Franz Treller
Der Letzte vom »Admiral«
Franz Treller

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Fritze Fischer

Vor einem leichten Luftzug schaukelte der »Roland« auf den langen Grundwellen des Großen Ozeans südlich des Äquators in der Nähe der australischen Inselwelt.

Auf dem Vorderdeck standen der Erste Steuermann, Jan Findling, und neben ihm, in einfacher Matrosentracht, der, den er den Wellen der Nordsee entrissen hatte, Henrik Horsa. Beide schauten eifrig nach vorn aus.

Erst nach Wochen waren die Folgen einer starken Gehirnerschütterung so weit überwunden gewesen, daß der Jüngling Auskunft über sich, die Heimat und die Seinigen zu geben vermochte. Mit Überraschung vernahm der Kapitän, daß er in Henrik Horsa den Sohn eines vor Jahren verstorbenen Schiffskameraden, des Kapitäns Erich Horsa, vor sich hatte, dessen Witwe mit ihrem Kind in Blankenese lebte. Dies wandte natürlich dem Kranken des Kapitäns besondere Teilnahme zu. Als Henrik geistig und körperlich vollkommen hergestellt war, erkundigte Jansen sich bei ihm eingehend nach allen seinen Verhältnissen. Aus den Mitteilungen des Jünglings ging hervor, daß er nach dem Tod des früh entrissenen Vaters von einer zärtlichen Mutter in ihrem kleinen Witwenheim erzogen worden war. Dem von ihm, seitdem er denken konnte, leidenschaftlich gehegten Wunsch, den Beruf des Vaters ergreifen zu dürfen, stand der Wille der Mutter entgegen. Sie weinte noch immer um ihren im fernen Meer vor Jahren versunkenen Gatten und wollte den Einzigen nicht den treulosen Wellen anvertrauen. So bereitete sich Henrik, der das Realgymnasium absolviert hatte, gehorsam der Mutter, doch nicht mit rechter innerer Freude, auf den Beruf des Maschineningenieurs auf der Technischen Hochschule seiner Vaterstadt vor. Doch leidenschaftlich der See ergeben, liebte er es, in seiner Segeljacht die Elbe zu befahren und sich auch, gegen den Wunsch seiner Mutter, in die See hinauszuwagen. Sein Freund, Karl Holthaus, ein ruhiger und geübter Segler, nahm stets an diesen Fahrten teil, und nicht ganz nach seinem Wunsch mußte Henrik auch öfter seinen Vetter, Onno Steenberg, mitnehmen.

Nähere Auskunft über die Katastrophe, welche ihn in das Meer schleuderte, vermochte er nicht zu geben. Entweder hatten seine Gefährten ihn schon vorn geglaubt, oder das Tau war losgeglitten. Große Sorge hegte Henrik um seine Mutter, und er beschwor den Kapitän, alles aufzubieten, um ihr die Nachricht zugehen zu lassen, daß ihr Sohn noch am Leben sei. Da der Kapitän auf die brasilianische Küste abgehalten hatte, um von dort mit dem Passat nach der Kapstadt zu segeln, hatte sich erst an der Südspitze Afrikas Gelegenheit geboten, nach Hamburg Kunde von der Rettung Henriks zu geben.

Sobald Henrik hergestellt war, hatte er den Kapitän gebeten, ihn im Schiffsdienst zu verwenden, und dieser, seinen Wunsch erfüllend, hatte ihn der Wache des Obersteuermanns zugeteilt. Vom Kap aus wurde an die Reeder die Ankunft des »Roland« telegraphiert, und Henrik richtete eine Depesche an seinen Onkel Asmus, schrieb gleichzeitig seiner Mutter ausführlich und bat sie, ihm zu gestatten, auf dem »Roland« bleiben zu dürfen und erst mit diesem zurückzukehren. Der Kapitän hatte ihn anfangs mit dem nächsten Dampfer nach Hause schicken wollen, gab aber seinen Bitten, ihn an Bord zu behalten, endlich nach und schrieb gleichfalls ausführlich an die Mutter, ihr darlegend, daß wir überall in Gottes Hand seien, und daß Henrik sicher nicht auf so wunderbare Weise vor der Mündung der Elbe gerettet worden sei, um im Ozean ein frühes Grab zu finden; er bat selbst, den Jüngling zunächst unter seiner Obhut zu lassen.

