Franz Treller
Der Letzte vom »Admiral«
Franz Treller

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In Gefangenschaft

Als am andern Morgen der Steward Findlings Kajüte betrat und gewahrte, daß der Kapitän nicht an Bord gekommen sei, machte er Marholm Meldung. »Der englische Kaufmann wird den Kapitän und den Jungen über Nacht bei sich behalten haben«, meinte dieser.

Am acht Uhr kam der Besitzer des Fuhrwerks, dessen sich Findling bedient hatte, und fragte nach seinem Verbleib. Auch er ließ sich an dem bereits angegebenen Grund genügen. Als aber die Zeit vorrückte und Findling, dessen Gewissenhaftigkeit Marholm ja kannte, nicht erschien, wurde er unruhig, nahm einen Wagen und fuhr zu Mr. Johnson's Kontor.

Zu seinem nicht geringen Schrecken vernahm er von diesem, daß die von ihm Geladenen gar nicht erschienen seien. Als sich später aber der Wagen, der Findling gefahren hatte, in der nächsten Umgebung der Stadt herrenlos, mit abgetriebenen Pferden vorfand, als dann der Kutscher des Gefährtes auftauchte und von dem Überfall erzählte – auch er war gefangengehalten und erst bei Tagesanbruch freigelassen worden – entstand an Bord des »Roland« große Aufregung.

In leidenschaftlicher Weise äußerte besonders Fritz seine Besorgnis um den »Hamburger«, den er so sehr ins Herz geschlossen hatte. Karl Steffen ging mit einer Miene umher, die denen nichts Gutes verhieß, welche Findling und Henrik ein Leid zugefügt hatten.

Marholm begab sich jetzt zum Konsul und erstattete Anzeige. Dieser fuhr mit ihm zur Polizei, der Kutscher wurde vernommen, aber er konnte um so weniger mitteilen, als er gleich nach dem Überfall in den Wald geführt und dort von zwei Leuten bis zum Morgen bewacht worden war; seine Wächter waren dann verschwunden und hatten es ihm überlassen, den Heimweg zu suchen.

Ein genügender Erklärungsgrund ließ sich für den mit solcher Energie und so großen Mitteln ausgeführten Überfall nicht finden, denn an der Beraubung zweier Herren, welche sich zu einem Besuch anschickten, konnte nichts gelegen sein, und eine Gefangennahme, um etwa Lösegeld zu erpressen, war hierzulande nie vorgekommen. Die Absicht, die Reisenden zu berauben, konnte auch kaum vorgelegen haben, denn sie hätte sonst ausgeführt werden können, als man die beiden überwältigt hatte. Die Motive der Tat waren in tiefes Dunkel gehüllt. Auch Herr Spieß zeigte für die Aufsuchung Findlings das größte Interesse und stellte Mittel zur Verfügung, um energische Nachforschungen anzustellen.

Die ganze Polizei war bald auf den Beinen, um nach den Vermißten zu forschen.

In großer Aufregung lief Fritz Fischer jammernd auf Deck umher. Das geheimnisvolle Schicksal seines Freundes ging ihm unendlich nah.

Zu Steffen, der finster, mit zusammengezogenen Brauen und funkelnden Augen umherging, sagte er: »Du hast ihm doch ooch lieb jehabt, den Hamburger, wat sprichst du denn keen Wort? Ick sage dir, Waldmensch, wenn ick ihm jetzt jesund un munter hier hätte, ick jäb meinen Orden drum. Aber die braunen Canaillen werden ihm abgemurkst haben!« Fritz brach in Tränen aus.

»Du bist ein guter Junge«, sagte Steffen, und klopfte ihm freundlich auf die Schulter. Doch dann ging er stumm und kummervoll wie vorher beiseite.

Marholm hatte ganz den Kopf verloren und war durchaus der Meinung des teilnahmsvollen Agenten, daß an Segeln nicht zu denken sei, auch wußte er gar nicht, wohin Findling auszulaufen gedachte, und dessen Papiere wagte er nicht einzusehen, ehe nicht sein Tod konstatiert war.

Eine flinke Prau verließ am Morgen dieses Tages den Hafen, auf deren Deck man außer Onno Steenberg den Malaien Amea am Steuer und Jan Carsten als Kommandant auf dem Hinterdeck erblickte.

