Franz Treller
Der Letzte vom »Admiral«
Franz Treller

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wiedersehen

Es dauerte einige Zeit, bis die jungen Leute nach den so abenteuerlichen aufregenden Ereignissen der letzten Zeit und besonders der jüngsten Tage das ruhige Gleichgewicht ihrer Seelen wieder gefunden hatten. Außer der Umgebung, der europäischen Kost, die sie doch schließlich der indischen vorzogen, trug auch das freundliche Benehmen Kapitän Fultons dazu bei.

Auch er vernahm mit Verwunderung die Schilderung ihrer Erlebnisse und bezeigte ihnen aufrichtige Teilnahme. Vor allem aber erregte ihn das Schicksal des Waldmenschen.

Er schlug vor, ihn zu seinem eigenen Besten im Schiffsdienst zu verwenden, und da Henrik diesem Vorschlag gern zustimmte, wurde Steffen gefragt, ob er arbeiten wollte. Begierig ging dieser darauf ein, er ward der Steuerbordwache zugeteilt, in der er schweigend, aber überaus pünktlich seinen Dienst verrichtete.

Mit großem Interesse lauschte der Kapitän den Schilderungen ihrer Erlebnisse auf Lombok. »Ich befahre diese Meere seit Jahren«, sagte er, »und laufe fast alljährlich Ampanan an, ohne mehr als die Küste gesehen zu haben; und selbst im Hafen haben wir Europäer nur mit den chinesischen Zwischenhändlern zu tun. Sie haben ein besonderes Glück gehabt, das Innere in etwas kennenzulernen. Der Radscha, der hier herrscht, mag ja ein vortrefflicher Mann sein, und daß er seine Unabhängigkeit bewahren möchte, wird ihm ja niemand verübeln; die innern Zwistigkeiten auf diesen Inseln dienen aber nur dazu, sie um so sicherer unter die Oberherrschaft der Holländer zu bringen.«

Im weitern Verlauf der Unterredung sprach man von dem »Roland« und seinem wahrscheinlichen Schicksal.

Kapitän Fulton, welcher die indischen Gewässer seit Jahren besuchte, bemerkte: »Die in Ost einsetzenden Stürme sind im Indischen Ozean sehr gefährlich, besonders wenn sie ein Schiff in der Nähe der Südküste der Sundainseln treffen. Sie setzen aus und fahren um die halbe Windrose herum. Dazu bieten die Küsten keine Ankerplätze als Zufluchtsorte. Ich glaube gern, daß Herr Findling ein erprobter Seemann ist, doch gibt es kein tückischeres Gewässer auf Erden als diesen Ozean. Ich will hoffen, daß sein Schiff der Gefahr glücklich entronnen ist.«

Diese Äußerungen des erfahrenen Schiffers stimmten Henrik sehr traurig, seine schlimmsten Befürchtungen schienen hier bestätigt zu werden. Auch der Schneider war aufrichtig betrübt, als er erfuhr, wie nahe der Gedanke läge, daß der »Roland« zugrunde gegangen sein könne.

»Det wäre recht schade, Hamburger«, meinte er, »denn der Herr Findling war so 'n netter Mensch un hatte so wat Liebes und Jebildetes an sich. Det wär recht schade.«

Henrik war auf das ernstlichste besorgt um das Schicksal des ihm so sympathischen Mannes, der ihn der See entrissen hatte, und sehnte den Augenblick herbei, der ihn zu einem größern Hafen führen würde, wo er Näheres und hoffentlich Günstiges über den »Roland« zu erfahren erwartete. Die tiefe Erschütterung seiner Seele, welche die wunderbare Auffindung der letzten Ruhestätte seines Vaters hervorgerufen hatte, war durch die nachfolgenden Ereignisse etwas gemindert worden. Jetzt bei leichtem Wind über den Ozean gleitend und unbeschäftigt, kehrten seine Gedanken zu dem einsamen Grab zurück. Er suchte zu ergründen, wie die Katastrophe so grauenvoll über die Mannschaft des »Admirals« hereingebrochen war.