Henrik schrieb auch von Kapstadt an seinen Freund Karl Holthaus, da er annahm, daß dieser und Onno sich gerettet hätten, was auch Findling für wahrscheinlich hielt. So blieb er, da er seiner Mutter den Trost geben konnte, daß er noch unter den Lebenden weile, freudigen Herzens an Bord.

Da sich Henrik bei seiner großen Vorliebe für das Seewesen von früher Jugend an mit dem Schiff und allen seinen Einrichtungen vertraut gemacht hatte, soweit das Modell eines Vollschiffes, welches er vom Vater her besaß, und seine Besuche an Bord der im Hafen liegenden Fahrzeuge es ermöglichten, kannte er fast jedes Tau und seinen Gebrauch. Seine Gewandtheit und Kühnheit ließen ihn bei seinem großen Eifer zu lernen bald mit aller Sicherheit im Takelwerk arbeiten, und selbst das Steuer war ihm schon früh anvertraut worden, obgleich das bei einem Segler ein sehr verantwortungsvolles Amt ist. Die Kenntnisse, welche er auf der Schule erworben, befähigten ihn nach kurzer Unterweisung durch den Ersten Steuermann, Berechnungen zu machen, wie sie der Schiffsoffizier anstellt, um Länge und Breite zu ermitteln. Vom Kapitän Herrn Findling zur Ausbildung anvertraut, fand er in diesem einen sorgsamen, obgleich strengen Lehrer. Und nicht nur Dankbarkeit fesselte Henrik an seinen Lebensretter, er gewann den ernsten, tüchtigen Seemann, der in noch jugendlichem Alter stand, er zählte erst sechsundzwanzig Jahre und war bereits Obersteuermann, aufrichtig lieb. Aber auch der Junge, der mit so großer Bereitwilligkeit jeden Dienst verrichtete, war vom Steuermann wie von den Matrosen gern gesehen. »Seemannsblut«, brummten die alten Blaujacken, wenn sie ihn mit Geschick einen gefährlichen Dienst in der Höhe verrichten sahen; sie kannten den Namen seines Vaters als den eines berühmten und kühnen Seefahrers.

So war Henrik Horsa, welcher neben dem Obersteuermann jetzt nach Ost, wohin der Bug des Schiffes stand, ausschaute, angeheuerter Leichtmatrose der Bark »Roland«. Die Tropensonne hatte ihn gebräunt, und er sah kräftiger aus als in der Heimat.

»Das ist Land da vorn, mein Junge«, sagte Findling, ein hochgewachsener schlanker Mann, dessen wohlgeformtes Gesicht mit seinem Ausdruck von Offenheit und Kühnheit sehr für ihn einnahm, indem er auf etwas, was einer Wolke ähnlich am Horizont lagerte, hindeutete, »nur kann ich dir nicht sagen, welche Insel wir vor uns haben«, setzte er mißmutig hinzu.

Er verschwieg, daß der Kapitän seit einigen Tagen die Karten und Instrumente unter Verschluß hielt und die Berechnungen allein machte. Jansen hatte seinen Offizieren erklärt, daß ihn die Pflichten gegen seine Reeder verhinderten, ihnen die Lage der Insel, auf welche sie zusteuerten, mitzuteilen, da diese nicht wünschten, daß eine gute Handelsquelle andern als ihm, ihrem Vertrauensmann, bekannt werde.

Die Steuerleute wußten zwar, daß das Schiff nordöstlich von Neuguinea stand, in der Nähe der diese große Insel umgebenden kleinern Inselwelt, aber seine genaue Lage kannte nur der Kapitän. Im Jahr 1870 war dieser Teil der Südseeinseln noch wenig erforscht, auch war keiner von den beiden Steuerleuten je in dieser Weltgegend gewesen, während Kapitän Jansen wiederholt Reisen hierher gemacht hatte. Es galt einen vorteilhaften Tauschhandel mit den Eingeborenen, um möglichst große Mengen der sehr wertvollen Kopra Der getrocknete Kern der Kokosnüsse. zu gewinnen. Der »Roland« hatte bereits die Admiralitätsinseln und Neuhannover angelaufen und an beiden Punkten nicht unerhebliche Quantitäten dieser Kopra erhandelt, doch wurden diese Inseln zu gleichem Zweck häufig von englischen Handelsschiffen besucht, so daß die Ausbeute dem Kapitän wenig lohnend schien. In Neuhannover hatte Jansen auch einen Eingeborenen, der erträglich Englisch sprach, als Dolmetscher für seinen demnächstigen Handelsverkehr gewonnen und war dann südlich gesteuert. Von der Zeit ab hatte er sich die Berechnung allein vorbehalten.

