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Zwölftes Kapitel

Nach Wiedereröffnung der Verhandlung konzentrierte sich das Interesse der Zuhörer auf den öffentlichen Ankläger, der nun das Wort nehmen mußte.

Der Staatsanwalt schien seine Sache nicht für ungünstig zu halten. Er legte sich einen Bogen mit Notizen zur Hand und sprach kalt und schneidend.

»Der Angeklagte,« führte er aus, »ist von den fragwürdigen Gestalten, die mir in meiner Praxis vorgekommen sind, eine der merkwürdigsten und markantesten. Man sieht es dem breitschultrigen, behäbigen, wohlgenährten Manne nicht an, daß noch vor kurzem die Not in ihrer bittersten Gestalt bei ihm daheim und er vor dem Klopfen der Gläubiger oder des Vollstreckungsbeamten nicht einen Augenblick sicher war. Und wenn man das würdige, bartlose Gesicht des Angeklagten, das oberflächlich an das eines Geistlichen erinnert, betrachtet, kommt man nicht so leicht auf den Gedanken, hinter diesen faltenlosen, biedermännischen Zügen rücksichtsloseste Selbstsucht, gepaart mit Schlauheit und Verschlagenheit, suchen zu sollen!

»Meine Herren Geschworenen, lassen Sie sich durch das Aeußere des Angeklagten nicht beirren, und ebensowenig durch seine gesucht siegesgewisse Haltung, die auf mich einen um so abstoßenderen Eindruck macht, als der Angeklagte keine Empfindung dafür zu haben scheint, wie sehr er in moralischem und strafrechtlichem Sinne belastet ist. Ich habe während der Verhandlung Gelegenheit gehabt, den Angeklagten unauffällig zu beobachten, wenn sein Interesse ausschließlich von den Zeugen in Anspruch genommen war, und ich habe eine ganze Stufenleiter von Empfindungen von seinem Gesichte und aus den unruhig funkelnden Augen gelesen, diesen beredten Augen, die bald feindselig und finster drohten, bald in Boshaftigkeit und Schadenfreude aufflammten, wenn eine Aussage scheinbar der Justiz nicht den nötigen Haken bot oder der Anklage einen Teil des Bodens entzog.

»Meines Erachtens ist der Angeklagte beider ihm zur Last gelegten Verbrechen bis zur augenfälligen Gewißheit überführt, und in dieser Ueberzeugung beirrt keine der geringen Lücken, die in dem Beweisbau nicht auszufüllen waren, darin wird mich auch keines der rednerischen Kunststücke irreführen, mit denen der Angeklagte nach seiner Veranlagung und Rechtskenntnis aller Voraussicht nach meinen Ausführungen zu begegnen bemüht sein wird.

»Ich muß zuerst einem Bedauern Ausdruck geben. Auf der ursprünglichen Anklageliste standen drei Beschuldigungen. Daß eine hiervon hat ausgeschieden werden müssen, ist das, was ich beklage. Die dolose Handlungsweise des Beschuldigten lag sonnenklar zu Tage, und wenn er nicht mit feiner Witterung Unheil geahnt hätte, wäre es ihm nicht eingefallen, seinen Raub herauszugeben. Er wäre dazu auch gar nicht imstande gewesen, wenn er es nicht einzurichten gewußt hätte, daß im rechten Augenblick ihm die reiche Erbschaft zufiel und ihn in die Lage brachte, das Betrügerische seiner verzweifelten Winkelzüge noch glücklich zu verdecken.

»Hat aber auch die Anklage wegen der Unterschlagung fallen gelassen werden müssen, so bleiben die ermittelten Thatsachen doch für den Mann charakteristisch und gravierend. Stellen Sie sich in dem ehemaligen Gastwirt Rinkens, dem Klienten des Rechtskonsulenten, einen Mann vor, der aus dem Schiffbruch seines Lebens nichts gerettet hatte, als das Guthaben bei einem weitherzigen Schuldner, den er vergebens bat und mahnte und den er erst durch den Zwang zum Zahlen bringen mußte. Der Mann sah in dem Winkeladvokaten seinen Helfer und Retter, ja, er baute vielleicht auf der geringen Summe seinen ganzen ärmlichen Zukunftsplan auf – und da kam dieser Retter, sorgte durch Deckung der überhoch bemessenen Kosten zuerst für den eigenen Vorteil, hielt den Darbenden, dessen Not ihm bekannt war, hin, verwendete die Eingänge in seinem eigenen Interesse und legte notgedrungen erst Rechnung, als ihm das Feuer unter den Nägeln zu brennen begann!

