Franz Treller
Der Letzte vom »Admiral«
Franz Treller

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Auf Tod und Leben

Findling, der diese Gewässer zum erstenmal befuhr, hatte mit größter Vorsicht seinen Weg durch die gefährliche Torresstraße gesucht und war fast Tag und Nacht nicht von Deck gekommen. Während der wenigen Stunden, die er schlief, verließ er sich mehr auf den erfahrenen und besonnenen Martin als auf Marholm. Doch jetzt in der Harafurasee gönnte er sich mehr Ruhe. Der Auftrag, den Schatz des verschollenen Konsuls zu heben, kam ihm jetzt, wo das Schiff seine Aufmerksamkeit weniger erheischte, wieder lebendiger zu Sinn. Er hielt das Ganze noch immer für die Ausgeburt eines kranken Gehirnes.

Während mittschiffs Henrik, Martin und der Schneider sich Wunderdinge erzählten, saß er am Hinterdeck unter dem Sonnenzelt, welches er hatte herstellen lassen, und hing seinen Gedanken nach. Ob er es gleich von der niedrigen Stufe aus, auf welche ihn das Geschick alsbald nach seiner Geburt gestellt, verhältnismäßig rasch zu einer achtbaren Stellung gebracht hatte, so nagte doch das Gefühl, so ganz vereinsamt im Leben zu stehen und auf die Frage: »Woher des Landes und wer waren die Eltern?« die Antwort schuldig bleiben zu müssen, oft schmerzhaft an seiner Seele. Doch nicht allein die Demütigung, die dieses Verlassensein mit sich führte, bereitete ihm Kummer, mehr noch die so vergebliche tiefe Sehnsucht nach einem Wesen, das nach Blut und Seele ihm innig verwandt sei. Wie beneidete er die beiden Jünglinge, den frischen, feurigen, so gut und edel veranlagten Henrik Horsa, den gutmütigen, drolligen Schneider um das Glück, ein liebendes Mutterherz ihr eigen nennen zu können. Er war gut und freundlich im Waisenhaus behandelt worden, und er war heute noch dankbar dafür, aber die gütigste Haushälterin war keine Mutter, der freundlichste Lehrer kein Vater. Sein eigenartiges Wesen hatte ihn verhindert, im Waisenhaus sowohl wie später unter seinen derben, oft rohen Schiffsgenossen, die an natürlicher Begabung und bald auch an Wissen und Können unter ihm standen, Freunde zu finden. Bis auf Kapitän Baggesen war niemand seinem Herzen näher getreten. Henrik, dessen Äußeres für ihn einnahm, wie sein freundliches Wesen, vornehmes Denken und gute Manieren, der eine für seine Jahre nicht gewöhnliche Bildung besaß, hatte bald sein Herz gewonnen, und in einer Stimmung, in welcher die Sehnsucht nach Gütern, die ihm ein herbes Geschick geraubt hatte, mächtig war, hatte er ihm jene vertraulichen Mitteilungen gemacht.

War Henrik auch für einen Freundschaftsbund mit einem durch die rauhen Stürme des Lebens vor der Zeit gereiften Mann zu jugendlich an Jahren und Empfindungen, so brachte ihm doch Findling ein Wohlwollen entgegen, welches Ähnlichkeit mit dem Gefühl hatte, mit dem man einem jüngern Bruder gegenübersteht.

Seine Gedanken kehrten, während das Schiff langsam durch die Wellen strich, zu dem Auftrag zurück, den Schatz des Konsuls zu suchen, und als Martin in die Nähe des Hinterdecks kam, rief er ihn an.

Der Alte trat zu ihm.