Eingedenk der dem verwilderten Mann gegenüber gebotenen Vorsicht, hatte er keine Frage an ihn gerichtet, aber doch mit Freuden bemerkt, daß er in angestrengter Tätigkeit – und Kapitän Fulton sorgte dafür, daß er beschäftigt wurde – sich langsam an das zivilisierte Leben gewöhnte. Auch sein früheres, verwildertes Aussehen war durch nochmaligen Schnitt von Haar und Bart sehr wesentlich verändert.

Heute saß er allein auf dem Vorderdeck und splißte Taue, eine Arbeit, welcher er zwar gewachsen war, die aber unter den ungeübten Fingern nur langsam vonstatten ging.

Den Matrosen war der sonnverbrannte und schweigsame Mensch mit seinen so oft ins Weite stierenden Augen unheimlich und sie hielten sich fern von ihm. Auch zu necken wagte ihn keiner, nachdem sie Proben seiner riesenhaften Körperkräfte gesehen hatten; sie ließen ihn still seinen Dienst tun. Henrik ging nach vorn und lehnte sich ans Bollwerk. Wie immer zog ein Schimmer von Freude über Karl Steffens Züge, wenn Horsa in seine Nähe kam.

»Nun, Karl, bist du gut zuwege?« fragte Henrik.

Nach einiger Zeit, während deren er sinnend vor sich hinsah, erwiderte Karl: »Es lag wie Blei hier oben«, er deutete auf die Stirn, »aber es wird mit jedem Tag leichter. Vor den Augen schwebte es wie Nebel, ich sah und erkannte nur wenig, aber es wird heller um mich – heller.«

Langsam und stockend kamen diese Worte über seine Zunge, welche sich immer noch ungebärdig zeigte, aber sie kündeten doch deutlich, daß die Nacht, welche seinen Geist umhüllte, allmählich wich, und was mehr war, daß er seinen Zustand erkannte.

»Und du sehnst dich nicht nach deinem bisherigen Aufenthalt, nach der Lebensweise zurück, welche du auf der Insel führtest?« fragte Henrik.

Ein leichter Schauer überlief seinen Leib, dann sagte er: »Nein.« Er arbeitete eine Zeitlang eifrig und fragte dann, innehaltend: »Welche Jahreszahl haben wir?«

»1880.«

Er ließ den Marlpfriem sinken und sann angestrengt nach. »1880«, wiederholte er leise, »1880 – und 1866 war es, ja, 1866.«

Mit fieberhafter Eile splißte er dann weiter, so, als ob er quälende Gedanken dadurch verscheuchen wollte; Henrik verließ ihn, um die Regungen seiner Seele nicht zu stören.

Er begegnete Fritz, der sich als gutbeköstigter Kajütenpassagier äußerst wohlfühlte, in diesem Augenblick aber verdrießlich aussah.

»Nun, Mensch, der das unermeßliche Glück hat, mit Spreewasser getauft zu sein, welche Wolke lagert über deinem Geist?«

»Weeßte, Hamburger, die janze wilde Sache uff die olle Tigerinsel un dann hinterher die indianische Anjelejenheit mit Jartenpalais, feuerspeienden Berg un den Krieg, det kommt mir manchmal nur wie ein Traum vor.«

»Gewiß, Fritz, nur ist es gut, daß uns der Traum einige handgreifliche und wertvolle Andenken zurückgelassen hat.«

»Det muß wahr sind, die jelben Exzellenzen haben sich sehr honorig jegen mir benommen, allens wat recht is. Ick habe et aber ooch verdient, det wirst du zujeben, denn ick habe doch eejentlich die jrausame Schlacht jewonnen.«

Henrik war über diese Behauptung Fritzens nicht sonderlich erstaunt, ja, er hatte Ähnliches erwartet und fragte ganz ernsthaft: »Du, mein kleiner Napoleon? Wieso denn? Ich glaubte, es wäre der Prinz mit seinen Reitern gewesen.«

»Allens richtig, aber wenn ick den schrecklichen Räuberhauptmann nich dingfest jemacht hätte, dann wär' die Jeschichte wieder von vorne losjejangen. Det kannst du jlauben und dann hätten sie mir und dir abgemurkst, und allens war futsch.«

