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Fünftes Kapitel

Detlev Oldekop forschte bereits in den Abendzeitungen nach einer Notiz über den Mordfall. Aber selbst unter den Depeschen war noch keinerlei Nachricht verzeichnet. Desto pünktlicher stellten sich die Telegramme in den Morgenausgaben der Blätter ein, und Detlev Oldekop fand das Gesuchte auf den ersten Blick, als er beim Kaffee sein Leibblatt zur Hand nahm. Da der Sohn bereits im Geschäfte war und die Frau in der Küche hantierte, er somit allein am Tische saß, wollte er zunächst eilig die Sensationsnachricht durchfliegen und dann erst Lärm schlagen.

»Die Nachricht von einem Morde,« las er, »kommt aus dem holsteinischen Orte Reickendorf.« Es folgte eine kurze Beschreibung der Lage des Dorfes. Dann hieß es: »Das Opfer ist der über die Grenzen der Gemeinde hinaus geachtete Bauernhofbesitzer Hans Oldekop und der Thäter mutmaßlich ein Wilderer, den der Pächter der Gemeindejagd, Oldekop, gestellt haben mag. Das Verbrechen ist in der Frühe des gestrigen 28. Oktober verübt und gegen mittag von den in Sorge geratenen Leuten des Bauern entdeckt worden. Die alsbaldige Aufnahme des Thatbestandes ergab, daß der Tod des Bauern infolge eines Schrotschußes in die Brust sofort eingetreten sein mußte, und Nachforschungen an der Mordstelle führten zur Auffindung von Fußspuren, die als von dem Mörder herrührend angesehen werden. Raubmord und Racheakt scheinen ohne weiteres ausgeschlossen, ersterer, weil keine Wertsachen fehlen, der zweite, weil von einer Verfeindung des Bauern nach irgend einer Seite hin nichts bekannt ist. Auf die Verübung der That durch Wilderer deutete auch ein erlegtes Stück Rotwild, das an der Mordstelle aufgefunden wurde. – Der Ermordete hinterläßt keine Leibesnachkommen, und der Erbe ist ein in Hamburg lebender Bruder, wenn sich nicht das Gerücht bestätigen sollte, daß der Bauer den Hof einem Mündel, der Tochter eines früheren befreundeten Lehrers in der Gemeinde, vermacht hat ...«

Detlev Oldekop war zufrieden. ›Racheakt ausgeschlossen‹ – gut! ›Wilderer – Fußspuren‹ – da mochten sie suchen. – Er rief nach seiner Frau und eilte, als sie nicht kam, erregt mit dem Blatt nach der Küche.

»Frau – Frau!« schrie er, »um des Himmels willen – die Nachricht! Hans, mein Bruder – tot! – und er–mordet – erschossen von einem Wilderer – gestern früh – das – das ist doch furchtbar! Hier – hör' zu – –.« Und er las fliegend.

»Na ja,« sagte die Frau kalt, »der Erbe sollst du sein, wenn nicht die Dirn – – es wäre ein Skandal! Das Testament müßtest du anfechten ... Sollen wir ewig Bettler bleiben?«

»Du siehst natürlich gleich wieder die materielle Seite des traurigen Falles,« tadelte er, »während mich zuerst die Tragik dieses Todes packt. Wenn ich auch mit meinem Bruder nicht besonders harmoniert habe – er war doch immerhin mein Bruder – und dieses Ende hat er nicht verdient. Ein solches Ende muß jeden ergreifen und zur Milde stimmen, und wenn er sein ärgster Feind war.«

»Ach was,« fiel die Frau unwirsch ein, »laß mich in Ruh'. Ich weiß gut genug, was wir verlieren, wenn er ein Testament gemacht und der Dirn alles verschrieben hat, und ich will nur hoffen, daß der Tod rechtzeitig gekommen ist, das himmelschreiende Unrecht gegen uns zu verhüten.«

»Deutsch kannst du reden,« entgegnete Oldekop mit ärgerlichem Tonfall. »Mir wäre es ja auch nicht recht, wenn wir leer ausgehen müßten. Aber daß mir dieses Ende ebensowenig sympathisch sein kann, solltest du doch einsehen.«

Er drehte der Frau ungehalten den Rücken. Im Bureau ging er dann rastlos auf und ab und überlegte. Eines wollte er unter allen Umständen vermeiden: das Betreten des Hofes, so lange der Tote über der Erde war und durch seinen Anblick ihn aus der Fassung und in peinliche Verlegenheit bringen konnte. Er sann nach einer Erklärung, die sein vorläufiges Fernbleiben plausibel zu machen geeignet war, setzte sich, als er diese gefunden hatte, an den Schreibtisch und richtete einen Brief an Martin Blank senior, den er mit Bedacht und jedes Wort wägend, niederschrieb.