Die Lage, in welche Findling und Henrik auf so überraschende Weise geraten waren, war eine überaus peinliche und beängstigende.

Ihre Fesseln schmerzten sie, und dies diente nicht dazu, die Situation behaglicher zu machen. Unterwegs in dem dunkeln Wagen, in Gesellschaft von Männern, die ihnen unbekannt waren, deren Äußeres sie nicht einmal zu erkennen vermochten, in der Befürchtung, jeden Augenblick einen Messerstoß zu empfangen, waren sie keines klaren Denkens fähig gewesen.

Ruhiger vermochten sie jetzt nach Beendigung der Fahrt ihre Lage ins Auge zu fassen und fragten sich, was Ursache und Zweck dieser gewaltsamen Behandlung sein könne.

Hatten in Findlings Seele die letzten Worte des verkommenen Carsten, die genügend deutlich auf die Insel, an welcher der Schatz verborgen sein sollte, anzuspielen schienen, eine Flut von Vermutungen hervorgerufen, so dachte Henrik noch immer mit Schrecken an den Klang der ihm wohlbekannten Stimme seines Vetters. Er hatte sich also nicht getäuscht, als er ihn an Bord des englischen Dampfers zu sehen glaubte!

Aber wie in aller Welt kam er hierher, und was bedeutete ihre Gefangennehmung? Die Worte Carstens waren für ihn unverständlich gewesen.

Findling hingegen fragte sich, wie es möglich sein könne, daß außer ihm noch jemand Kenntnis von den Aussagen des Evers habe, und zugleich wußte, mit welcher Aufgabe der »Roland« betraut sei.

So erging sich jeder der Gefangenen in allerlei Fragen und Vermutungen.

Henrik stöhnte.

»Leidest du sehr, Junge?«

»Ja, Herr Findling, die Stricke schneiden ins Fleisch.«

»Mir geht es ebenso. Aushalten!«

Nach einer Weile fragte Henrik: »Was kann man mit uns beabsichtigen?«

»Nun, Gutes gewiß nicht«, brummte der Kapitän, »aber auf unser Leben scheint es nicht abgesehen zu sein, sonst hätten sie uns längst abgetan.«

Henrik schauderte.

»Vielleicht hat man uns mit andern verwechselt?«

»Nein«, sagte Findling erregt, »es galt mir, denn der betrunkene Schuft sprach von der Insel – jetzt werden mir auch seine Äußerungen bei unserer ersten Begegnung klar – es galt mir, und du, armer Schelm, bist in mein Los verwickelt worden.«

Der Jüngling bat ihn um Aufklärung, und der Kapitän gab ihm nun von dem auf einer Insel des indischen Meeres verborgenen Schatz und dem Befehl der Reeder, die Aussagen des sterbenden Matrosen auf ihre Wahrheit hin zu prüfen, Kenntnis.

Henrik krampfte sich das Herz in bitterm Schmerz zusammen, als er diese Mitteilungen mit der Anwesenheit Onnos, des im Vertrauen der Herren Oswald Hochstehenden Bediensteten des Hauses, in Zusammenhang brachte. »Mag die Geschichte des Evers«, so schloß Findling seine Mitteilungen, »von deren Wahrheit wir uns ja überzeugen sollen, auch in größern Kreisen bekannt gewesen sein, so ist es mir doch unerklärlich, wie dieses verkommene Subjekt, der Carsten, dazu kommt, zu wissen, daß der ›Roland‹ beordert ist, jene Insel anzulaufen. Selbst ich hätte erst bei den tatsächlichen Nachforschungen erfahren, mit welch absonderlicher Mission wir betraut waren, wenn nicht der Tod des Kapitäns mir die Pflicht auferlegt hätte, die Schiffspapiere nachzusehen. Rätselhafter noch ist mir, woher die Mittel stammen, welche unbedingt notwendig sind, um die Insel anzulaufen. Und frage ich mich, was hat man mit mir vor, warum hat man mich hierhergeschleppt, so habe ich nur die eine Antwort darauf: man will mir zuvorkommen, um die erhoffte reiche Beute einzustreichen. Aber diese Annahme ist wiederum so phantastisch, daß sie mir kaum stichhaltig erscheint. Wer löst das Rätsel?«

Mit zitternder Stimme berichtete jetzt Henrik von der ihm zur Gewißheit gewordenen Anwesenheit seines Vetters Onno Steenberg in Point de Galle und dessen Stellung im Hause der Reeder.