»Zugegeben. Deine großen Verdienste um die Sache des Radscha werden ja auch wohl in der Geschichte Lomboks fortleben und ich werde mir die Freude machen, sie in Deutschland zu verbreiten. Was ist denn nun aber der langen Rede kurzer Sinn?«

»Siehste, Hamburger, ick ärgere mir doch manchmal im stillen, daß die jelbe Exzellenz, mit det Palais un die Springbrunnen, mir nich so wat vor't Knopploch jejeben hat, et hätte mir zu großen Spaß jemacht, mit so'n wilden Orden heimzukommen!«

»Aber Mensch, du besitzest ja einen der höchsten lombokschen Orden, was willst du denn noch?«

»Wie denn? Ick habe doch bloß det kleene Armband, det kriegt de Line, un den Ring.«

»Nu ja, das ist ja der Orden, an blauem Band um den Hals zu tragen.«

»Den Ring?«

»Du kannst doch nicht verlangen, daß die Indier genau dieselbe Form zur Verzierung einer verdienstvollen Brust haben, wie wir Abendländer. Was bei uns ein Stern ist, das ist bei den Balinesen ein Ring. Höchste Klasse mit Brillanten!«

»Meenste det wirklich? Oder is det man Mumpitz?«

»Aber das ist doch ganz klar.«

»Wenn ick den Orden aber um den Hals trage«, meinte Fritze nachdenklich, »dann dürfte ick ihn in Berlin bald los sein.«

»Das könnte wohl so kommen.«

Fritz versank in Gedanken und fragte dann: »Wieviel meenste denn, Hamburger, dat det Ding an Jeld wert is?«

»Der Stein? Ich verstehe mich zwar nicht sonderlich auf Diamanten, aber ich glaube, du wirst, wenn du ihn einem Juwelier anbietest, vier- bis fünfhundert Taler dafür erhalten.«

»Wieviel?« schrie Fritz.

Henrik wiederholte die Summe. Fritze machte einen Satz und drehte sich dann um sich selbst. Mit strahlendem Gesicht rief er dann: »Denn is et jut, Hamburger, denn bin ick aber scheene 'raus. Denn wird det versilbert, und wenn et ooch 'n Orden is, un dann koofe ick de Olle een Kleid un 'n Hut mit oben wat druff, un die Line ooch, Jule und Aujust kriegen ooch wat ab, dann soll aber die Reezenjasse Oogen machen.«

»Ich glaube, es ist das Beste, was du mit deinem Orden anfangen kannst, denn von unserer Regierung würde er doch schwerlich anerkannt werden.«

»Is mir ejal, ick bin jetzt janz zufrieden; det is der richtige Orden vor mir.«

Und Fritze war mit diesem wertvollen Orden, den er seiner unbezweifelten Tapferkeit verdankte, jetzt wirklich höchst zufrieden.

Bei ruhigen Luftströmungen war der »Cumberland« bis etwa zum l00. Grad östlicher Länge gesegelt, als gegen Abend der Wind sich stärker erhob. Dem Kapitän gefiel das Aussehen des Himmels durchaus nicht und er ließ Leinwand kürzen, so daß das Schiff nur noch vor gerefften Obersegeln, dem Fock- und dem Vorstengenstagsegel dahinlief; dies war kurzes Tuch für ein Schiff, welches den Wind fast über Heckbord hatte. Dennoch ließ der Kapitän gegen neun Uhr wieder reffen. Ununterbrochen blies es aus Südost, und als der Morgen heraufkam, lief das Schiff nur noch unter Fock- und dem großen Marssegel. Alle andere Leinwand war in der Nacht geborgen worden. Henrik war früh an Deck gekommen, und auch Kapitän Fulton war bereits erschienen.

Der Sturm brauste unheimlich im Takelwerk, und die Wellen liefen so hoch, daß es schwer war, einen Ausguck auf den Horizont zu bekommen. Der Kapitän hielt bei dem gewaltigen Luftdruck auch das Marssegel noch für zu viel für das Schiff und befahl, es einzunehmen.