»Wenn meine geographischen Kenntnisse mich nicht täuschen, müssen wir auf die Salomonsinseln zusegeln«, äußerte Henrik.

Findling warf ihm einen Blick zu, in dem sich Überraschung widerspiegelte.

»Alle Wetter, Junge, du hast entweder eine gute Nase oder einen wunderbaren Lehrer in der Geographie gehabt.«

»Das letztere, Herr Obersteuermann; doch hatte mir der Kapitän früher erlaubt, seine Karten zu studieren, und da ich erfuhr, daß wir für diesen Teil der Welt bestimmt waren, habe ich mich eingehend mit den australischen Inselgruppen beschäftigt.«

»Es wird so sein, wie du vermutest, und wir steuern auf den verrufensten Teil dieser ganzen Inselwelt zu.«

»Warum verrufen, Herr Obersteuermann?« fragte Henrik.

»Die Salomonsinseln werden von ebenso verräterischen wie mordlustigen Kannibalen bewohnt, und das Geschäft, das wir zu unternehmen haben, muß sehr lohnend sein, wenn der Kapitän es wagt, diese Inseln anzulaufen.«

Nach einer Weile sagte er: »Sprich nicht darüber vor der Mannschaft, Henrik, es würde die Leute unruhig machen; der Alte ist übrigens ein vorsichtiger Mann, der sich nicht leicht in Gefahr begibt.«

»Selbstverständlich werde ich kein Wort darüber verlieren«, versprach Henrik, »der Kapitän hat ganz sicherlich gewichtige Gründe, seine Absichten vorläufig geheim zu halten.«

Findling ging hinab, um dem Kapitän Meldung abzustatten, daß in Südost Land in Sicht sei.

Jansen vernahm dies ohne Überraschung. Er sah seinen Ersten Steuermann einen Augenblick forschend an und fragte dann: »Wo glauben Sie, daß wir uns befinden?«

»Ich bin geneigt, anzunehmen, daß wir in der Nähe der Salomonsgruppe stehen, Kapitän.«

Der Kapitän ließ einen leisen Pfiff hören und lachte dann behaglich.

»Stimmt, Findling, haben die Salomonen vor uns, seid ein Seemann durch und durch. Ist Marholm«, dies war der Zweite Steuermann, »auch Eurer Meinung?«

»Ich habe mit ihm darüber nicht gesprochen.«

Der Kapitän ging einigemal in der Kajüte auf und ab und sagte dann gutmütig: »Sie sind verdrießlich, Findling, daß ich Ihnen ein Geheimnis aus Länge und Breite mache; es ist nicht Mißtrauen von mir, auf mein Wort, aber die Reeder haben durch einen Amerikaner von dem Platz, den wir besuchen, Kenntnis erlangt und es mir zur Pflicht gemacht, die Ortsbestimmungen als Geheimnis zu bewahren. Kann nicht anders, Findling.«

»Ich freue mich, zu hören, Kapitän, daß das Mißtrauen nur bei den Eigentümern des Schiffes zu Hause ist und nicht bei Ihnen, außerdem bin ich nicht neugierig.«

»Ich denke ein großes Geschäft mit den braunen Burschen zu machen und bald wieder von hier abzukommen.«

»Die Eingeborenen hier stehen in üblem Ruf.«

»Weiß, weiß, ein böses Gesindel. War schon voriges Jahr hier – ich bin vorsichtig, Findling. Lassen Sie uns an Deck gehen und einmal Ausschau halten.«

Beide gingen hinauf.

Da das Schiff des schwachen Windes wegen von oben bis unten mit Leinwand bedeckt war, mußten beide zum Vorderkastell gehen, um nach vorn Ausguck halten zu können. Der Kapitän hatte sein Glas mitgenommen und sah nach dem fernen Land, welches schon deutlich als solches zu erkennen war.