»So handelt kein Mann von Wert. So handelt eine Klasse von dunklen Ehrenmännern, die vor keiner That zurückschrecken, wenn sie sie nur so bemänteln können, daß die strafende Gerechtigkeit ihnen nicht beizukommen vermag.

»Wie vorsichtig diese Dunkelmänner zu Werke gehen, beweist der erste zur Anklage stehende Fall wegen Betruges, begangen an der Frau Wichbern zu Hamburg. Der Angeklagte hat nicht nur während der Untersuchung alles aufgeboten, um sich zu entlasten; er hat auch jede seiner Handlungen auf ihren strafrechtlichen Charakter genau vorgeprüft und ihre Wirkung für den Ernstfall sorglich vorberechnet. So verzeichnen seine Quittungen lediglich à conto-Zahlungen, und er hat keine Schriftstücke weggegeben, die eine Bestätigung seiner falschen Vorspiegelungen von seiner eigenen Hand hätten erbringen können. O nein, er dachte über den Augenblick hinaus, sprach persönlich mit seiner Klientin und brachte seine Lügen mündlich und unter vier Augen vor. Nur einmal ging er von dieser Uebung ab, als er nach Antritt der Erbschaft von Reickendorf aus den famosen Brief an die Klientin richtete, in dem auch nicht ein Wort stand, das nicht erlogen war und nicht den Schreiber schmählich und offenkundig an den Pranger stellte. Die Erbschaft hatte ihn zum reichen Manne gemacht, und der Ueberfluß an Mitteln mochte den Glauben in ihm geweckt oder bestärkt haben, daß er nunmehr das Heft in der Hand halte und das Vertuschungssystem nicht weiter zu befolgen brauche. Dieser Brief zeigt die ganze Lügenhaftigkeit und Nichtswürdigkeit des Mannes, der nicht einen Finger gerührt hatte und sich der Klientin gegenüber mit erdichteter Thätigkeit dreist brüstete. Dieser Brief ist strafrechtlich – leider – nicht verfolgbar, weil die Absicht, sich durch die Vorspiegelung falscher Thatsachen einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, gerade in diesem Falle nicht nachweisbar erscheint; aber das Geschreibe stellt den Mann als einen Intriguanten niedrigster Sorte vor unsere Augen und beleuchtet ihn so hell und grell, daß wohl kein Zweifel mehr aufkommen kann, was diesem Mann zuzutrauen ist. Er ist verlogen und verkommen von Grund aus, er hat am Intriguieren und Vorspiegeln seine Freude, und sie sind ihm so zur zweiten Natur geworden, daß er sogar über das Nötige hinausgeht und von Dingen phantasiert, die ganz oder wenigstens fast zwecklos erscheinen.

»Ich bin nicht begierig, wie der Angeklagte den Brief beschönigen oder wie er versuchen wird, ihn mit ein paar Phrasen abzuthun; für mich war er ein wichtiges Beweisstück zur Charakterzeichnung des Mannes, der im übrigen durch die sehr bestimmten Aussagen der Hauptbelastungszeugin des Betruges evident überwiesen ist und den ich auch des Verbrechens wider das Leben für schuldig halte.«

Der Redner machte eine kurze Pause, um einen Blick auf seine Notizen zu werfen. Er nahm den Bogen auf und fuhr fort:

»Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß die eine erwiesene Fahrt des Angeklagten nach Reickendorf für die Anklage nicht in Betracht kommt, weil sie nach der Zeit fällt, die der Beschuldigte seiner Klientin für die Reisen vorgespiegelt hatte. Ich mache aber auf die außerordentliche Höhe der Summen aufmerksam, die der Angeklagte aus der Klientin erpreßt hat. Sie steht zu seinen ›Bemühungen‹, wenn von solchen ernstlich die Rede sein soll, in gar keinem Verhältnis und wirkt darum augenfällig strafschärfend.

»Von dem einen Verbrechen zum anderen!

»Vom leichteren zum schweren!

»Vom Betruge zum Morde!

»Ich erachte den Angeklagten des schwersten Verbrechens schuldig, weil er nach seinen Charaktereigenschaften dazu fähig und zugleich, weil geradezu er der einzige war, der an dem plötzlichen Tode des Bauern ein ausschlaggebendes Interesse hatte.