Das war ein schwieriges Stück Arbeit, und die geübtesten Matrosen gingen hinauf, um das Stück Leinwand zu bergen. Als sie oben waren, riefen sie das Deck an, doch bei dem Wind konnte kein menschlicher Ruf nach hinten dringen. Fulton, der das Kommando führte und nicht gut nach oben gehen konnte, bat den in seiner Nähe stehenden Henrik, in die Besantakelage zu steigen und sich umzusehen nach dem, was die Matrosen gewahrt haben mußten.

Alsbald stieg Henrik empor und erblickte zu seinem nicht geringen Erstaunen auf der Steuerbordseite ein Schiff, welches gleichen Kurs mit dem »Cumberland« hielt und nicht hundert Faden abstand. Das fremde Schiff lag unter ganz kurzer Leinwand, hielt sich stetig vor dem Wind, sobald es den Luftzug fühlte, gierte aber furchtbar, sobald es in den Wellenhöhlungen lag, worin ihm der »Cumberland« nichts nachgab. Ehe Henrik nach unten kommen konnte, erbebte das Schiff bis in seine Grundfesten.

Fulton hatte, während der »Cumberland« zwischen den zu Wasserbergen sich erhebenden Wellen lag, eben den Befehl zum Lösen der Schoten des Marssegels erteilt, und alle Hände waren unter der Aufsicht der Steuerleute mit Aufbietung aller Kraft beschäftigt, Halsen und Bauchgordingen anzuziehen, als das Schiff wieder in den Sturm trat, das Marssegel mit einem kanonenschußähnlichen Knall zerriß und das gewaltige Stück Leinwand in Streifen mitsamt den Blöcken und Kardeelen, welche an der Rahe geblieben waren, so furchtbar umherpeitschte, daß es das Leben der Leute oben in die dringendste Gefahr brachte. Dabei erbebte der Mast in seinen Grundfesten. Sofortige Hilfe war not. Die Fetzen und Blöcke mußten abgeschnitten werden, wenn sie nicht großes Unheil anrichten sollten.

Während die Leute oben noch zauderten, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, stieg mit einer selbst dem verwegensten Seemann unbegreiflichen Schnelligkeit Karl Steffen in die Takelage. Alles starrte nach dem kühnen Mann hin. Mehrmals war er in ernstester Lebensgefahr, aber es gelang ihm, ungefährdet und in kürzester Zeit Blöcke und Leinwand abzuschneiden, die von dem Sturm davongeführt wurden, so daß bald nur die nackte Spiere sich dem Auge bot.

Erst jetzt, als die Gefahr für die Leute wie für Steffen beseitigt war, ging Henrik hinab und meldete dem davon sehr betroffenen Kapitän die Nähe des mit dem »Cumberland« gleichen Kurs haltenden Schiffes.

Fulton stieg in die Besanwanten, bis er Ausguck auf den Fremden hatte, und Henrik folgte ihm. Das Schiff war bis auf Fock, Sturmsegel und die Besangaffel nackt. Gleichzeitig sanken beide Schiffe in die Wellenhöhlungen, und nun war nichts von dem Fremden zu gewahren. Als der »Cumberland« mit der nächsten Welle sich hob, sahen Fulton und Henrik mit Schrecken, daß das fremde Fahrzeug kaum dreißig Faden entfernt, gerade dwars von seinem Kurs abgierte. Das war ein furchtbarer Augenblick. Gleich wildgewordenen Rennern rasten die beiden Schiffe durch die Wogen, um dann unsicher in den Wellenhöhlungen hin und her geworfen zu werden, sobald sie den Wind verloren. Stießen sie, mit furchtbarer Kraft vom Sturm dahingeführt, zusammen, so waren beide rettungslos verloren. Einen Augenblick gar schien es, als ob der Fremde von gewaltiger Welle gehoben mit seiner ganzen Wucht auf den »Cumberland« stürzen wolle.

»Ruder hart Backbord!« schrie der Kapitän mit aller Kraft, und drüben – fast berührten die Nahen des fremden Schiffes die des »Cumberland« – sprang ein athletischer Mann den Steuerleuten zu Hilfe, um das Ruder nach Steuerbord zu reißen. Einen hellen Jubelschrei stieß da Henrik aus, denn der dort drüben – ja, es konnte keine Täuschung sein – war Findling! Deutlich sah Henrik sein kühnes Gesicht, und auch jener mußte ihn erkannt haben, denn er beantwortete den Freudenruf. Der nächste Augenblick mußte über Leben oder Tod entscheiden. Da! – ein Seufzer der Erleichterung entrang sich jeder Brust; die Schiffe gehorchten dem Steuer und traten auseinander.