»Hast du einen Marsgasten Hans Evers gekannt, der später in Hamburg Jollenführer war?«

»Will's meinen, Kaptein; habe mehr als einmal die Back mit ihm geteilt.«

»War's ein zuverlässiger, ehrenwerter Mann?«

»Nu, Kaptein, er war ein guter Schiffsmaat, nichts gegen zu sagen, nur mit der Wahrheit nahm er's nicht ganz genau, war mitunter ein Leichtfuß.«

»Hast du ihn denn auch noch als Jollenführer gekannt?«

»Habe ihn immer gesehen, wenn ich in St. Pauli vor Anker lag. War ein drolliger Kauz geworden, hatte seine fixe Idee. Nach dem dritten Glas Grog faselte er stets von einem Schatz, den er irgendwo verborgen wußte, und schimpfte auf die Dummheit der Menschen, die ihm nicht die Mittel geben wollten, ihn zu heben, das wußte der ganze Hafen und amüsierte sich daran.«

Das klang, was die Aussagen des Evers anging, nicht gerade tröstlich.

»Kennst du den Namen Isenhoit?«

»Habe den Namen wohl nennen hören, zählten ehemals zu den großen Hansen, die Isenhoits.«

»Von einem Konsul dieses Namens, der vor Jahren mit dem Schiff zugrunde gegangen, hast du nichts gehört?«

»Kann mich nicht besinnen, Kaptein, muß all lange her sein.«

Da bis auf die nicht tröstlichen Mitteilungen über die Zuverlässigkeit des Evers zu der Sache, welche Findling ihrer Eigenartigkeit wegen interessierte, nichts Wichtiges aus ihm herauszubekommen war, verabschiedete er ihn.

Der Wind war allgemach eingeschlafen und nach kurzer Zeit herrschte völlige Windstille. Luft und Wasser waren so ruhig, daß die Segel matt herniederhingen. Auch die Grundströmung machte sich hier in der Binnensee nur wenig bemerkbar.

Der »Roland« schaukelte sich leicht auf und nieder wie ein Kahn auf einem Teich.

Findling wußte, daß Windstillen in diesen Gewässern oft tagelang anhalten. Die Harafurasee ist eingeschlossen von hoch aufragenden umfangreichen Inseln und liegt nicht in den Linien, welchen die großen Luftbewegungen folgen. Dieses erzwungene Stilliegen war ihm wenig angenehm.

Gegen Norden zeigten sich dem Auge, nur wenige hundert Faden entfernt, zwei anmutig gestaltete, bewaldete Inseln. Ein reiches Tierleben schien dort heimisch zu sein, denn zahlreiche Wasservögel belebten die kleinen Buchten, Papageien und andere buntgefiederte Waldbewohner schwangen sich auf den Zweigen umher.

Zu Henrik, der neben ihm am Vollwerk stand, sagte Fritze, der wie sein Gefährte bewundernd auf das Tropenbild schaute: »Du, wat meenste, Hamburger, wenn wir so een paar von die Paradiesvögel mit nach Hause bringen könnten, det wär' aber 'n Jux vor die janze Reezenjasse.«

Auch in Henrik war die Sehnsucht lebendig, eine Erinnerung an diese farbige Tropenwelt mit hinwegzunehmen, und er äußerte die Absicht, um Erlaubnis zu bitten, an Land gehen zu dürfen.

»Denn bitte aber vor mir ooch, ick möchte meine Beene mal gehörig vertrampeln.«

Die Mütze in der Hand, nahte sich Henrik dem Hinterdeck.

»Komm her, was willst du?« rief ihm Findling entgegen.

Henrik trat vor ihn und sagte mit seinem einnehmenden Lächeln: »Ich möchte um die Erlaubnis bitten, einige von den Enten und Papageien dort für den Herrn Kapitän schießen zu dürfen.«

»O wie liebenswürdig, und der Herr Horsa möchte natürlich auch einige von jenen Papageien mit nach Hause nehmen?«

»Ja, Herr Kapitän – dort würde es große Freude bereiten. Auch Fritz Fischer sehnt sich danach, seiner Mutter Sonntagshut mit einem echten Paradiesvogel zu schmücken.«

Findling stand auf, ließ seinen Blick über den Horizont schweifen und sagte dann freundlich: »Nehmt die Jolle, Jungs, und geht an Land. Der Schneider darf mit. Bei dieser See kann jedes Kind rudern.«