Widerstrebend und mit tiefem Schamgefühl gab er seine Erklärung ab, hinzufügend: »Und doch kann ich es nicht denken, daß Onno so verworfen sein kann, ein Geschäftsgeheimnis seines Hauses zu mißbrauchen; es muß hier noch etwas anderes vorliegen – jedes Gefühl in mir sträubt sich, so etwas von meinem Vetter zu glauben.«

Staunend horchte Findling dem, was Henrik mit Anstrengung hervorbrachte.

Nach einiger Zeit fragte er: »War dieser Vetter nicht der, der an der Brasse saß, welche dich vor der Elbe ins Meer schleuderte?«

Mit Schmerz gedachte Henrik bei dieser Frage des von Fritz geäußerten Verdachtes, und zögernd entgegnete er: »Ja.«

»So«, sagte Findling nach längerm Schweigen, »nun ist es mir klar. Dein würdiger Vetter ist der Unternehmer und Carsten sein dienstbarer Geist. Der so schlau dreinblickende Herr Spieß, dessen Speicher merkwürdigerweise leer sind, steckt auch mit dahinter. Nun ist es mir klar. Der von mir geäußerte Entschluß, in See zu gehen, hat dieses Attentat veranlaßt; man sperrt mich ein, um mich am Auslaufen zu verhindern, um mir zuvorzukommen. Nun weiß ich's.«

Henrik war von dem Bewußtsein, daß Onno hier an einem Schurkenstreich teilnahm, so schmerzlich bewegt, daß er fast die festen Bande nicht mehr fühlte, die ihm die Glieder umschnürten. Endlos war die Nacht und unendlich qualvoll für die Gefangenen. Endlich zeigten sich schwache Spuren des anbrechenden Morgens. Bald drang durch Ritzen Licht genug in den Raum, daß sie erkennen konnten, wo sie sich befanden. Sie waren von Erdwänden umgeben und lagen jedenfalls in einer Art Keller, wie die Singalesen sie zur Aufbewahrung des Getreides anlegen. Eine aus Bambusstücken gefertigte Tür führte über einige Stufen nach oben ins Freie; durch deren Spalten drang Licht in den Raum.

Nach einiger Zeit öffnete sich diese Tür und ein alter, halbnackter brauner Bursche mit einem Spitzbubengesicht trat ein; eine Frau, die ein Gefäß in der Hand trug, folgte ihm.

Beim Eintritt der beiden erblickten die Gefangenen im hellen Tagesschein draußen Wald. Mit großer Ruhe machte sich der Mann daran, den Gefangenen Uhr, Geld, Börse und Manschettenknöpfe abzunehmen, was diese schweigend duldeten.

Die Frau, deren Gesicht ebenso widerwärtig war, als das des Mannes, löste die Fessel um Henriks Handgelenke und bot ihm die mit Wasser gefüllte Kalebasse zum Trinken. Begierig löschte er den brennenden Durst. Der Mann machte auch Findlings Arme frei und reichte ihm das Gefäß.

Als dieser getrunken hatte, sagte er mit viel Ruhe: »Wie ich vermute, Mensch, sprichst du englisch und verstehst, was ich sage?«

Der Mann grinste als Antwort.

»Weshalb habt ihr uns hierhergeschleppt?«

»Er hat es so befohlen«, lautete die ganz verständlich gegebene Antwort.

»So? Er hat es befohlen. Nun, mein Junge, wenn es dabei auf Geld abgesehen ist, dann sollt ihr solches bekommen.«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Sprechen wir vernünftig, Alter. Was kann es sonst für einen Zweck haben, uns gefangen zu nehmen? Also nimm Geld, bestimme die Summe und laß uns frei. Was meinst du zu zwanzig Pfund?«

»Wo hast du sie?« fragte der Mann höhnisch.

»Nun, ich gebe dir einen Zettel, und einer deiner Leute kann sie von Bord holen.«

»Ja, damit er uns die Polizeireiter hierherbringt.«

»Die werden uns noch viel wahrscheinlicher hier finden, wenn ihr uns nicht freilaßt.«

Der Alte zog mit grimmiger Miene ein blinkendes Messer.