Als der »Cumberland« sich wieder mit der Welle hob, war der »Roland«, immer noch Ruder Steuerbord, weit genug abgetrieben, um jede Gefahr eines Zusammenstoßes auszuschließen.

Henrik war von dem wunderbaren Wiederfinden des »Roland« und seines fast schon tot geglaubten Freundes Findling auf das innigste erfreut. Sehnsüchtig hing sein Blick an dem in Sturm und Wellen schwankenden Schiff. Dort am Bollwerk stand Findling und schwenkte den Hut – Martin und die Matrosen schauten herüber – Henrik winkte mit der Hand – die Schiffe sanken nieder – Wasserberge türmten sich zwischen ihnen auf – und als die Fahrzeuge wieder hoch auf der Flut erschienen, war kein Gesicht mehr zu erkennen. Doch, Gott sei Dank, Findling lebte, der »Roland« schwamm noch auf dem Wasser!

Fulton und Henrik stiegen hinab; in voller Herzensfreude berichtete letzterer dem Kapitän, daß dort sein Schiff segele. Fulton teilte seine Freude.

»Wunderbar genug, Sir. Wünsche Euch Glück. Dort kommandiert ein erfahrener Seemann. Sah, wie er sein Schiff handhabt. Lassen Sie die Besangaffel aufziehen«, rief er dem Steuermann zu, »der Deutsche hat recht, daß er sie führt. Das Schiff liegt ruhiger und wir nehmen weniger Wasser über.« Es geschah, und die Wirkung war bald sichtbar.

Henrik suchte Fritz auf, der in seiner Koje lag. Als jener in die Kajüte stürmte, fuhr der Schneider erschreckt empor: »Ach Jott, jeht et wieder los?«

»Junge, Fritze, Schneiderseele – der ›Roland‹ ist da, Findling läßt dich grüßen«, jubelte Henrik. Fritze sah ihn groß an und dachte: Ach Jott, is der rappelig geworden?

»Gaffe nicht so, Schneider – es ist, wie ich sage – der ›Roland‹ ist da, nicht eine Meile von uns steht er. Komm mit an Deck, daß du ihn selbst sehen kannst.«

Fritz war zwar kein Freund vom Aufenthalt an Deck bei solchem Wetter, sprang aber doch behend aus der Koje, und mit einem »Det wäre!« folgte er Henrik. Bald sahen sie den »Roland«, der immer noch neben ihnen herlief, etwas voraus auf den Wellen schaukelnd.

»Un det, meenste, wär der ›Roland‹?«

»Ja, Fritze, das ist er, und Findling war beinahe hier an Bord.«

»Nanu? Bei det Wetter?«

»Ja, er hatte es eilig, uns wiederzusehen.«

»Und?«

»Zog es aber doch vor, ruhigeres Wasser abzuwarten, ehe er uns seine Visite macht. Er läßt dich grüßen.«

»Na, da is aber det Ende von weg«, brachte der staunende Schneider hervor. »Hast du ihm denn gesprochen?«

»Natürlich; er sagte, er habe hier schon drei Wochen auf uns gewartet.« Mit der so unverhofften Freude wachte aller Jugendübermut in Henrik wieder auf.

»Wie konnte er denn wissen, det wir hier vorüberkutschieren würden?«

»Weißt du, was Trigonometrie ist?«

»Nee.«

»Nun, infolge trigonometrischer Berechnungen wußte er, daß wir ihm hier begegnen mußten.«

»Det jeht aber doch über die Hutschnur.«

Die geheimnisvollen Berechnungen der Schiffer, nach denen sie den Kurs bestimmen, waren Fritz freilich stets höchst wunderbar erschienen, aber diese trigonometrische Leistung schien ihm doch über das Maß des Menschlichen hinauszugehen!