Diese Erlaubnis enthielt für die beiden jungen Leute die Aussicht auf ein seltenes Vergnügen. Die Jolle ging nieder, Findling gab Henrik seine eigene Doppelflinte sowie Patronen mit Dunst und grobem Schrot, und vergnügt ruderten der Hamburger und Fritze nach der nahen Küste. Zwei Stunden Urlaub hatte ihnen der Kapitän bewilligt. Henrik war ein vortrefflicher Schütze und erlegte schon vom Boot aus zwei Enten. Sie landeten, legten die Jolle fest und begannen sich nun nach den bunten Vögeln umzuschauen, die zahlreich die Uferbäume belebten. Besonders erregte ein seltsamer Vogel, dem vom Haupt zwei lange, dünne, auffallend gestaltete Federn, länger als der ganze Körper, herniederhingen, nicht nur Fritzes, sondern auch Henriks bewunderndes Staunen, der weder in den berühmten Vogelsammlungen seiner Vaterstadt, noch in ornithologischen Werken ähnliches gesehen hatte.

»Du, Hamburger«, schrie der entzückte Berliner, »von die schieß ein paar. So 'n Ding soll de Alte un de Line uff'n Hut haben, wenn wir Sonntags zu'n Jrunewald jehn, denn platzt awer de olle Piefken vor Neid und Jalle.«

Henrik schoß nach einem schönfarbigen langgeschwänzten Papagei, traf ihn auch, aber der Knall erregte einen furchtbaren Aufruhr in der Vogelwelt; wild flatterte alles von Ast zu Ast und erhob mißtönendes, betäubendes Geschrei. Da die schönen Vögel nach mehreren gut gezielten Schüssen scheu wurden und nicht mehr aushielten, folgten ihnen die beiden Jünglinge in den Wald.

Zum erstenmal sahen sie sich staunend von den Wundern der Tropennatur umgeben, die sie bis jetzt nur von fern erschaut hatten. Seltsame, nie gesehene Pflanzen, farbenprächtige Blüten von wunderlichen Formen, mit denen große Schmetterlinge an Glanz und Schönheit wetteiferten, Schlinggewächse, die sich von Baum zu Baum in kühnen Windungen hinzogen, dichtbelaubte Waldesriesen, welche zum Himmel aufragten, andere, welche niedergesunken am Boden der Vernichtung entgegengingen, boten sich ihren staunenden Augen; die feierliche Stille, das düstere Halbdunkel unter den Bäumen, welches nie ein Sonnenstrahl zu erhellen schien, dies alles erfüllte das Gemüt der jungen Leute mit Schauern der Ehrfurcht. Wie in eine Märchenwelt fühlten sich die Kinder des Nordens versetzt, in jene phantastische Welt, welche in ihre Kindesträume hereinragte.

»Det is aber wirklich scheene hier«, nahm endlich Fritze das Wort, »det is doch noch anders wie der Tierjarten. Nur 'n bißchen duster is et.«

»Es ist die Tropenwelt in ihrer ganzen Pracht und Macht«, sagte Henrik in staunender Bewunderung.

»Ja, scheene is et, aber 'n bißchen kellerig mang die ollen Bäume, meenste nich?«

Henrik, in den neuen und überwältigenden Anblick versunken, antwortete nicht. Fritze, bei dem der Eindruck dieser so überreichen Vegetation weniger tief haftete, sagte dann: »Aberst, nu laß uns 'n paar von die Paradiesvögel schießen, det wir ooch wat mitbringen.«