»Vielleicht«, sagte er, »aber nicht lebendig.«

Findling und nicht minder Henrik erschraken bei dieser drohenden Gebärde. Dennoch vermochte der erstere ruhig zu erwidern: »Sieh, das ist Torheit. Was kann euch das nützen? Nehmt deshalb Geld – nimm hundert Pfund.«

Des Alten Augen funkelten begierig bei der für ihn so bedeutenden Summe, aber dennoch schüttelte er den Kopf: »Geht nicht – er will nicht.«

»Aber was willst du denn mit uns beginnen?«

»Wird er sagen, wenn er zurückkommt.«

»So? Nun, so müssen wir uns so lange gedulden. Aber würdest du nicht die Güte haben und auch unsern Füßen die Fesseln abnehmen? Sie belästigen sehr.«

Der Alte wechselte einige Worte mit der Frau in einer indischen Sprache.

Sie deutete wiederholt auf die Tür und nach oben und schien eine Ansicht auszusprechen, welcher der Mann endlich zustimmte.

Er rief, und zwei andere banditenmäßig aussehende braune Kerls traten ein. Man löste den Gefangenen die Stricke von den Knöcheln; aber vergeblich versuchten sie aufzustehen, die Füße versagten den Dienst.

Man riß die beiden empor, warf ihnen Tücher über den Kopf und schob die Wankenden vor sich her ins Freie, endlich eine Treppe hinauf, wo sie, nachdem die Verhüllung entfernt war, sich in einem kleinen Gemach wiederfanden, dessen Boden mit Matten bedeckt war. Licht fiel durch eine hoch angebrachte Luke herein. Dort legten die drei Eingeborenen den Gefangenen eine ziemlich lange Kette an, indem sie den rechten Fuß Findlings mit dem linken Henriks verbanden, so daß sie aneinander gefesselt waren. Die Hände ließen sie frei. Mit drohendem Ernst sagte der Alte dann: »Macht ihr den geringsten Lärm, oder sucht ihr zu entfliehen, so werdet ihr unfehlbar getötet.«

Damit gingen die Leute hinaus und verriegelten von außen die Tür.

Findling und Henrik hatten sich auf den Boden niedergelassen, da ihre Füße sie immer noch nicht tragen wollten. Sie sahen sich an und der Kapitän sagte: »Da hätten wir nicht nur den schönsten Räuberroman, sondern auch eine gurgelabschneidende Spitzbubensorte um uns, die nichts zu wünschen übrig läßt.«

Henrik, welchem bei dem allem sehr übel zumut war, vermochte auf den Ton Findlings nicht einzugehen und fragte nur: »Was beginnen wir jetzt?«

»Vor allem behalten wir den Kopf oben, Henrik! Ich müßte mich sehr irren, wenn mit dem ›er‹ nicht der malaiische Schurke Amea gemeint ist, und dann haben wir zum Handeln Zeit, wenn auch der Schatz unterdes in seine Hände fällt. Sei munter. Junge! Wäre übel, wenn zwei lustige Teerjacken diesem braunen Gelichter nicht eine Nase drehen sollten. Wir können ja nicht weit von Point de Galle entfernt sein, und einmal draußen, wollen wir es schon erreichen.«

»So denken Sie an Flucht?«

»Selbstverständlich.«

»Aber wie?«

»Darüber müssen die nähern Umstände bestimmen. Wollen uns einmal die Umgebung ansehen.«

Sie hoben die Kette auf, damit sie nicht rasselte, lauschten an der Tür, und als sie nichts Verdächtiges vernahmen, schritten sie langsam an den Wänden hin.

Diese waren zwar nur aus Bambus gefertigt, erwiesen sich aber bei näherer Untersuchung als sehr fest. Der ganze Bau war zwar leicht, aber von großer Zähigkeit. Die Luke, welche Licht und Luft einließ, war so hoch angebracht, daß sie Findling nicht einmal mit der Hand erreichen konnte.

»Ich könnte dich zwar zu dem Loch emporheben, damit du Umschau hieltest, doch möchte dich jemand draußen sehen. Wir wollen es aufsparen.«

Sie hörten Schritte und kauerten sich nieder. Die Frau brachte ihnen eine Schüssel nach Landesart gewürzten Reises, dem sie wohl oder übel zusprechen mußten. Später untersuchten sie aufmerksam die Kette, aber die war stark und die Schellen saßen fest um ihre Fußgelenke. Langsam verging der Tag und traurig, so sehr Findling auch durch gutgemeinte Äußerungen und Erzählungen eine heitere Stimmung zu erwecken suchte.

