Ludwig Tieck
Die verkehrte Welt
Ludwig Tieck

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Sechste Szene

Einsamer Felsen im Meer. Nacht.

Seelmann, ein Soldat, oben auf dem Felsen:
Wie furchtbar hohl die Flut tief unten wallt,
Die dunkle Einsamkeit ertönt vom Klange
Der Meereswogen, die der Wind bewegt.
Warum bin ich allein zurückgeblieben,
Da alle Rettung fanden aus der Schlacht?
Nun harr ich lange schon auf diesem Felsen,
Ob meine Augen nicht ein Schiff erspähn,
Das von der öden Klippe mich erlöse.
Du hellgestirnter Himmel, der mein Leid
Schon oft gesehn, oft mein Gebet gehört,
Laß endlich der Befreiung Stunde nahn.
Das wilde Meer ist taub und unerbittlich,
Es sendet keinen Menschen mir zur Hülfe,
Kein Fischernachen schwimmt herbei, ach kein
Zerbrechlich Fahrzeug! ja, ich möchte mich
Dem Brett, der schwachen Stange gern vertraun.
Ach, wer noch nie die Einsamkeit empfand,
Wen seine Freunde niemals noch verließen,
Ja wer auch ohne Freund nur lebt bei Menschen,
Wie ist sein Los zu neiden! – Seltsam klingt
Der Zug von Wasservögeln über mir;
Wie grauenhaft dehnt sich die Dunkelheit
So tief hinaus und dämmert ungewiß
Vom Widerschein der Sterne in der Flut;
Bald spricht die Welle wie mit Menschenstimmen,
Und höhnt mein einsam Leiden boshaft spottend;
Bald sieht mein schwindelnder Blick in grauer Ferne
Ein Land so wie in Wolken stehn, mit Bergen,
Mit Bäumen ausgeschmückt, und meine Sehnsucht
Vernimmt ein Waldgeräusch, der Äxte Klang,
Den Fall der Bäume: dann vergeß ich wohl,
Daß diese Klippe meine Heimat ist. –

Die Sonne geht auf.

Mit welcher Wonne füllt mich dieser Blick
An jedem Morgen! Furchtbar majestätisch
Ergießt aus allen Quellen sich der Strom
Des purpurroten Glanzes, goldne Schimmer
Entsprühen funkelnd aus der grünen Flut;
Die Wogen klingen bis zum Grund der Tiefe
Geheimen Lobgesang, die Adler ziehn
Aus ihren Nestern übers Meer dahin,
Und fliegen mit dem Gruß der Sonn entgegen.
Was ist der Mensch, daß er um Leiden jammert?
Wer sieht die Allmacht, die mit goldnem Fittich
So unermeßlich in die Welt hineinrauscht,
Und denkt an sich? hinweg, du kindisch Zagen!
Was seh ich? blendet mich der trunkne Blick?
Ein majestätisch Schiff auf ferner Woge?
Hieher! hieher! bemerkt dies weiße Tuch,
Das hoch im kühlen Morgenwinde flattert!

Er winkt durch Zeichen.

Ein Boot wird ausgesetzt! – sie nahn, sie kommen –
Schon kann ich Menschen unterscheiden – welch
Gefühl gleicht meiner Freude? – O willkommen!

Ein Boot mit Matrosen rudert heran.

Erster Matrose: Sieh, wie der Mensch da oben am Felsen klebt!

Zweiter Matrose: Bis jetzt ist es uns noch nie gelungen, einen solchen Vogel auszunehmen.

Erster Matrose: Steig herunter, Mensch!

Seelmann herunterkletternd:
O Freude! Freude!
Nach langem Leide,
Seh ich die lieben Brüder,
Die Menschen wieder!

Zweiter Matrose: Höre nur, er singt ordentlich.

Erster Matrose: Er hat sich hier in der Einsamkeit wohl aufs Singen legen müssen?

Seelmann im Boot:
O Leute, ein ganzes Buch will ich schreiben,
Das soll jedem Leser die Zeit vertreiben,
Von allem, was ich auf dem Felsen gelitten,
Wie manche Not ich hier bestritten,
Was ich von der Einsamkeit ausgestanden,
Und wie mich endlich Menschen wiederfanden.

Erster Matrose: Es ist wohl sehr einsam da oben?

Seelmann:
Freunde, ihr glaubt's nicht, wenn man's auch erzählt,
Wie sehr es an guter Gesellschaft fehlt;
Man ist nur immer mit sich allein,
Da mag der Henker lange verständig sein:
Man lebt hier beinahe wie auf dem Land,
Keine Neuigkeit kömmt einem zur Hand,
Von Maskeraden schweig ich nun gar und von Bällen,
Die einzige Unterhaltung sind die Meereswellen;
Ja, vernehmt ihr erst alle meine Klagen,
Was, Freunde, werdet ihr dann wohl sagen?
In dieser weiten Ferne konnt ich den Souffleur nicht spüren,
Und doch mußt ich einen großen Monolog rezitieren.

Erster Matrose: Seid also froh, daß wir Euch gefunden haben.

Fahren ab.


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