»Willst du mir wieder mopsen, Hamburger?«

»Wieso denn? Du siehst doch, daß der ›Roland‹ da ist. Packe deine Sachen zusammen; sobald das Wetter es erlaubt, siedeln wir über.«

»Ooch mit die Trigonometrie?«

»Selbstverständlich, auf der Lehre vom Dreieck beruht das ganze Weltall.«

»Na, mir is et ejal, meintwegen uff en Zweieck. Aber ick freue mir doch kollosiv, det am ›Roland‹ noch allens in Ordnung is.«

Henrik teilte Kapitän Fulton seinen Wunsch mit, sobald es tunlich sei, mit Fritz und Steffen nach dem »Roland« überzusetzen, einen Wunsch, den der Engländer ganz natürlich fand. Der Wind legte sich in den nächsten Stunden, und die beiden Schiffe – der »Roland« stand kaum eine Meile ab – trugen wieder die gewöhnliche Leinwand. Als die See sich so weit beruhigt hatte, daß ein Boot ausgesetzt werden konnte, kürzte der »Roland« Segel und signalisierte, daß er den »Cumberland« sprechen wolle. Fulton antwortete, daß er beilegen werde.

Henrik hatte sein Gepäck an Deck schaffen lassen, sich dann an Steffen gewandt und diesem mitgeteilt, daß er an Bord des Schiffes, dem er angehöre, übersetzen werde, wobei er selbstverständlich voraussetze, daß Steffen ihn begleite.

»Ich gehe mit – Horsa«, hatte dieser erwidert, »ich gehe mit – immer mit.«

Als die Schiffe noch einige hundert Faden entfernt waren, legten beide bei und der »Roland« ließ ein Boot zu Wasser. In freundlicher Weise hatte Fulton sich schon von Henrik und Fritz verabschiedet. Karl Steffen aber, für dessen Schicksal er fortwährend ein besonderes Interesse zeigte, der dem »Cumberland« einen so wichtigen Dienst geleistet hatte, schenkte er zum Dank für seine kühne Tat eine silberne Taschenuhr, die der Arme mit freudigem Staunen entgegennahm.

Das Boot des »Roland« kam heran, die Kisten der jungen Leute wurden hineingeschafft, und mit kräftigen Schlägen trieben die Leute, welche Henrik und Fritz jubelnd begrüßt und Karl Steffen angestaunt hatten, das Boot zurück.

Einige Minuten später lag Henrik an Findlings Brust. Fritz war von dem Wiedersehen nicht weniger ergriffen. Die Freude der Mannschaft über die Rückkehr der Verlorengeglaubten äußerte sich auf mannigfache Weise. Verwundert blickten alle auf Steffen, der still nach vorn gegangen war. Findling führte Henrik in seine Kajüte und lauschte dort der fast wundersamen Mär von dessen jüngsten Erlebnissen. Ergreifend war ihm, daß das Geschick den Jüngling zum Grab des Vaters geführt hatte, der unter seltsamen Umständen gemordet worden war. Mit steigernder Teilnahme vernahm er von dem verwilderten Menschen, den Henrik dort gefunden und mit an Bord geführt hatte. Dann berichtete er, wie der »Roland« in jenem Sturm schwere Havarie erlitten und Poerworedja auf Java anlaufen mußte, um seine Schäden auszubessern, ehe man zu den Inseln, an denen die beiden jungen Leute Zuflucht gefunden haben konnten, zurückzukehren vermochte. Er hatte nur schwache Hoffnung gehegt, daß die Jolle sich in dem Sturm halten werde, und Henrik mit trauerndem Herzen verlorengegeben. Dennoch hatte er acht Tage zwischen den Inseln gekreuzt, nach Spuren der Verlorenen gesucht und, als alles dies vergeblich war, endlich die Fahrt nach Ceylon wieder aufgenommen, mit der Überzeugung, daß das Meer die Jolle mit ihren Insassen verschlungen habe.

»Die Überraschung, als ich dich im Besan des Engländers erblickte«, so schloß er, »war so jäh, so gewaltig, daß ich fast auf den ›Cumberland‹ aufgelaufen wäre, und immer noch erscheint mir deine Rettung wie ein Wunder.«

Während Findling mit Henrik in der Kajüte weilte, umringten die Matrosen Fritz, um von ihm zu erfahren, was mit ihm und Henrik in jener Zeit vorgegangen sei.