»Geehrter Herr Blank! Gestatten Sie mir, Ihnen einen Zeitungsausschnitt zu übersenden und Sie zu bitten, mir in gefälliger umgehender Erwiderung mitteilen zu wollen, ob die darin geschilderte Unthat und die Einzelheiten zutreffen. Ich bin zu tief erschüttert, als daß ich heute schon die aus dem Ableben meines Bruders sich ergebenden Konsequenzen zu übersehen und zu ermessen vermöchte, inwieweit vielleicht der letzte Passus des Artikels bezüglich der Vererbung des Hofes an ein Mündel, mit dem offenbar Anna Wichbern gemeint ist, zutreffen könnte. Dieser Passus hält mich aber ab, an die Leiche meines unglücklichen Bruders zu eilen. Es herrschte zwischen Hans und mir kein so herzliches Verhältnis, wie es sonst unter Brüdern üblich zu sein pflegt, aber doch auch keine ernste Spannung, die mich ein Testament zu meinen Ungunsten fürchten ließe. Ich werde indes unter allen Umständen den Willen meines Bruders ehren, und um auch den bloßen Schein zu vermeiden, als wollte ich mich als lachender Erbe auf den Hof drängen, entsage ich selbst der Gelegenheit, meinen Bruder zum letztenmale zu sehen, und bitte Sie als seinen Freund, für eine würdige Bestattung Sorge tragen und mich in Kenntnis setzen zu wollen, ob ein Testament vorhanden ist und was es bestimmt.

Als ich vor wenigen Tagen meinen Bruder zum letztenmale sah, sprach er von Anna Wichbern in Ausdrücken der Achtung, die nicht zu teilen ich keine Veranlassung habe. Ich erkläre mich ausdrücklich damit einverstanden, daß die Dame in der Uebergangszeit und bis das Gericht gesprochen hat, auf dem Hofe verbleibt, und ich weiß die Verwaltung des Anwesens unter ihrer Obhut in guten Händen.

Mit Hochachtung
Detlev Oldekop.«

»So,« murmelte er, »nicht ohne einige Wärme, dabei höflich und reserviert – das ist das richtige ...«

Er wurde durch den Eintritt einer Dame, der seine Frau höflich das Geleit gab, unterbrochen.

»Ah! meine gnädigste Frau Wichbern – Sie kommen – natürlich, ich kann mir denken – ein Ereignis, ich bin noch ganz entsetzt!« sprudelte er hervor und nötigte den Besuch, sich zu setzen.

»Mein armer Mann war ganz außer sich,« sekundierte ihm seine Frau und setzte wehleidig hinzu: »Es ist ja auch schrecklich, so hingemordet zu werden ...«

Die alte Dame schlug den ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verhüllenden Schleier zurück und musterte das Ehepaar kalt.

»Ich komme nicht, um zu kondolieren,« entgegnete sie mit ablehnender Schärfe, »sondern um Ihre Meinung zu hören, wieweit die eingetretene Veränderung der Lage eine Ausnützung zu meinen Gunsten zuläßt.« Sie wandte sich von oben herab an die kleine korpulente Frau des Hauses und fragte mit kühler Höflichkeit: »Sie haben vielleicht die Güte, uns – einen Augenblick! – zur Beratung allein zu lassen?«

»Gewiß, gnädige Frau,« entgegnete Frau Oldekop unterwürfig, ging hinaus und zischte: »Impertinente Person!«

»Haben Sie briefliche Nachrichten?« fragte Frau Wichbern.