»Alles richtig, Findling. Lassen Sie zwei Strich mehr nach Süden halten, daß wir im Lee der Insel vorbeigehen. Wünschte, wir hätten eine Mütze voll Wind.«

Nach Seemannsart überflog er durch sein Glas noch den Horizont, ehe er wieder achter ging.

»Donnerschlag!« entfuhr es ihm plötzlich und eifrig hielt er das Glas auf eine Stelle gerichtet. Dann reichte er es Findling und sagte: »Sehen Sie einmal da über die Rüsthölzer weg.«

Der Obersteuermann nahm das Glas und hatte es kaum an die Augen gebracht, als auch ihm ein Ausruf der Überraschung entfuhr: »Das ist ein Wrack, Kapitän.«

»Ja, und im Sinken begriffen.«

Durch das Glas zeigte sich den Männern in etwa zwei Meilen Entfernung ein wenig über die Meeresfläche sich erhebender Schiffsrumpf, den zwei Maststumpfen überragten.

»Lassen Sie draufzuhalten, Findling.«

Findling gab dem Mann am Steuer den Befehl und ging wieder nach vorn. Der Kurs brauchte zu diesem Zweck nur wenig geändert zu werden und ein umlegen war nicht nötig, da sie den Wind fast von hinten hatten. Langsam kamen sie dem Wrack näher, welches sich auf der langen, regelmäßigen Dünung des Ozeans schwerfällig hob und senkte. Dann und wann wurden die Gläser dorthin gerichtet. Ein lebendiges Wesen wurde an Deck nicht wahrgenommen, dessen Lage über Wasser sich übrigens in der Zeit, welche sie zum Ansegeln brauchten, nicht im geringsten zu verändern schien. Als sie auf einige hundert Faden nahe gekommen waren, ließ der Kapitän das Großsegel backlegen, die Jolle aussetzen und forderte Findling auf, hinzurudern, um sich, wenn möglich, über den Namen des Schiffes Gewißheit zu verschaffen. Drei Matrosen, Henrik und Findling gingen in das rasch ausgeschwenkte und niedergelassene Boot, das unter kräftigen Schlägen schnell auf das Wrack zutrieb. Findling war ein zu erfahrener Seemann, um sich ohne weiteres in die Nähe eines Schiffsrumpfes zu wagen, der jeden Augenblick in die Tiefe gehen konnte. Er ließ daher sein Boot in einiger Entfernung langsam einen Kreis um das Wrack beschreiben und betrachtete aufmerksam das Deck und vor allem den Spiegel des Schiffes, der aber bereits zu tief im Wasser lag, um dessen Namen noch erkennen zu lassen. Da er die Überzeugung gewann, daß das Wrack durch eine bestimmte, augenblicklich nicht erkennbare Ursache mit seinem Deck noch über Wasser gehalten werde und sein Sinken zunächst nicht zu befürchten sei, ließ er an Bord rudern und stieg, das Bollwerk war weggerissen, an Deck des fremden Fahrzeuges. Die Wellen hatten ihr grausiges Zerstörungswerk vollbracht, zerrissene Wanten und Stage, welche mit einem Ende noch am Rumpf fest waren, lagen umher oder spielten im Wasser neben dem Schiff. Die Masten waren zur Hälfte gebrochen und nur ihre zersplitterten Enden ragten noch empor. Stengen und Rahen waren mit Segel- und Tauwerk weggespült, das Vollwerk nur an einigen Stellen noch erhalten. Alle Luken aber waren fest geschlossen. Ein Stück der eisernen Kombüse stand noch mittschiffs und in seinem Schutz lag der Rest eines gleichfalls eisernen wohlbefestigten Herdes. Findling ging, trübe gestimmt durch den Anblick einer Zerstörung, der den Untergang der Besatzung ankündigte, langsam darauf zu, sich überall umschauend, ob er nicht irgendwo den Namen des Fahrzeuges auf einem der Schiffsteile entdecken könnte. Als sein Blick in den schmalen Raum zwischen dem Rest der Kombüsenwand und dem Herd fiel, traf er auf einen regungslos daliegenden jungen Menschen, dessen Kopf auf der Balkeneinfassung der Schiffsküche ruhte. Er glaubte im ersten Augenblick, einen Leichnam vor sich zu sehen, trat aber doch näher, um sich zu überzeugen. Es war ein nur mangelhaft bekleideter schlanker Körper, auf den sein Auge fiel. Das Gesicht konnte er nicht erblicken, da es auf dem als Unterlage benutzten Arm ruhte. Er beugte sich nieder, um die Hand zu erfassen, und freudig zuckte er zusammen, als er sie berührte; sie war warm, der Strom des Lebens pulsierte noch.