Ein Fluchtversuch am Tag erschien ganz aussichtslos, sie mußten die Nacht abwarten. Und dann? Wie sollten sie sich der Kette entledigen? Als die Nacht kam, hob Findling seinen Leidensgeführten zur Luke empor. Vorsichtig schaute sich dieser beim Sternenlicht um. Herabgelassen, berichtete er: »Niedrige Gebäude stehen ringsum, umgeben von einem Bambuszaun, nach allen Seiten zeigt sich Wald.«

Nach kurzer Zeit hörten sie draußen Geräusch und vernahmen deutlich genug, daß sich vor ihrer Tür Leute niederließen. Das war also die Nachtwache. Damit war jeder Fluchtversuch vereitelt.

Endlich ließen sie sich auf dem in einer Ecke aufgehäuften Maisstroh nieder und versuchten zu schlafen, was ihnen erst spät gelang.

Am andern Morgen kam der Alte, um sich zu überzeugen, daß die Fessel in Ordnung sei, und wies wieder jede Geldanerbietung mit dem Bemerken zurück: »Er dürfe ›ihm‹ nicht ungehorsam sein, er wolle sein Leben nicht auf das Spiel setzen.«

Man brachte ihnen Wasser und Speise, und der endlose Tag verging ihnen in trüber, hoffnungsloser Stimmung.

Wieder kam die Nacht und Henrik war der Verzweiflung nahe – wie früher lag vor der Tür die Wache.

Es mochte schon gegen Morgen sein. Henrik wälzte sich wachend und unruhig umher, während Findling fest schlief. Da – plötzlich horchte er auf – drang durch die Luke der Klang einer bekannten Melodie, wenn auch schwach, herein; draußen pfiff jemand ganz munter: »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben«, gleich darauf war es wieder still.

Henrik stieß Findling an. Dieser erwachte; vor der Tür und außen hörte man Geräusch, ihre Nachtwache mußte sich entfernen. Henrik erzählte dem Kapitän, was er gehört hatte. Zweifelnd nahm es dieser entgegen. »Du hast geträumt!« Kaum hatte er ausgesprochen, als draußen von neuem das Pfeifen erklang, atemlos lauschend hörten sie jetzt die Melodie von: »O du lieber Augustin –«

»Es ist der Berliner, der Fritze.«

Wunderbar genug war es, in diesen Wäldern diese Melodien zu hören.

»Es werden sich ein paar deutsche Matrosen verlaufen haben.«

»In solcher Nacht? Nein, das ist Fritze! Vergessen Sie nicht Karl Steffen, der mit dem Instinkt des Wildes und der Geschicklichkeit des Waldmenschen im Dunkel einherschleicht. Sie suchen uns. Wir müssen ihnen antworten.«

»Das ist gefährlich.«

»Ich fürchte, wir sind verloren, wenn diese Gelegenheit, Hilfe zu erlangen, verloren geht.«

»Dann los, antworte.«

Er hob ihn zur Luke empor; noch war es ganz dunkel, und Henrik, den Kopf über das Dach erhebend, pfiff: »O du lieber Augustin, alles ist hin.«

Schnell ließ ihn Findling herab und beide suchten ihr Lager.

Nach einiger Zeit wurde die Tür aufgerissen und hereingeleuchtet, Findling und Henrik stellten sich schlafend. Drei Männer traten ein. Der Alte rüttelte die Gefangenen auf, ließ vor ihren Augen sein Messer blitzen und sagte: »Wenn das eure Freunde sind, hütet euch; gebt ihr ihnen ein Zeichen, so steche ich euch nieder.«

Beide stellten sich erstaunt.

Henriks Pfiff mußten die Wächter gar nicht gehört oder, wenn dies geschehen, den Fremden draußen zugeschrieben haben. Das Benehmen der Gefangenen schien den Verdacht des Malaien einzuschläfern.

Hell klang jetzt die Melodie des Dessauer Marsches: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage –«

Die Malaien stürzten hinaus, in der Eile vergessend die Tür zuzuschließen.