Sie schritten in den Wald hinein, bahnten sich ihren Weg durch Büsche und Schlinggewächse, überkletterten morsche Bäume und stiegen allgemach höher und höher an der Berglehne empor. Es gelang Henrik, zwei von den ersehnten Vögeln zu schießen, und dann dachte der besonnene Jüngling an den Heimweg, den er nach dem kleinen Kompaß an seiner Uhr bestimmte. Sie stiegen mit ihrer Beute bergab, um die Meeresküste zu gewinnen, als ein heftiger Donnerschlag sie plötzlich aufschauen ließ. Der Himmel war ihnen durch das dichte Laubdach verdeckt und ein Luftzug, hier im dichten Urwald, nicht zu spüren. Henrik erschrak über diese jähe Veränderung des Wetters, die sicher von starker Luftströmung begleitet war, und setzte eilends seinen Weg fort. Unter großen Anstrengungen erreichten sie nach einer halben Stunde den Strand und sahen den mit grauem Dunst überzogenen Himmel über sich. Die See zeigte Bewegung, und von Osten blies es scharf. Das Auge suchte das Schiff. Dort stand es wohl drei Meilen weit unter kurzen Segeln und lavierte hin und her. Es war klar, der sich erhebende Ostwind hatte es von der Insel abgetrieben, während sie im Wald weder die Sonne sahen noch einen Lufthauch spürten.

Henrik war bereits erfahren genug, um zu wissen, daß es gelte, den »Roland« vor dem Ausbruch eines schweren Wetters zu erreichen, solange er noch am Wind segeln konnte.

»Vorwärts!« rief er und lief nach der Stelle zu, wo die Jolle lag. Glücklicherweise führte diese immer Mast und Segel mit, so auch jetzt. Kräftig hob er den Mast empor und setzte ihn ein, Fritze befehlend, die Schote des Klüvers zu festigen, während er das Segel losband.

Er fühlte das Anschwellen des Ostwindes, sah wie die Wogen sich zu heben begannen und übergab das Segel nur sehr verkürzt dem Luftzug. Sich ans Steuer setzend, zog er die Schot an, und das Boot schoß wie ein durchgehender Renner über die Wellen. Schweigend saß Fritze neben ihm und starrte auf die blasenwerfenden Wellen. Sie liefen vor dem Wind ab und machten schnelle Fahrt.

Henrik war ein überaus kräftiger Jüngling, geübt, ein Boot auch in rauhem Wetter zu führen, und hielt das Steuer mit eherner Kraft. Doch nie hatte er bis jetzt eine solche See im Boot befahren, und auch der »Roland« war bisher immer von gutem Wetter begünstigt worden. Er wußte, daß sie rettungslos verloren waren, wenn die Jolle einen Augenblick außer Fahrt kam, die nächste Welle hätte sich mit aller Wucht daraufgestürzt und sie versenkt. Ja er wußte, daß, wenn das Boot in seiner Schnelligkeit nachließ, er Wasser von achtern bekommen würde, was ebenfalls Vernichtung bedeutete. Gern hätte er gewendet, wiederum die schützende Bucht der Insel zu suchen; das war ein vergeblicher Wunsch, denn nie konnte die Jolle bei diesem Luftzug am Wind fahren, sie konnte nur von ihm ablaufen. In steigender Verzweiflung sagte er sich, daß es bei diesem Wellengang ganz unmöglich sein würde, an Bord zu gelangen – da – sein Herz bebte krampfhaft zusammen – der »Roland« hatte vor dem ausbrechenden Sturm wenden müssen und lief jetzt gleichfalls vor dem Wind ab, sich mit jeder Sekunde weiter von ihnen entfernend. Diese Bewegung des Schiffes, durch die eherne Notwendigkeit erzwungen, glich einem Todesurteil für die Jünglinge. Aber Henrik war von jener kühnen deutschen Art, die auch in drohender Gefahr des Unterganges nicht verzweifelt. Mit immer gleicher Ruhe, Kraft und Geschicklichkeit steuerte er das Boot durch die schäumenden Wellen, dem brausenden Sturm Trotz bietend.

Die Jolle hielt sich unter ihrem Steuermann wundervoll. Während das ausdrucksvolle Gesicht Henriks einen Zug jenes Mutes verriet, der sich vor nichts fürchtet und trotzig den gebotenen Kampf aufnimmt, saß Fritz Fischer blaß neben ihm, merkbar zitternd. Jetzt nahm die Jolle Wasser auf. Da warf sich Fritz auf die Knie und betete laut. Henrik aber herrschte ihn an: »Bete im Herzen und schöpfe das Wasser aus.«

Und gehorsam begann der Schneider das Wasser mit dem im Boot befindlichen Gefäß und seiner Wachstuchmütze auszuschöpfen. Die Wolken hingen so dunkel hernieder, die Luft war so voll Sprüh und Gischt, daß das Auge kaum hundert Schritt weit sehen konnte.

