut hervorgerufen wurde, den ich mir nicht erklären konnte und der mir eine schlaflose Nacht bereitet hatte. Ich fing den kleinen Ruhestörer und habe ihn als Andenken an die schlaflose Nacht in Merw mit nach Hause gebracht, wo er jetzt meine Käfersammlung ziert.

Wie verändert hatte sich das Bild Turkestans, seitdem ich zuletzt hier war! Der Herbst war gekommen, und überall hatte er seine bunten, leuchtenden Farben ausgestreut. Manche Bäume waren schon ganz entlaubt; andere aber glühten in rotem und gelbem Farbenschmuck. Auch der klare, blaue Himmel war verschwunden. Drohende Wolken ballten sich zusammen, und auf den hohen Bergketten im Osten lag schon viel Schnee. In Taschkent traf ich am 16. Oktober ein. Es war kühl geworden, und der Wind ließ einen leicht frösteln.

Als ich den afghanischen Konsul aufsuchte, saß er in einen dicken Pelzmantel gehüllt im Sessel. Er war wie immer sehr liebenswürdig und versprach, für mich zu tun, was er konnte. Mein Zug fuhr erst in ein paar Tagen, und so besuchte ich in Taschkent noch einige Museen, den botanischen und den zoologischen Garten. In den Straßen lag schon viel Laub, und die losen Blätter wurden oft vom Winde hoch aufgewirbelt. Früh wurde es dunkel; bereits um sechs Uhr konnte man ohne Licht nicht mehr arbeiten. Der afghanische Konsul fertigte mir ein großes, versiegeltes Schreiben aus; ich ließ mich auf dem Basar für ein paar Rubel photographieren, und diese Photographie wurde auf den Paß aufgenäht. Dann zog ich wieder Kuschk zu.

In Aleksejevka mietete ich mir jetzt von Simon einen Leiterwagen, denn ich hatte mir in Taschkent eine Steppdecke gekauft und hatte beim afghanischen Grenzposten meine Handtasche aufgelesen, die Wagner dort deponiert hatte. Es war jetzt auch hier richtig Herbst geworden; die Sonne wärmte nicht mehr; der Himmel war bezogen, und der Wind jagte die grauen Wolken über die Berge. In tollkühner Fahrt ging es die Hänge hinauf und hinab. Simon wollte den Weg abschneiden, geriet dabei aber oft an Stellen, wo der Wagen fast kippte und es in den Achsen knackte und krachte.

Gegen sechs Uhr – es dämmerte bereits – kamen wir im russischen Tschihil-Duchteran an. Die Paßkontrolle erledigte sich schnell, und dann fuhren wir durch den Fluß. Auf der afghanischen Seite erfuhren wir, daß wir wieder nach Kara-Tepe müßten. Ich machte es mir im Wagen jetzt so bequem wie möglich, und beim Vollmondschein traten wir die weite Reise an. Ich war sehr müde und es dauerte auch nicht lange, da schlief ich fest, trotz des Rüttelns des Wagens. »Prischli« (angekommen) hörte ich halb noch im Traum Simon sagen. Wir bezogen wieder denselben Raum in der Festung, den wir das letztemal innehatten. Wir aßen zu Abend, wenn es inzwischen auch schon zwölf Uhr geworden war, und legten uns schlafen. Wir hatten ein Nachtlicht erhalten und ließen es ruhig herunterbrennen. Simon schlief bald ganz fest. Ich aber lag noch lange wach und ließ noch einmal die letzten Wochen, seit ich von meinen Kameraden getrennt war, an meinen Augen vorüberziehen. Seltsam gestaltet sich manchmal des Schicksal des Menschen ohne sein Wollen. Eine höhere Macht lenkt unsere Wege: an diese göttliche Hand, die uns durchs Leben führt, müssen wir glauben, ihr vertrauen und ihr folgen, und wir müssen fest daran glauben, daß alles nur zu unserem Besten geschieht, wenn es uns im Augenblick auch nicht zum Bewußtsein kommt.

Schließlich schlief auch ich ein; wachte aber nachts von irgendeinem Geräusch auf und sah in dem vom Mondschein erhellten Zimmer, wie ein großer, schwarzer Kater unsere Abendbrotreste verzehrte und dabei den Leuchter vom Tisch stieß. Seine grünen Augen funkelten im Dunkeln. Dann und wann raschelte er mit dem Papier, in dem unser Proviant verpackt war. Sonst hörte man nichts weiter als das feste Schnarchen Simons.

Am Morgen sind wir früh auf, zeigen den afghanischen Paß vor, und alles ist in Ordnung. Man bringt uns Brot und Tee und ist eitel liebenswürdig! Man stellt mir Pack- und Reitpferd sowie einen Begleitsoldaten zur Verfügung. Darauf verabschiede ich mich von Simon, drücke ihm noch ein gutes Trinkgeld in die Hand, und dann trennen wir uns. Er fährt auf geradem Wege nach Kuschk zurück; ich aber ziehe mit meiner kleinen Karawane neuen Schicksalen entgegen.


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