Erregt blickten Findling und Henrik bei dem aufdämmernden Tageslicht sich an.

»Jetzt glaube ich wirklich, daß es unsere tapfere Schneiderseele ist – aber, um des Himmels willen – wenn die Malaien ihn erblicken, ist er ein Kind des Todes.«

»Sie vergessen unsern Waldmenschen; der band waffenlos mit dem Tiger an, der wird auch mit dem Gesindel hier fertig werden.«

In großer Aufregung lauschten sie.

»Lassen Sie mich durch die Luke schauen.«

Findling hob ihn empor, es war jetzt schon bedeutend heller.

»Was siehst du?«

»Am Waldrand sitzt ein Inder mit einem Buch und scheint zu beten.«

»Siehst du etwas von unsern Kerkermeistern?«

»Nein – Himmel – !«

»Was gibt's?«

»Diese aufgestülpte Nase erkenne ich unter tausenden – der Inder ist der Schneider in seinem Balinesenanzug.«

»Nicht möglich.«

»Sicher, Herr.«

»Was soll das bedeuten? Siehst du ihn noch?«

»Ja – er sitzt ganz ruhig und ahmt die Gebärden eines betenden Hindu nach.«

Findlings, der nichts sehen konnte, bemächtigte sich eine große Aufregung.

»Was jetzt?«

»Einige Malaien stehen vor ihm und starren ihn an.«

»Und er?«

»Er beugt sich auf sein Buch.«

»Nun?«

»Einer tritt zu ihm und reißt ihm das Kopftuch ab – es ist – es ist Fritz, ich sehe sein Flachshaar.«

»Töten Sie ihn?« fragte Findling erschreckt.

»Ha! Wie vom Blitz getroffen sinkt der eine Malaie nieder – der zweite – der dritte –«

Unten erhob sich gellendes Rufen.

»Und nun, ums Himmels willen?«

»Fritz ist weg, in den Wald zurück – da – da springt Steffen aus den Büschen.«

Eilende Schritte draußen. Findling vernimmt sie trotz seiner Aufregung – er läßt Henrik zu Boden gleiten und zieht ihn zur Tür – sie stellen sich daneben, an die Seite, wo sie aufgeht – sie öffnet sich – des alten Malaien Kopf erscheint – ein Faustschlag Findlings streckt ihn nieder – das blinkende Messer entfällt des Mannes Hand, Findling ergreift es.

Schüsse erschallen von außen und Fritzens gellende Stimme: »Wo bist du, Hamburger?«

»Hier! Hierher!« rufen Henrik und Findling.

Wiederum ertönen hastige Schritte.

»Hamburger!«

»Hier! Hier!«

Ein Malaie stiegt zur Tür herein, wie von unwiderstehlicher Kraft geschleudert, und liegt am Boden. In der Öffnung erscheint Karl Steffen, nach Art der Singalesen nackt bis auf die kurzen Beinkleider, eine Keule in der Hand. Ganz der Waldmensch, wie Henrik ihn auf der Insel erblickte. Zwei Schläge führt er nach dem Malaien – sie sind tödlich.

Herein stürmt Fritze, das semmelblonde Haar hängt verwirrt um das braun angestrichene Gesicht, und mit dem Ruf: »Hamburger, haben wir dir?« umarmt er Henrik, vor Rührung schluchzend. In der Hand trägt er einen Revolver.

Findling nimmt ihm die Waffe. Bei der Aufregung des Schneiders konnte sie gefährlich werden.

»Fort!« ruft Steffen.

Jetzt erst gewahrte er die Fessel.

Er faßt sie, verschränkt einige Glieder, ein Ruck der starken Hände, und sie bricht wie ein Holzstäbchen. »Fort!«

Die Gefangenen fassen, so voneinander gelöst, jeder das an seinem Knöchel befestigte Stück und folgen ihm.

Sie treten in einen Hofraum, der von niedrigen Gebäuden umgeben ist – eilen durch einen breiten Torweg – vor ihnen liegt der Wald.

Wildes Geschrei und Hundegebell klingt von rechts her, in eiligem Lauf erreichen sie die deckenden Büsche.