Stunde auf Stunde verrann, und nach wie vor jagte die Jolle in wilder Eile vor dem Sturm her, jeden Augenblick in Gefahr, den Wind von der Seite zu bekommen, sobald sie sich aus einem Wellental, wo sie für kurze Zeit den Wind verlor, wieder erhob. Aber Henrik hatte nicht vergeblich seine Studien in den wilden, kurzen Wellen der Nordsee gemacht, und stetig gelang es ihm, dieser Gefahr mit starkem Arm zu begegnen. Fritz schöpfte Wasser und betete still, Henriks ganzes Denken war von der Lage des Fahrzeugs in Anspruch genommen.

Hoch erhob es sich auf einer Welle und, da – schattenhaft zeigte sich zu seiner Linken Land. Mit kräftiger Hand drückte Henrik das Steuer nieder und ließ die Jolle zwei, drei Strich der Küste sich zuwenden; er wollte das Segel schärfer anziehen, aber er vermochte es nicht – er durfte das Steuer nicht loslassen – aber sie näherten sich dem Land – schon war die Küstenbildung deutlicher zu erkennen. Noch einmal wagte er es, das Steuer herabzudrücken, der Bug richtete sich schärfer auf das Land, sie kamen näher. Fritze stöhnte, denn das Boot nahm mehr Wasser auf als vorher, aber mit der Kraft der Verzweiflung schöpfte er es aus. Bis auf zwanzig Schritt waren sie dem Ufer nahegekommen und jagten daran hin, doch an ein Landen war nicht zu denken, die Brandung war zu stark. Eine scharfe Landzunge zeigte sich dem Blick, leewärts, hinter dieser war das Wasser ruhig – mußte es ruhig sein – lange konnte sich das Boot nicht mehr halten.

Henrik hielt nahe auf die Spitze zu – in ihrer Höhe ließ er das Segel flattern und riß mit aller Kraft das Ruder backbord. Wie ein Kreisel gehorchte die Jolle – wendete – und lag gleich darauf in dem verhältnismäßig ruhigen Wasser einer kleinen geschützten Bucht. An einem Schilfsaum glitt sie hin; Henrik faßte die starken Halme, trieb das Boot in das Schilf hinein – und fast bewegungslos lag die Jolle da.

»Gott sei Dank!« sagte Henrik aus der Tiefe seines Herzens.

»Ja«, wiederholte Fritze in vor Erregung zitterndem Ton, »ja, Jott sei Dank – det war ne scheene Jondelfahrt mit die Schöpfkelle.«

Der Sturmwind fuhr über die Geretteten hin, sauste in den Bäumen hoch über ihnen einher, das Geräusch der Brandungswellen drang zu ihren Ohren, aber hier lagen sie sicher.

Endlich sagte Fritz: »Wat nu, Hamburger?«

»Komm, wir wollen das Wasser ausschöpfen und dann an Land gehen.«

Sie taten um so eifriger, was er sagte, da sie beide von oben bis unten durchnäßt waren und fröstelten; bald war die Jolle leer.