»Henrik!« rief er. Sofort sprang dieser an Deck und stand neben ihm. Er erschrak nicht wenig, als er den Körper vor sich sah, doch rasch sagte Findling: »Er lebt noch, Junge, wunderbar genug«, und auch Henrik fühlte sein Herz freudig pochen.

Der Steuermann faßte den herabhängenden Arm und schüttelte ihn. Da hob sich das Gesicht, welches auf dem andern Arm ruhte, matt empor, und beide sahen in ein bleiches, verstörtes Antlitz, blaue Augen starrten sie wie die eines Schlaftrunkenen an und: »Nanu?« tönte es wie verwundert zu den beiden Männern empor.

»Gott sei Dank!« sagte Henrik, der noch nicht ganz überzeugt gewesen war, einen Lebenden vor sich zu haben, bei diesem Ausruf.

»Sind Sie der einzige hier an Bord?«

Der Gefragte sah sich um, als ob er seine Gedanken sammeln müsse und entgegnete dann im unverkennbaren Dialekt des Berliners: »Ick jloobe wohl – sie haben mir alleene uff die Entenpfütze jondeln lassen.«

Findling und Henrik lächelten über diese mit schwacher Stimme gegebene Antwort; auch in dieser entsetzlichen Lage verließ das Kind Spreeathens der Humor nicht.

»Kommen Sie, Ihre Not hat geendet.«

»So? Na, det is sehr anjenehm, denn een Pläsierverjnügen is et nich, det kann ick Ihnen sagen.«

Der starke Arm des Steuermanns half dem, wie es schien, gänzlich geschwächten und blaß und elend aussehenden Menschen auf die Beine; er mußte ihn halten, da er umzusinken drohte.

»Haben Sie nich een Tröppken Wasser – Herr – ick habe so 'n Durst –«

»Dann rasch an Bord – dieser Not kann abgeholfen werden. Befindet sich noch etwas hier, was Sie mitzunehmen wünschen?«

»Nee, Männeken, ick bin froh, wenn ick von die Jondel ab bin – det kluckst da drin«, er deutete auf Deck, »als wenn eener 'n Schlucken hat, un –«

Findling, aufmerksam gemacht, vernahm jetzt das Geräusch, auf welches der Berliner anspielte, und im Augenblick wurde ihm klar, daß nur die unter Deck zusammengepreßte Luft den Rumpf über Wasser hielt, daß diese Luft aber langsam entwich. Da er nicht länger, als nötig war, auf diesem dem Untergang geweihten Fahrzeug weilen wollte – jeder Augenblick, das Bersten einer Planke, konnte die Katastrophe herbeiführen – nahm er den jungen Menschen wie ein Kind auf den Arm, trug ihn zum Boot und die Matrosen setzten ihn nahe dem Steuer auf eine Bank. Findling und Henrik stiegen ein. »Los! Legt euch in die Riemen!« kommandierte der Obersteuermann, und von schnellen Schlägen getrieben, stand das Boot bald hundert Faden vom Wrack ab.

Eine dumpfe Explosion ließ sich von dorther vernehmen – das Deck war augenscheinlich gesprengt, die eingepreßte Luft entwich und der Rumpf versank in die Tiefe.

»Wir kamen und gingen zur rechten Zeit«, sagte aufatmend Findling.

In wenigen Minuten erreichten sie den »Roland«, der auf einer leichten Boleine abgehalten hatte und unweit stand. Der Berliner war ohnmächtig geworden und mußte an Deck gehoben werden, von wo aus der Kapitän das, was auf dem Wrack geschah, verfolgt hatte.