Während Findling, Henrik und Fritz sich durch das Unterholz drängen, bleibt Karl am Rand des Waldes stehen. Zwei Hunde nehmen hier die Spur der Flüchtlinge auf, Keulenschläge strecken sie nieder. Ein eilig folgender Malaie teilt ihr Schicksal. Karl hebt den leblosen Körper empor und scheudert ihn mit Aufbietung seiner ganzen Kraft den Nachdrängenden entgegen und springt den Freunden nach.

Vor dem Wald erhebt sich Klagegeheul. Steffen gibt die Richtung des weitern Marsches an und bleibt selbst hinten, um den Rückzug zu decken. Von Zeit zu Zeit lauscht er, aber sein scharfes Ohr vernimmt nichts von Verfolgern.

Eine Stunde haben sich die Flüchtlinge mit Aufbietung aller Kraft durch den verschlungenen Wald gearbeitet, sie sind erschöpft – doch schon stehen Bäume und Büsche lichter, sie sehen einen Weg vor sich, Karl heißt sie halten und ruhen. Alle bis auf ihn triefen von Schweiß und atmen nur mühsam, ermattet lassen sie sich nieder. Die braune Farbe ist zur Hälfte von Fritzens Angesicht verschwunden, es zeigt nur noch helle und dunkle Flecke, aber die wasserblauen Augen blicken so ehrlich und treuherzig in die Welt, wie nur je.

Als er endlich zu Atem gekommen, sagte er: »Ne, Hamburger, wat ick mir freue.«

»Mein guter Fritz!« erwiderte dieser und schüttelte ihm gerührt die Hände. »Mein teurer Freund! Und du, mein guter Waldmensch, mein lieber Karl!« auch ihm sagte der herzliche Händedruck von inniger Dankbarkeit, »welche Freunde, welche Helden seid ihr!«

»Na, det war nischt Besonderes; wie ick uff det Schiff die sieben Insulaner abmurkste, hinterher die vier Kerls in die Höhle jefangen nahm un endlich eene richtige Schlacht mit Schießerei und Attacke jewann, det war anders!«

Henrik mußte trotz seiner Erregung und tiefen Rührung doch über Fritzens grausame Aufschneidereien lächeln. Der Schneider berichtete seine Heldentaten so oft, daß, wie Henrik annahm, er endlich selbst daran glaubte. Findling dankte jetzt ebenfalls den beiden, Karl und Fritz, in männlichen, von Herzen kommenden Worten für ihre kühne Hilfeleistung. Dann ging es an ein Erklären. Als die Gefangennahme des Kapitäns und Henriks bekannt geworden war, zögerte Steffen nicht einen Augenblick, ihre Spur aufzunehmen. Er hatte damals Amea verfolgt und glaubte, auch die Davongeführten in der Richtung suchen zu müssen, in welcher jener damals entflohen war, denn er nahm mit Sicherheit an, daß der Schurke an dem Überfall beteiligt sei. Steffen beschloß, die spärliche Tracht des gemeinen Singalesen anzulegen, Beinkleid und Kopftuch, und konnte in dieser, bei seiner braunen Hautfarbe, recht gut für einen Eingeborenen gelten. Fritz, den der Verlust seines »Hamburgers« fast außer sich brachte, wollte unter keinen Umständen zurückbleiben, und da Karls Absichten durch sein europäisches Kostüm und Äußeres durchkreuzt worden wären, suchte er sein Balinesengewand hervor und ließ sich in der Apotheke Gesicht und Hände braun färben. Dann bewaffnete er sich mit einem Revolver, der ihm gefährlicher war als den Gegnern, während Karl nach seiner langjährigen Gewohnheit nur seine Keule und einige Steine als Wurfgeschosse bei sich führte, und nun zogen sie aus. Karls ausgebildeter Ortssinn brachte sie in der Richtung der Flucht des Malaien vor das Gehöft, welches die Gefangenen barg. Er umschlich es und überzeugte sich, daß nicht viel Männer anwesend sein konnten. Da es ihm nicht gelang, die Anwesenheit der Gefangenen festzustellen, kam Fritz auf die Idee, dies mit musikalischen Leistungen zu versuchen. Groß war die Freude, als der Versuch gelang. Fritz mußte sich dann, den frommen Hindu spielend, am Waldrand niederlassen, um die durch das Pfeifen bereits erregten Malaien durch seine Erscheinung herauszulocken, während Karl zu seinem Schutz im Hinterhalt lag. Der tapfere Schneider, der dem Waldmenschen blindlings vertraute, tat es, und so wurde, nachdem er später noch mit einigen Schüssen, wenn sie auch niemand schadeten, die Malaien wenigstens erschreckt hatte, die Rettung vollendet.