Der Sturm schien nachzulassen, wenigstens drang das Geräusch von Wellenbrausen und Rauschen in den Lüften schwächer zu ihnen, auch der Himmel schien sich aufzuheitern. Statt sich mühsam durch das dichte Schilf nach dem Land hinzuarbeiten, trieb Henrik das Boot wieder in die Bucht hinaus, die, vor dem Wind vollständig geschützt, nur leichte Bewegung der Wasserfläche zeigte. Ein Blick auf das Meer lehrte, daß die Wellen bereits niedriger gingen und die Luft fast klar war. Deutlicher sahen sie, welch ein anmutiger Nothafen sich ihnen aufgetan hatte! Die Bucht war schmal und zog, sich verengend, einige hundert Schritt ins Land hinein. Eingefaßt von Schilf und Bäumen, nur an wenigen Stellen zeigten sich Sand und Steingeröll, bot sie ein Bild stillen Friedens im Gegensatz zu dem wildschäumenden Meer. Henrik nahm die Riemen und fuhr langsam am Ufer hin in die Bucht hinein. Noch wiegten sich hoch oben an Land die Wipfel der Kokospalmen im Luftzug, fast gespenstisch, mit unheimlichem Geräusch flatterten die großen Blätter umher, aber am Wasserrand war es still, kaum ein Zweig regte sich. Als sie die Tiefe der Bucht erreichten, hielten sie vor der Mündung eines klaren Baches, an dessen Ufern sich weiterhin seltsame Felsgebilde erhoben. Henrik trieb das Boot an eine flache, sandige Stelle in der Nähe der Mündung, legte es fest und beide gingen ans Land. Riesige Farnkräuter, Mimosen, verschiedene Palmenarten traf ihr Auge. Dazwischen blühende Schlingpflanzen, welche sich von Baum zu Baum zogen. Hochauf ragten schlanke Palmen, deren Früchte hie und da zerstreut am Boden lagen. So unberührt lag alles da, als ob es eben erst aus des Schöpfers Hand hervorgegangen sei; nichts Lebendes war zu gewahren.

Traurig sagte Fritze: »Det wird wohl so 'ne Jeschichte wie Robinson seine werden – ick seh et kommen.«

»Na, Fritze, wir sind dann wenigstens Zweisiedler und so noch immer besser daran als er.«

»Meenste? Wat wird denn nu aus uns werden?«

»Nun, sobald Findling kann, kehrt er zurück und holt uns ab.«

»Ick will det wünschen, denn an so ne wüste Insel rumzuklettern hab ick keene Lust. Wenn ick nur een kleenes Feuerstübchen hätte, ick habe et so in die Knochen.«

»Komm, wir wollen einen Platz suchen, wo wir ein Feuer anzünden und nächtigen können.«

Sie schritten am Ufer des Baches entlang und schauten sich überall aufmerksam um. Die grauen Felsen, welche sie vor sich sahen, waren zerklüftet und schienen Zufluchtsorte zu bieten. Nach kurzer Frist sahen sie eine dunkle Felsöffnung vor sich und gingen darauf zu. Henrik war vorsichtig genug, sich am Boden nach Spuren wilder Tiere umzusehen, die in dem feinen Sand, der vor den Felsen lag, leicht bemerkbar sein mußten. Doch nichts zeigte sich dem forschenden Blick, was auf solche Gefahr hindeuten konnte. Sie schauten in die Öffnung hinein und gewahrten, daß sie wenig umfangreich sei, doch Raum genug für sie beide bot. Auch fiel etwas Licht durch den Eingang, um selbst im Hintergrund noch ein Halbdunkel zu erhalten. Sie traten ein und fanden sich in einer länglichrunden Höhle von der Größe und Höhe eines geräumigen Zimmers. Sie schien durchaus trocken zu sein. Auch hier zeigten sich keine Spuren, welche darauf hindeuteten, daß sie Tieren zum Aufenthaltsort diene.

»So, Fritz, hier wollen wir uns zunächst niederlassen«, sagte Henrik. »Geh und suche trockenes Holz, damit wir Feuer bekommen und uns trocknen können, ich will das Boot heranholen.«

Fritz ging hinaus und sah sich nach trockenem Holz um, während Henrik die Jolle den Bach hinauftrieb.