»Wasser!« rief Findling. Der Koch brachte schnell ein Gefäß voll und der Steuermann flößte dem Bewußtlosen einige Schluck ein. Der atmete tief auf und ein glückliches Lächeln erschien auf seinem bleichen Gesicht.

»Mehr!«

»Man nich tau veel«, sagte der Kapitän, der den magern, fast verschmachteten Burschen teilnahmsvoll betrachtete. Doch Findling goß ihm noch einige Löffel voll ein.

Der junge Mensch öffnete die Augen und sagte mit einem Seufzer inniger Befriedigung: »Schmeckt besser als die feinste Weiße. Jeben Sie mich noch eenen Schluck.«

»Nee, min Jong, teuf man. Du sollst noch genug Water hewwen, aber teuf man. Hast du denn Hunger, Kind?«

»Nee, bloß man jroßen Durst, den ick von meinem Onkel jeerbt habe, det eenzige, wat er mir hinterlassen hat.«

Wunderbar war die Wirkung der kleinen Menge Wasser, die man dem Schiffbrüchigen eingeflößt hatte. Neues Leben schien seine Glieder zu durchströmen, die Augen wurden lebendiger und der Ausdruck des Leidens verschwand nach und nach aus dem Gesicht.

Nach einiger Zeit gab man ihm wieder zu trinken und mehr als vorher.

»Unser Zimmerherr, der Doktor von de Philosophie, hat et immer jesagt, Wasser wär' det Beste – jetzt weeß ick, det er recht hatte!«

Der Kapitän und die Matrosen standen um den Geretteten und freuten sich des zurückkehrenden Lebens.

»Ein Seemann bist du wohl nicht, Junge?« fragte Jansen. Die zarten Hände, welche niemals rauhe Arbeit verrichtet zu haben schienen, rechtfertigten diese Frage.

»Nich de Bohne, ick bin Zuschneider.«

Herzlich lachte der Kapitän bei der nicht ohne Selbstgefühl gegebenen Antwort.

»Na, recht, mein Junge, es muß auch Schneider geben. Wie befindest du dich denn?«

»Een bißken dösig, sonst janz jut. Bitte noch um een Schluck.«

Wieder gab man ihm etwas Wasser.

»Kannst du mir sagen, wie dein Schiff hieß?« fragte der Kapitän, der begierig war, dies zu erfahren.

»Allemal. Et war der Rostocker Schoner ›Goliath‹, Kapitän Merks, von Sidney nach Hongkong, und von da sollte et weiterjehn. Denn kam der jroße Wind mit det Wellenjebrause, und die langen Mastenstangen knickten man so wie Haselruten. Die Herrn Seematrosen setzten sich, als et zu doll wurde und det Wasser schonst von unten rauf buddelte, in zwee Jondeln und dampften ab, und mir ließen se mitten mang det Wellenbad janz alleene.«

Der Bursche sagte dies mit einem Humor, der etwas bitter Schmerzliches an sich hatte; die Nachwirkung der ausgestandenen Todesangst und die Leichtlebigkeit der Berliner Natur kämpften hier miteinander.

»Was bist du denn für ein Landsmann?«

»Icke?« fragte er ganz erstaunt. »Een Berliner, klar. Fritze Fischer, Reezenjasse Numero siebenundzwanzig, vierte Stiege in't zweete Hinterhaus.«

»Es freut mich, Fritz Fischer, daß wir dich noch zeitig genug übergeholt haben. Nun geh hinunter, laß dir zu essen geben und schlafe dich aus. Später wollen wir mehr darüber reden.«

Mit großer Sorgfalt vom Koch bewirtet, kroch er dann nach vollendetem Mahle in die ihm angewiesene Koje und schlief mit den Worten: »Der liebe Jott verläßt keenen Berliner nich,« alsbald ein.

Die Entdeckung des Wracks und die Rettung des jungen Mannes wurden auf Deck noch lebhaft besprochen, während der »Roland« seinen Kurs wieder aufnahm, um die Insel, welche höher und höher aus dem Wasser stieg, links seines Weges liegen zu lassen. Der Wind, welcher aus West stand, frischte etwas auf, und das Schiff machte gute Fahrt. Der Kapitän, der das Auffinden des Wracks mit der ihm allein bekannten Länge und Breite und den von dem Schneider angegebenen Namen des Schiffes ins Logbuch eingetragen hatte, erschien wieder an Deck.