Während sie noch ihre gegenseitigen Erlebnisse austauschten, vernahmen sie Pferdegetrappel, und durch die Büsche lugend, gewahrten sie einen Trupp eingeborener Polizeireiter, welcher von einem Engländer angeführt wurde.

Findling trat auf den Weg und sprach den Offizier an, sich ihm nennend und seine Erlebnisse mitteilend.

Dieser war höchst erfreut, nicht nur über die Rettung der Gefangenen, sondern auch darüber, daß er nun Kenntnis hatte, wo das malaiische Raubnest, welches die Behörde als den Schlupfwinkel gefürchteter Diebe und den Aufbewahrungsort ihres Raubes schon lange suchte, zu finden war.

Einer der Reiter führte glücklicherweise die Werkzeuge bei sich, die Ketten von den Füßen Findlings und Henriks zu lösen. Der Offizier gab ihnen einige seiner Leute zur Begleitung und zum Schutz und jagte mit den andern eilig davon.

Findling und seine Gefährten setzten ihren Weg jetzt auf der Straße fort, erbaten sich im nächsten europäischen Landhaus einen Wagen, der ihnen bereitwilligst gewährt wurde, und erreichten rasch die Stadt und den »Roland«.

Die Mannschaft schrie ein Hurra über das andere, als die lebhaft Betrauerten samt ihren Rettern an Bord kamen. Martin vor allen war überglücklich.

Findling wurde von großer Sorge gequält um den Schatz, den er heben sollte und durch den er noch Aufschlüsse zu erhalten hoffte, die vielleicht sein ferneres Lebensschicksal bestimmten. Er ging in seine Kajüte, um sich umzukleiden. Als er wieder an Deck erschien, erteilte er zum Erstaunen aller Befehl, das Schiff segelfertig zu machen, und begab sich ans Land.

Während er unten weilte, waren Henrik und Fritze von der Mannschaft umringt und mußten von ihren Abenteuern berichten. Karl hatte sich ins Takelwerk begeben. Henrik schilderte schlicht und kurz alles Vorgefallene, die Verdienste Steffens und Fritzes um ihre endliche Rettung nach Gebühr hervorhebend.

Der Schneider, der in seinem von Dornen zerfetzten indischen Gewand und mit seinem braun und weiß gestreiften Gesicht einen überaus komischen Anblick bot, war sehr aufgeblasen.

»Die Kerls liefen, als sie mir sahen, mit Siebenmeilenstiefeln, aber so 'n Stücker drei hab' ick et doch noch beigebracht; dem eenen von die jelben Onkels hab' ick eene Knallschote jejeben, det er 'ne zweete nich verlangen wird. Die imponieren mir noch lange nich.«

Die Matrosen lauschten mit dem größten Vergnügen diesem Bericht seiner Heldentaten, bis der Befehl des zurückkehrenden Kapitäns sie an die Arbeit rief.

Findling hatte zunächst den Konsul aufgesucht und dann in dessen Begleitung die Behörde von allem in Kenntnis gesetzt, was ihm widerfahren war. Jetzt gab er Befehl, das Schiff klarzumachen, und ließ Segel setzen.

In großer Eile und augenscheinlich bestürzt kam Herr Spieß an Bord.

»Wie, Sie wollen wirklich segeln? Doch zunächst meinen Glückwunsch zu Ihrer Rettung aus drohender Gefahr, Herr Kapitän. Sie böser Mann hätten mich, der ich so viel Teilnahme für Sie hege, übrigens auch von Ihrer Befreiung in Kenntnis setzen dürfen, um meine ernste Besorgnis zu verscheuchen.«

Mit kalter Ruhe entgegnete Findling: »Ich werde Ihnen nach meiner Rückkehr einen Besuch abstatten, Herr Agent, der Sie wohl noch weiterer Besorgnisse entheben wird.« Er machte ihm eine kurze Verbeugung und wandte sich hinweg. Spieß entfernte sich bleichen Angesichts.

Eine Stunde später segelte der »Roland« vor einem frischen Nordost gen Westen.


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