Fritz kehrte bald mit einem Arm voll Holz zurück, und Henrik, der die Flinte, die Patronen und den Beutel mit Schiffszwieback, der nach Findlings Anordnung nebst einem Fäßchen Wasser in jedem Boot fortwährend beigestaut sein mußte, heraufgeschafft hatte, zündete vermittelst des Inhalts seiner Zündholzbüchse das Feuer an. Bald loderte es hoch und lustig empor und erfüllte die Höhle mit einer angenehmen Temperatur, welche den durchnäßten Seefahrern sehr wohl tat. Zwieback kauend und sich wärmend saßen sie am Feuer. Halt! wozu hingen denn die Kokosnüsse draußen. Henrik lief hinaus und kam bald mit zwei Früchten zurück, bei deren Schütteln das Geräusch verriet, daß der Kern noch flüssig sei. Mit einiger Mühe entfernten sie die äußere Schale und saugten durch eine der von der Natur gemachten Öffnungen, deren weichen Pfropfen sie mit dem Taschenmesser beseitigten, den erfrischenden Inhalt.

»In welche Himmeljejend sin wir denn nu, Hamburger?« fragte endlich Fritz.

»Der Sturm kam aus Nord und ich vermute, wir müssen südlich der Sundainseln stehen.«

»Lauter Inseln«, sagte verdrießlich der Schneider, »scheene Jejend.«

»Ich vermute, wir sind an ein unbewohntes Eiland verschlagen –«

»Fehlte ooch noch, det hier braune Menschenfresser rumliefen und Beefsteak aus uns machten.«

»Nur ruhig, in zwei, höchstens drei Tagen sind wir wieder an Bord des Schiffes. Findling weiß, wo er uns zu suchen hat. Hier droht uns keine Gefahr.«

»Na, ick will et wünschen, ick habe jar keene Lust, den wilden Mann zu machen.«

»Zunächst, Fritze, wollen wir uns für die Nacht behaglich einrichten. Heute ist nichts mehr zu unternehmen, auch wird es bald dunkel. Laß uns noch Holz herbeiholen, damit wir das Feuer die Nacht über erhalten können, es möchten sich doch allerlei gefährliche Bestien hier herumtreiben, und besorge du noch ein paar Arme voll Moos. Ich trage Segel, Riemen und die Steuerpinne herein, für alle Fälle, und dann wollen wir morgen sehen.«

»Glaubst du denn, daß der ›Roland‹ in ein paar Tagen wieder hier ist? Ick nich. Ick weeß, wie det jeht uff die Schiffe. Eenmal bläst et aus die Ecke, un denn aus die andre, un immer aus die unrechte; manchmal bläst et ooch jar nich. Ick jloobe nich, det der ›Roland‹ wieder kommt.«

»Was für Einbildungen! Torheit! Mach kein so verdrießliches Gesicht, Schneiderseele.«

»Ick weeß, wie det mit die Einsiedler zujeht, die sitzen immer jahrelang uff so 'ne verwünschte Insel.«

»Unsinn. Geh, hole Moos, Fritz, morgen leuchtet uns nach Sturm und Ungewitter die Sonne wieder, heute wollen wir einen langen Schlaf tun, ›denn dieses Tages Qual war groß‹.«

Sie brachten Moos herbei für das Nachtlager, Henrik Ruder und Segel, und dann ließen sich beide an dem Feuer nieder.

»Wer mir das vor einem halben Jahr gesagt hätte«, begann Henrik, »daß ich heute mit einem Herrn aus der ›Reezengasse‹ auf einer einsamen Insel des Indischen Ozeans sitzen würde, den hätte ich ausgelacht.«

»Ick ooch, ick habe jar keen Talent zu wilde Abenteuer.«

»Du hast dich aber doch so tapfer auf dem ›Roland‹ geschlagen, als die Wilden da waren.«

»Nu, ja«, lächelte der geschmeichelte Schneider, »en Stücker vier hab ick hinjeholfen.«

Aha, dachte Henrik, jetzt sind es schon vier, das Dutzend wird voll, ehe wir heimkommen.