»Das Charakterbild des Angeklagten ist durch die Verhandlung fixiert. Es ergiebt sich aus seinen Lügen und Betrügereien. Es wird ergänzt durch die fast unglaublich frivole Beratung des unter einer Maske bei dem Angeklagten erschienenen Kriminalbeamten! Ein kleiner Meineid – – Notbehelf! – wenn nur nichts Schriftliches da und nur die Entdeckung nicht zu befürchten ist! Der Meineidige siegt und lacht sich ins Fäustchen, die Justiz ist genasführt und kann es nicht einmal erkennen ...

»Wer so raten kann, kann auch thaten!

»Aber das Charakterbild des Mannes ist damit nicht erschöpft. Es wird vervollständigt durch seine Eigenschaft als Spieler.

»Als Spieler!

»Der Angeklagte hat selbst zugestanden, daß er dem Glücksspiele fröhnte, und daß er aus ihm einen erheblichen Teil der zur Existenz nötigen Mittel gewann. Meine Herren Geschworenen, erwägen Sie selbst, ob ein Spieler dauernde Gewinnchancen hat, wenn er es nicht versteht, unter Umständen das Glück geschickt zu seinen Gunsten zu korrigieren! Das Glück ist dem Angeklagten dauernd wohlwollend gewesen: ich nehme keinen Anstand, daraus auch eine dauernde Korrekturübung des angeklagten Spielers zu folgern! Ich halte mich dazu um so mehr berechtigt, als der Mann den Ort seiner Thätigkeit sorglich im Dunkel hält und so zwar positive Ermittelungen erfolgreich abschneidet, aber auch den Verdacht nicht allein nicht beseitigt, sondern verstärkt.

»Vom Glücks- und Falschspieler zum Totschläger und Mörder ist, das hat die Geschichte der Kriminalistik hundertfach gelehrt, kein allzugroßer Schritt. Aus der einen unsauberen Leidenschaft erwächst die andere, und wie die Lawine im Sturze verderbenbringend anschwillt, so ziehen auch Leidenschaft und Schuld immer ausgedehntere Kreise.

»Allerdings: direkte und untrügliche Spuren von der Spielhölle zum Mordplatz hat die Anklagebehörde nicht zu ermitteln vermocht. Ich habe sie auch nicht einmal zu entdecken erwartet, denn dem Manne, der seinen Gläubigern so mit allen Schlichen und so skrupellos auswich, der Unterschlagung und Betrug so schlau zu verschleiern wußte oder mindestens versuchte – diesem Manne eine so eminente Kurzsichtigkeit bei dem ungleich schwereren Schritte zuzutrauen, wäre ebenso kurzsichtig auch von der Behörde gewesen.

»Nein, wie der Angeklagte das Verbrechen insceniert hat, liegt im Dunkel, und es kann fraglich erscheinen, ob dieses Wie ohne Zuthun des Beschuldigten in einer nahen Zeit oder jemals seine Aufhellung finden wird. Man kann vermuten und behaupten – – und ich werde Ihnen meine Kombinationen nicht vorenthalten –, aber man kann nicht absolut überzeugen und beweisen.

»Wichtiger als das Wie ist aber die Thatsache selbst, und wie sich mir die Ueberzeugung von der Schuld des Angeklagten unwiderstehlich aufgedrängt hat, so hoffe ich auch Ihnen einleuchtend klarzulegen, daß gar kein anderer als der Angeklagte für die That in Frage kommen kann.

»Die Behörden waren dieser Ansicht nicht von Anfang an; ihr Verdacht und ihre Ermittelungen gingen eine Zeitlang in anderer Richtung.

»Diese Richtung war falsch.

»Es haben sich Anhaltspunkte dafür ergeben, daß der Jagdherr Hans Oldekop in seiner Pachtung unlautere Konkurrenz hatte; es ist auch ein Mann ermittelt worden, dem der Frevel des unberechtigten Jagens nachgewiesen, der auf frischer That ertappt wurde und vor dem zuständigen Richter ein offenes Bekenntnis seiner Schuld ablegte. Aber wie dieser Mann nicht einmal im Besitz einer Schußwaffe und daher – trotz der gegenteiligen Meinungsäußerung des Angeklagten Oldekop – zu dem Verbrechen des Mordes nicht einmal ausgerüstet war, so hat sich auch auf keine andere Persönlichkeit der Verdacht, zu dem Morde nur willig und fähig gewesen zu sein, konzentrieren lassen.