Kapitän Jansen hatte, wie bereits berichtet, in Neuhannover einen Eingeborenen an Bord genommen, einen hochgewachsenen, kräftigen Mann, der den ganzen Tag still an Deck saß und seine Pfeife rauchte. Der braune, stark tätowierte Geselle hatte das Interesse Henriks erregt, und da er auch einigermaßen mit dem Englischen vertraut war, hatte er sich wiederholt mit dem Insulaner zu unterhalten versucht, was bei der Wortkargheit Aturas – so nannte er sich – indessen sehr schwierig war.

Als der Kapitän durch das Glas eine neuauftauchende Insel betrachtet hatte, rief er Atura an, machte ihn auf das Land aufmerksam und unterhielt sich leise mit ihm. Die Antworten des Mannes schienen ihn zu befriedigen. Das Schiff blieb auf Südkurs und passierte nach einigen Stunden auch diese Insel, welche stattliche dicht bewaldete Berge zeigte. Und wiederum sprach der Matrose, der in den Vortop geschickt war, Land an. Nach einigen Stunden war es deutlich, daß man hier eine Insel von beträchtlichem Umfang und hoch emporragenden Gebirgszügen vor sich hatte. Das Land lag über Backbord und erstreckte sich weithin von Nordwest nach Südost. Wenn man den Kurs beibehielt, mußte man in wenigen Stunden darauf laufen. Findling betrachtete die noch ferne Küste durch das Glas und rief dann dem Mann im Vortop zu, scharf nach weißem Wasser auszulugen.

Als Findling nach dem Achterdeck kam, wo Kapitän Jansen, eine Zigarre rauchend, auf und ab ging, fragte dieser, was er dem Mann zugerufen habe. Der Obersteuermann sagte es ihm.

»Nichts zu besorgen, Findling. Riffe finden sich zwar überall in diesen Gewässern, aber wir treffen, was die Küste da drüben angeht, bald auf eine Strömung, die uns von den Riffen abbringt. Lassen Sie die Buganker klarmachen, wir wollen zu Nacht an der Küste bleiben.«

»Zu Befehl, Kapitän«, und Findling ging, um die Anker klarmachen zu lassen, so daß sie auf den ersten Befehl niedergehen konnten.

Am Steuer stand während der Unterredung der beiden Befehlshaber ein alter wettergebräunter Seemann, der jedes Wort vernahm. Als er gewahrte, daß Findling die Anker gleich ausbringen ließ, flog ein Zug der Befriedigung über sein derbes Gesicht und er murmelte: »Er versteht's, der Junge.«

Dann handhabte er sein Rad ruhig und still wie bisher.

Der Koch meldete dem Kapitän, daß der gerettete Schneider ganz munter erwacht sei.

»Na, laß ihn achter kommen, ich will mir das Gewächs mal ordentlich betrachten.«

Gleich darauf tauchte Fritze Fischer aus dem Mannschaftslogis auf und ging nach hinten. Bekleidet war er, wie man ihn aufgefunden hatte, nur mit einem wollenen Hemd und einer leinenen Hose. Aber sein rascher Schritt verriet, daß er sich durch Nahrung und Schlaf wesentlich gekräftigt hatte. Bald stand er in bescheidener Haltung vor dem Kapitän. Der sonst ganz unverfrorene Berliner hatte auf seinen Seereisen gelernt, daß auf dem Hinterdeck und vor dem Kapitän die größte Ehrerbietung geboten sei. Jansen musterte den Jungen von oben bis unten. Fritz Fischer war mager und von schmächtiger Gestalt. Sein Gesicht, welches er in diesem Augenblick in ehrfurchtsvolle Falten gelegt hatte, nahm für ihn ein; es lag viel Gutmütiges und durch die etwas aufgestülpte Nase, den Ausdruck der wasserblauen Augen und der Mundwinkel, doch etwas Drolliges darin.