»Aber 'n so rechtes Pläsiervergnügen habe ick an so wat nich.« Nach einer Weile fuhr er fort: »Du bist doch 'n janz reputierlicher Mensch, Hamburger, hast so 'ne feine Art, un kannst ooch Franzesch, ick habe mir immer jewundert, wie du unter det rohe Matrosenvolk jekommen bist.«

»Rohe Matrosen?«

»Na, Pli hat keener nich, det wirst de doch zujeben müssen; wie bist du denn eegentlich darunter jeraten?«

»Ich bin ins Meer geworfen worden, und sie haben mich aufgefischt.«

»Spaß.«

»Ernst.« Henrik erzählte ihm nun, auf welche Weise er auf den ›Roland‹ gekommen war. Staunend horchte der Schneider.

»Na, det nenn ick Jlück, da haben sie dir aber jleich ordentlich mit Meerwasser jetooft.«

»Siehst du, Junge«, fuhr Henrik fort, »von Jugend auf liebe ich den kühnen Beruf des Seemanns, es muß im Blut liegen; ich glaube, meine sämtlichen Vorfahren waren verwegene Seeleute. Ein altes Friesengeschlecht, hausten wir Horsas seit Jahrhunderten an der Küste. Mein lieber Vater befuhr das Meer wie seine Väter und fand den Tod des Seemanns in seinem Schoß. Meine gute Mutter wollte mich vor den Gefahren der See bewahren, aber das Geschick ist mächtiger als Menschenwille, Gottes Hand schleuderte mich in die wilden Wasser, aus denen ich erstand als Seemann, zu dem ich vom Schicksal augenscheinlich bestimmt bin.«

»Und dein Vater ist auch auf der See zujrunde jejangen?«

»Versunken im Meer, von Schiff und Mannschaft hat man niemals wieder gehört.«

»Und doch trautest du dir uffs wilde Wasser?«

»Pah, der Soldat endet ruhmreich auf dem Schlachtfeld, der Seemann findet sein Grab im Meer und die Meereswelle singt ihn zur ewigen Ruh, das ist Mannesende.«

»Ick habe da keene Leidenschaft vor.«

Während Henrik in Gedanken verloren dasaß, fuhr der Schneider nachdenklich fort.

»Na, du bist woll über Hals und Kopf in det Seeleben rinjekommen. Also een eigenes Schiff hattest du oder Jacht, wie du sprichst? Dann bist du woll een reicher Junge?«

»Das nicht, aber wir haben unser Auskommen. Die Segeljacht verdanke ich meinem Onkel Asmus.«

»Is det 'n Erbonkel?«

Henrik lachte über die Frage, sagte aber dann ernst: »Nun, wenn der gute Alte, was Gott noch recht lange hinausschieben möge, einmal die Augen schließt, so werden Onno und ich wohl seine Erben sein, da er keine Kinder hat; wir sind seine leiblichen Neffen.«

»Sagtest du nicht vorher, daß der Onno, wie du ihm nennst, den Segelbaum uff dir losjelassen hat, der dir in't Wasser warf?«

»Das habe ich nicht gesagt – ich erzählte dir nur, er habe an der Brasse gesessen, als ich nach vorn ging.«

»Nu, ja«, und Fritze pfiff ein Lied vor sich hin.

»Was meinst du damit?«

»Icke? O nischt nich.«

»Gewiß meinst du etwas, heraus damit.«

»Na, ick meene nur, det et doch komisch is, dat der eene Erbe an de Maschine sitzt und se jerade zu rechter Zeit losjeht, um den andern Erben in det Wasser zu werfen.«

Henrik wurde sehr bleich bei diesen Worten.

»Schäme dich«, sagte er dann, »einen solch abscheulichen Verdacht auszusprechen, ja so etwas auch nur zu denken.«

»Na, nichts für unjut, ick meene man bloß; et sin schon janz andere Sachen passiert.«

Henrik war sehr verstimmt durch des Schneiders Worte und sagte nach einiger Zeit kurz: »Wollen schlafen gehen.«

Er warf noch Holz auf das Feuer, beide suchten dann die in einer Ecke bereitete Lagerstatt auf und deckten sich mit dem trocken gewordenen Sprietsegel zu.

Der Schneider schlief bald fest, Henrik aber warf sich noch lange unruhig hin und her.


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