»Anders bei dem Angeklagten!

»Der Angeklagte war fähig!

»Der Angeklagte war mehr als das: er war durch Egoismus und Rachsucht zu der That herausgefordert.

»Die That war für den Angeklagten zu einer zwingenden Notwendigkeit geworden, wenn er nicht rettungslos und mit Schanden verderben wollte!

»Es ist in der Verhandlung sattsam zu Tage getreten, wie jämmerlich es um die berufliche Thätigkeit dieses Mannes bestellt war; wie er mit seiner Winkeladvokaterei nicht das Salz zum trockenen Brote verdiente; wie er spielte und borgte, um zu leben; wie er den Bruder, die Freunde, die Bekannten angehen mußte, um Mittel zu gewinnen; wie er vor Verbrechen nicht zurückschreckte, wenn es der Not des Augenblicks zu steuern galt.

»Es ist in der Verhandlung unwiderleglich erwiesen, daß kurz vor dem Mordfall die Bedrängung des Angeklagten den Höhepunkt erreichte; daß alle Quellen, aus denen er bis dahin geschöpft hatte, versiegt waren; daß der Bruder, die Freunde, die Klientin Frau Wichbern seinen drängenden Bitten um Geld ein entschlossenes Nein entgegensetzten; daß alle und jede Mittel, sich zu halten, schlechtweg und gründlich erschöpft waren. Es ist bewiesen durch die Auskunftei, durch den verzweifelten Brief des Angeklagten an den Bruder, durch alle vernommenen Zeugen!

»Und gerade in diesem Augenblick der äußersten Gefährdung seiner Existenz drang in verdichteter Form das Gerücht zu ihm, das wie Winterfrost auf alle seine Hoffnungen fiel; gerade in diesem Augenblick erhielt er durch die persönliche Aussprache mit dem Bruder die Gewißheit, daß das Gerücht nicht gelogen hatte, daß es ernst und bitter begründet war, daß alle Wechsel, die er sanguinisch immer noch auf kommende Zeiten gezogen hatte, null und nichtig waren!

»Es gab einen heftigen Zusammenprall mit dem Bruder, und zu der Not des Enttäuschten gesellte sich der zum verbrecherischen Vorsatz drängende Haß!

»Das Testament, das die Fremde zur Erbin einsetzen sollte, drohte. Aber noch war es nicht festgelegt, noch konnte es vereitelt werden.

»Es war der letzte Augenblick!

»Es gab keine Zeit mehr zum Zögern! Es mußte gehandelt werden!

»Und es wurde gehandelt.

»Der Angeklagte ging zur That.

»Ich komme wieder auf das Wie, und ich kombiniere: Er ging kachierend vor, wie er es stets gewohnt war; er kaufte eine Waffe, wo ihn niemand kannte, Schuhzeug, wie er es in der ehemaligen Heimat üblich wußte, und absichtlich größer als für seinen Fuß passend; er schuf sich vor der Abreise einen wohlausgeklügelten Alibibeweis, vollbrachte die That, vernichtete das Werkzeug, kehrte zurück und benutzte die Umstände, um, so gut es gehen wollte, auch für die Frühstunde sich ein fadenscheiniges Alibi zu sichern.

»Schuhzeug und Waffe sind nicht gefunden worden. Ich kann damit den Angeklagten nicht beschweren. Aber das spricht noch nicht für ihn, und es sagt noch weniger, daß auch meine übrigen Kombinationen ihn nicht treffen.

»Meine Herren Geschworenen, dieses Alibi für den Abend!

» Ein Zeuge! – zwar, wie ich anerkenne, ein einwandsfreier und ehrenwerter – aber doch nur ein einziger! Ein Zeuge, der nicht einmal nach seiner Uhr gesehen, sondern sich auf die Wanduhr in der Wohnung des Angeklagten verlassen und der nichts weiter bezeugt hat, als daß nach seiner Erinnerung diese Wanduhr auf etwa ein halb zehn gezeigt habe.