»Nun, wie fühlst du dich, Bursche?«

»Janz passabel, Herr Kapitän; ick habe sehr anständig gefuttert und een Schläfchen jemacht.«

»Kann ich mir denken«, sagte Jansen lächelnd. »Wie alt bist du?«

»Über achtzehn, Herr Kapitän.«

»Und Schneider deines Zeichens?«

»So is et«, er wollte hinzusetzen: »sagt Neumann«, schluckte es aber, als für die Person, vor der er stand, nicht geeignet, hinunter.

»Nun erzähle mir mal, wie du hierher in die Südsee kommst?«

Fritz Fischer kratzte sich etwas in seinem nicht gerade glatten, semmelblonden Haar und sagte dann: »Det is so, Herr Kapitän: Vater is schon lange tot, und mein' liebe olle Mutter mußte uns vier alleene uffbringen. Und det hat sie auch redlich jetan, Herr Kapitän, det wird jeder sagen, der ihr kennt. Sie macht Feinwäscherei un die beeden guten Stuben vermietet sie an Zimmerherrn, die ooch nich allemal berappen. Ick bin der Älteste un de Line is erst dreizehn. Wilhelm is Tischler, Jule wird Buchbinder un ick habe de Schneiderakademie bei Meister Pietsch in de olle Jakobsgasse abserviert. Nu hatt' ick 'n Onkel in det olle Australien, in Sidney, un der schrieb, ick solle man kommen, et wäre ville Arbeit da, un die würde jut bezahlt. Ick wollte doch meiner lieben Ollen 'n bißken unter de Arme jreifen, un in Berlin jing det Geschäft nich recht von wejen zu ville Arbeitskräfte, da entschloß ick mir, rüber zu machen. Die liebe Verwandtschaft legte det Reisejeld vor mir zusammen un denn habe ick so 'n Sticker sechs Monat uff so 'n ollen Sejelkasten rumjeschaukelt. Wie ick nu nach Sidney kam, war mein juter Onkel tot und de liebe Verwandtschaft dort verleugnete mir, weil ick nich standesgemäß ufftreten konnte, un mit de Arbeit war et ooch nischt. Ick war jerade an't Verhungern, als mir Kapitän Dierks sah. Jott habe ihm selig, er war jut zu mir. Ick dauerte ihm in meine Not, un er sagte, er wolle mir mitnehmen nach Rostock; ick könnte mir unterwegs als Schneider un als Schiffskellner un sonst nützlich machen. Da dachte ick, det olle Australien, wo se nich emal 'n Berliner Schneiderjesellen richtich ästimieren, kann der Kuckuck holen, ick jehe wieder nach Berlin, un so kam's, det Sie mir uff det jroße Salzwasser jefunden haben, Herr Kapitän.«

Der Junge erzählte dies in seinem unverfälschten Berliner Dialekt mit unverkennbarer Treuherzigkeit, und das gefiel Kapitän Jansen. Ernst fragte er dann: »Und die Mannschaft hat den ›Goliath‹ verlassen und du bliebst zurück?«

»Ach, Herr Kapitän, sie hätten mir woll schonst mitjenommen, aber det jing alles so rasch mit die Masten un det jrausliche Wasser un den Sturm un de jräßliche Dunkelheit. Da hatte ick mir in de Küche verkrochen un habe an meine liebe Mutter un die andern jedacht, un als ick mir endlich uff de jejenwärtige Situation besann, waren de andern weg.«

»Du wirst wohl der einzige Überlebende vom ›Goliath‹ sein; bei einer See wie die, die über euch kam, konnte sich kein Boot halten. Wie lange ist das her?«

»Es ist heute der vierte Tag.«

»Hattest du denn etwas zu essen?«

»In een Kessel war noch 'n Häppken Salzfleesch, det habe ick mir zu Jemüte jezogen, aber der Durst – Herr Kapitän – der Durst – et wurde immer doller.«

»Na, min Jong, dat is all öwer! Mach dich hier nützlich an Bord und verdiene deine Kost.«

»Allemal. Ick werde allens, wat Sie mir ufftragen, uff det prompteste besorjen.«

»Nu geh nach vorn; was du an Kleidern brauchst, wird dir der Steuermann geben.«

Jansen nickte ihm zu, und Fritze ging eilig nach vorn. Henrik, der nahe dabeigestanden, hatte die Unterredung mit angehört, und der Berliner Junge hatte ihm sehr gefallen.


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