Staunend horchten sie, als der Schneider den Aufenthalt auf der Insel beschrieb, ihnen erzählte, wie sie mit Tigern und Panthern gekämpft hatten, wie ein gelber Prinz mit unzähligen Dienern und einer Jacht, wie sie prächtiger kein Kaiser habe, gelandet sei, um zu jagen. Er vergaß nicht, den Überfall durch die Malaien kräftig auszumalen, erwähnte, wie Henrik der Durchlaucht das Leben gerettet und wie er selber durch kaltblütige Entschlossenheit einige von der Mörderbande gefangengenommen habe. Von dem verwilderten Menschen, den sie gefunden, von dem einsamen Grab und allem, was sich daran knüpfte, sprach er, nach Henriks Wunsch, nicht. Dann erzählte er mit glühender Phantasie von seinem Aufenthalt auf Lombok, dem Schloß, den Fürsten, der Besteigung des Rindjani mit ihren wundersamen Abenteuern und vergaß nicht, besonders da Henrik nicht dabei war, seine unglaublichen Taten gebührend hervorzuheben.

»Det war ne vornehme Sache bei die jelbe Durchlaucht Exzellenz, det kann ick euch aber sagen. Jold un Silber un Diamanten, det lag nur so haufenweise rum, und Elefanten und Rhinozerosse und Kamele jingen man so in den Jarten spazieren, un uff alle Bäume saßen dressierte Papageien un sangen die schönsten Arien. Aber fein, det könnt ihr jlooben. Mit die alte Durchlaucht hatte ick mir so befreundet, det sie mir zum Geheimrat oder so wat machen wollte, ich lehnte et aber ab, weil ick doch wieder nach Hause muß. Als ich aber nu schließlich eine janze Schlacht jewonnen hatte, da hat er mir mit Tränen in de Oogen seinen höchsten Orden verlihen, erste Jlasse am blauen Band um den Hals. Un die um den Hals det sin die richtigen.«

Matrosen sind Freunde von wunderbaren Begebenheiten und erzählen gerade solche mit Vorliebe, die des märchenhaften Charakters nicht entbehren, die letzten Schilderungen des Schneiders erschienen ihnen indessen doch zu bunt.

»Na, Sneffter«, sagten die einen, »wenn wi di dat all gläuwen söllt, dann lat us doch den Orden 'n beten ankieken.«

Würdevoll zog Fritz seinen Ring, den er an einer starken Schnur um den Hals und auf der Brust verborgen trug, hervor und zeigte ihn den über die Pracht des Steines erstaunten Leuten.

»Dat is awer 'n Ring.«

»Det is uff Lombok der Diamantenorden erster Klasse und verleiht den erblichen Adel.«

»Donderslag, dann bist du ja een von de Barons?«

»Det will ick meenen.«

So wenig die Matrosen den Erzählungen des drolligen Schneiders, der bei ihnen seiner Anspruchslosigkeit und Gefälligkeit wegen sehr beliebt war, Glauben schenkten, so sehr imponierte ihnen der Ring, dessen Wert einige von ihnen annähernd zu schätzen wußten.

»Donnerkiel, so 'n Orden wulld ick ook woll hewwen.«

Nachdem sie das Schmuckstück genügend bewundert, fragte einer der Leute: »Wat is denn dat vor'n Kirl, den Ji an Bord bracht hewwt?«

Fritz war sich dessen, was ihm Henrik eingeschärft hatte, bewußt. Henrik wollte nicht haben, daß Steffen ein Gegenstand unpassender Neugierde oder gar roher Scherze würde, und deshalb sollte der Zustand, in welchem sie ihn gefunden, der Mannschaft verborgen bleiben.

Fritz sagte deshalb nur: »Das ist ein schiffbrüchiger Matrose, der mit uns fahren will.«

Damit waren die Leute zufrieden, denn daß er ein Seemann war, hatten sie in der Art, wie er an Bord stieg, erkannt.