»Ich bitte: das ist alles andere als ein verläßlicher Ausweis. Einmal konnte die Uhr – es war ein Regulator gewöhnlicher Sorte – durch den Zufall falsch, das heißt, vorgehen; dann konnte sie aber auch absichtlich vorgestellt sein, und ich neige zu der Annahme, daß dies in der That so war. Die Frau des Angeklagten war schon am Tage vorher erkrankt; sie hatte den zweiten ganzen Tag krank gelegen: warum wurde der Arzt erst am Abend und ausgesucht in dem Zeitraum dieser kleinen halben Stunde gerufen, auf die für den Ernstfall alles ankommen mußte? Ich weiß es, und ich nehme keinen Anstand, es auszusprechen: Die Wichtigkeit dieses Zeitraumes kannte allein der Angeklagte, und er benutzte den zu der Kranken gerufenen Arzt zu seiner Deckung! Er hätte die Aufmerksamkeit des Arztes auf die Uhr gelenkt, wenn dieser nicht selbst die angeblich späte Stunde abgelesen hätte.

»Ja, wenn der Alibibeweis weiter reichte, wenn er nicht mit knapper Not nur bis zum entscheidenden Zeitpunkt geführt wäre –! Wenn der Angeklagte sich nur noch eine einzige Stunde auszuweisen vermöchte! – ach, eine kleine halbe Stunde! Wenn er nur einen Zeugen zu nennen imstande wäre, der ihn überhaupt noch nach der fraglichen Zeit in Hamburg gesehen hätte –! Aber er vermag es nicht, – er vermag es angeblich nicht, weil er nicht will, weil er Großmut gegen Spielkumpane üben will. Unter Spielern! Ich sage: weil er nicht kann; ich sage: weil er nicht mehr in Hamburg, sondern in dem um neun Uhr fünfundzwanzig Minuten abgegangenen Zuge nach Neumünster und damit nach der Stätte des Verbrechens unterwegs war!

»Reickendorf ist in zwei Stunden zu Fuß von Neumünster zu erreichen. Der Mordbube konnte frühzeitig am Ziel anlangen und sein Opfer in Ruhe erwarten.

»Die Beweisführung steht wieder vor einer unwesentlichen Lücke. Wußte der Angeklagte, daß der Bauer um die frühe Morgenstunde zu jagen pflegte? Ich behaupte: ja, denn diese Passion des Jagdherrn war bekannt. Wußte der Verbrecher aber ebenfalls, wo er den Gesuchten am ehesten erwarten durfte, oder kam der Zufall ihm zu Hilfe? Ich lasse die Antwort dahingestellt. Der Angeklagte hatte, wenn es darauf ankam, genügend Zeit, den Jagdherrn an verschiedenen Orten zu suchen. Sein Zug war um die elfte Stunde in Neumünster eingelaufen; bereits um eins konnte der Angeklagte am Endziel sein und mehrere Stunden auf die Ermittelung des Bauern verwenden, ja diesen wohl gar vom Hof aus beobachten und ihn von dort nach dem Thatort verfolgen.

»Die Tragödie mußte sich bis ein halb vier Uhr abgespielt haben. Um halb sechs ging von Neumünster der erste Zug nach Altona-Hamburg. Der Angeklagte stieg in Altona aus und begann sein Spiel um das Alibi von neuem.

»Und nun entwickelt er in der Erlangung und Ausnützung des Alibibeweises ein Raffinement, das geradezu staunenswert ist! Er markierte den Betrunkenen und erweckte in dem habgierigen Kutscher den Glauben, daß die Gelegenheit geboten sei, einen Unzurechnungsfähigen auszunützen. Er verlangte, als der Kutscher in die fein gelegte Falle ging, in scheinbar nichtssagender Opposition den Zettel mit der Wagennummer, zerknüllte ihn nachlässig und verbarg ihn sorgfältig in der Geldtasche, von wo er im gegebenen Augenblick wieder auftauchen sollte. Der Angeklagte ist ein ausgezeichneter Rechner. Es fiel ihm nicht ein, selbst auf den kleinen Zettel hinzuweisen, seine Aufbewahrung auffällig zu machen und dadurch seine Beweiskraft zu erschüttern. Er setzte spekulativ voraus, daß die Behörde schon selbst über den Fund ins reine zu kommen suchen und der Alibibeweis um so unmittelbarer wirken würde, je weniger er selbst dabei mithalf. Er ist ein virtuoser Schauspieler, der Angeklagte; nicht einen Augenblick ist er aus der Rolle gefallen, die er sich vorgezeichnet hatte, ja selbst in der Hauptverhandlung noch schauspielert er weiter, legt, da er die Glaubwürdigkeit des Zeugen schwanken sieht, angeblich auf seine Aussage kein Gewicht und hält sich ihrer Wirkung doch im stillen versichert.