Auf dem Vorderdeck hatte sich, während die Matrosen mittschiffs um Fritz herstanden, eine wundersame Szene abgespielt. Martin, der alte Matrose, der immer noch aushilfsweise den Steuermann während der Wache vertrat, hatte dem Schneider eine Zeitlang zugehört und war dann nach vorn gegangen, um sich den Fremden näher zu betrachten. Steffen hatte sich am Fuß des Gangspills niedergelassen und sah nachdenklich vor sich hin. Der Ausdruck seiner Züge war, seitdem er die Insel verlassen und wieder unter Menschen, unter seinesgleichen weilte, ein anderer geworden. Die träumerische Stumpfheit war von seinem Gesicht gewichen und hatte einem Ausdruck von Intelligenz Platz gemacht, der, wenn Henrik mit ihm sprach und Erinnerungen in ihm wachzurufen suchte, lebendiges Geistesleben erkennen ließ.

Martin musterte den gebräunten, narbigen Burschen, der da vor ihm saß, von oben bis unten. Steffen, der sinnend ins Weite gesehen hatte, richtete das Haupt auf und blickte mit seinen blauen Augen Martin gerade an.

Dieser zuckte zusammen, als ob er einen elektrischen Schlag bekommen hätte, und starrte den Mann fast fassungslos an. Dann holte er tief Atem und sagte: »Bist du Korl Steffen, min Backkamrad von datomalen?«

Nach einer Weile entgegnete der Angeredete, dessen Blicke forschend auf Martins Gesicht weilten: »Ich bin Karl Steffen aus Finkenwerder.«

»Herr und Gott, dat gifft doch noch Wunners! Korl, Korl, kennst du mi denn nich mehr?«

Immer noch war das Auge Steffens fragend auf Martins Züge gerichtet.

»Karl, besinn di – wie makten tausamen use erste Fohrt up de ›Anna Marie‹, weeßt noch? Wo oft sün wie tosamen segelt – besinn di.«

Als Steffen immer noch nicht antwortete, seufzte Martin: »Ach du leiwe God, ick gläuw, de Kirl is dösig.«

Gleich darauf aber fuhr er wieder fort: »Weest du noch, min Jung, as wi mal seekrank weeren und halfdod in use Kojen leegen, und de Stürmann keem mit dat Tauende un bracht us dormit an Deck? Ick seh di no up alle vör uppentern.«

Da lachte Steffen still in sich hinein, das Bild, welches jener zurückzurufen sich bemühte, mochte wohl vor seinem Geist aufgestiegen sein. Er sah Martin wieder an, stand auf, legte die Hände auf seine Schultern, blickte ihm treuherzig in die Augen, und dann kam es leise von seinen Lippen: »Jetzt weiß ich's – du bist Martin Härting von Ritzebüttel, mein alter Maat.«

»Jonge! Jonge! Wi mi dat freut, dat du mi nu all wedderkennst!«

Findling und Henrik waren auf Deck erschienen, hatten Martin eifrig auf Steffen einredend erblickt und den letzten Teil ihrer Unterredung mit angehört. Der Kapitän rief Martin an. Gehorsam schritt dieser zu ihm.

»Oh, Kapitän«, sagte Martin, der, wenn er mit Findling sprach, in sein aus allen niederdeutschen Dialekten gemischtes Schifferplattdeutsch auch gar noch Hochdeutsch einfließen ließ, »der Mann ist en ohlen Schiffskamerad von mir, den ich lange für tot hielt – oh, et ist ganz merkwürdig. Ich habe ihm gleich erkannt, trotz der Jahre, die twischen liegen – und he besann sich jetzt auch auf mi. Min God, wer harr dat woll dacht!«

Findling nahm ihn beiseite und teilte ihm mit, unter welchen Umständen Karl Steffen unter Menschen zurückgekehrt sei, und wie es deswegen sowohl der Verschwiegenheit, als der vorsichtigen Behandlung des Mannes bedürfe, um seinen Geist wieder ganz erstarken zu lassen.

Betroffen vernahm dies Martin.

»Awer dösig is hei nich, hei hedd mi kennt.«

Er versprach, den Mann ruhig seiner Wege gehen zu lassen, und bat nur, ihn seiner Wache zuzuteilen. Dies wurde ihm zugesagt.


 << zurück weiter >>