»Es war alles vortrefflich eingefädelt, und es wurde alles meisterlich durchgeführt.

»Das heißt, nur einen kleinen Stein zum Stolpern hat der Angeklagte doch übersehen.

»Er war, behauptet er, betrunken, sinnlos betrunken; er kann sich, weil er sinnlos betrunken war, der Vorgänge jenes Morgens nicht mehr als verschwommen erinnern; er hat die Abforderung des Nummernzettels und seine sorgliche Aufbewahrung sogar ganz vergessen!

»Ich bitte: selbst angenommen, daß es wirklich noch Nachtzeit, also kurz vor sechs Uhr war, als er nach Hause kam: hätte der Angeklagte, der nach Aussage der Frau ›wie gewöhnlich‹ um acht Uhr ›geweckt‹ wurde und der, wohl ebenfalls ›wie gewöhnlich‹, um neun Uhr am Kaffeetisch saß und das Morgenblatt las, wie der Arzt bestätigte – hätte der sinnlos Betrunkene die Wirkung des maßlos eingenommenen Alkohols in dieser kurzen Zeit so völlig überwinden können, daß sogar das scharfe und geübte Auge des Arztes davon nichts mehr zu bemerken vermochte?

»Ich halte das für total ausgeschlossen und erblicke in dieser klaffenden Lücke des auch sonst schwankenden Verteidigungsbaues lediglich die Bestätigung der oft beobachteten Thatsache, daß auch dem geriebensten Verbrecher ein fast überraschend grober Fehler in die ausgeklügeltste Berechnung unterläuft.

»Der durch den Nummernzettel ermittelte Zeuge hat sich als unglaubwürdig erwiesen, und die angebliche Betrunkenheit des Angeklagten war nichts als schlaue, nur im Schlußeffekt verfehlte Mache. Mit diesem Zeugen und mit diesem Erweis der lediglich zum Zweck der Verschleierung vorgenommenen Manipulationen des Angeklagten aber fällt der ganze Alibibeweis wie ein Kartenhaus zusammen, und dem heißen Mühen des Angeklagten kann kein anderer Nachweis als gelungen zugesprochen werden, als der, daß er um die achte Stunde, in der er ›wie gewöhnlich‹ geweckt wurde, sich in seinem Heim befand. Diese Aussage glaube ich der als Zeugin vernommenen Frau, die glaube ich sogar dem Angeklagten. Aber bis um die achte Stunde hatte er auch völlig genügend Zeit, von der Bahn nach Hause zu kommen. Er konnte um zehn Minuten vor sieben durch die Große Freiheit bei der Droschke und mit dieser in weiteren zwanzig Minuten bei der Wohnung anlangen, und hatte dann noch vollauf Gelegenheit, sich ›wie gewohnt‹ aus dem Schlafe aufrütteln zu lassen.

»Meine Herren Geschworenen, sühnen Sie durch Ihren Wahrspruch nicht nur das durch den Angeklagten begangene Verbrechen des Betruges: sprechen Sie ihn schuldig auch des vorsätzlich und mit Ueberlegung ausgeführten zweiten Verbrechens, des Mordes! Schließen Sie mildernde Umstände bei dem einen und bei dem andern aus; bei dem Betruge der Frechheit wegen, mit dem er bis zuletzt sein Lügengewebe ausspann; bei dem Morde; weil das Verbrechen mit beispiellosem Raffinement ins Werk gesetzt wurde und das Opfer der leibliche Bruder des Mörders war, der den Undankbaren mit Wohlthaten überhäuft hatte und der nur notgedrungen und gewiß mit Schmerz die Hand von dem Undankbaren abzog.«

In dem Saale herrschte Schwüle wie an einem Sommertage, und die Ausführungen des Staatsanwalts schienen das Unheil über dem Kopfe des Angeklagten zu finster drohenden Wolken geballt zu haben, aus denen durch den Spruch der Geschworenen der Blitz mit tödlicher Sicherheit niederzucken konnte.

Selbst der Angeklagte konnte sich einer lähmenden Empfindung nicht entziehen; das siegessichere Lächeln auf dem runden, glänzenden Gesichte war erstorben, und das Bewußtsein von der Gefahr des Augenblicks schien ihn mächtig zu packen. Er vermochte anfänglich selbst nur halb hinzuhören, als der Verteidiger zu sprechen begann und den Ausführungen des Anklägers mehr wortgewandt als zu gegenteiliger Anschauung zwingend zu begegnen suchte.


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