»Nein, gnädigste Frau, keine. Ich warte mit Schmerzen. Nichts weiß ich, als was die Blätter bringen. Es ist wie ein Blitz aus heiterm Himmel –«

»Mir scheint vielmehr, daß der Blitz die Wolken wohlthuend geteilt hat. Oder sollten Sie sich der Erkenntnis verschließen, daß der jähe Tod allen Anzeichen nach einen Schritt des Bauern abgeschnitten hat, der Ihnen verhängnisvoll geworden wäre?«

Detlev Oldekop entgegnete sehr bestimmt: »Sie wissen nicht, daß ich genauer unterrichtet bin. Nach der Unterredung mit Ihnen habe ich meine letzten Mittel zusammengerafft, bin zu meinem Bruder gefahren und habe ihn um offene Auskunft darüber gebeten, ob an dem Gerüchte Wahres sei ...«

»Und –?« fragte sie kühl.

»Er hat mir versichert, daß er sich verpflichtet fühle, für das Mädchen zu sorgen, daß er aber einen Entschluß über das Wie noch nicht gefaßt habe und auch nicht fassen werde, ohne sich vorher mit mir ins Einvernehmen zu setzen ...«

»So?« warf sie mit unverhohlenem Unglauben ein und ließ die stahlgrauen Augen forschend auf ihm haften. »Haben Sie Geld von Ihrem Bruder verlangt?« fügte sie rücksichtslos hinzu.

»Nein,« log er. »Das war weder Haupt- noch Nebenzweck meiner Reise. Ich wollte dem Klatsch auf den Grund gehen und zugleich Ihrer Nichte nochmals – gütlich zureden ...«

»Aha!«

»Sie war nicht zu Hause. Ich habe meinen Bruder eindringlich ersucht, dem Mädchen Aufklärung zu geben, was es verlieren würde, wenn es bei seiner thörichten Ablehnung Ihnen gegenüber verharrte. Und das nicht allein, ich habe auch meinem Bruder klar gemacht, daß er es nicht verantworten könne, das Mädchen in ihrem Starrsinn zu bestärken – –«

»So so!«

»– daß selbst, wenn er die seiner Meinung nach beste Absicht hätte, ihre Zukunft durch Vererbung des Hofes sicher zu stellen, er sich noch an ihr versündigen würde.«

»Hm –!«

Ihre Einsilbigkeit störte ihn und ließ ihn auf der Hut sein.

»Da ich Ihr Vermögen, gnädige Frau, nicht zu überschätzen glaube und meinen Bruder über die mutmaßliche Höhe belehrte, gab er, wenn auch mit einigem Widerstreben, die Zusage, meine Eröffnungen dem Mädchen wiederholen zu wollen. Ueber den Bernd Löhnau, den Geliebten Ihrer Nichte, habe ich nur erfahren können, daß er den Versuchungen widerstanden hat.«

Sie ließ wieder nichts vernehmen, als ihr kurzes »Hm –!«

Da nun aber auch er schwieg, fragte sie nach einer Weile: »Was gedenken Sie jetzt zu thun?«

Er zuckte die Achseln und zog die Brauen hoch.

»Warten,« antwortete er kurz.

»Nicht hinfahren –?«

Er benutzte die Gelegenheit und fragte: »Habe ich die Mittel?«

»Ach so.«

Sie zog eine Geldtasche und zählte ihm langsam fünf Hundertmarkscheine hin.

»Sie geben mir eine Quittung und zahlen den Betrag nach Antritt der Erbschaft zurück.«

»Gnädigste Frau, wie gern – und wie dankbar!«

»Schweigen Sie davon. Wann fahren Sie?«

Er wich aus.

»Ich habe nach Reickendorf geschrieben und erwarte schleunige Antwort.«

»Wozu das?«

»Soll ich, wenn ich gegen alle Erwartungen doch nicht der Erbe bin, mich auf den Hof drängen?« fragte er mit Haltung und Betonung des letzten Wortes.

Sie lachte kurz auf.

»Dazu sind wir zu stolz, Detlev Oldekop.«

Er fühlte die Ironie.

»Stolz oder nicht,« eiferte er, »kämpfen würde ich bis zum letzten Atemzug; aber mich verhöhnen zu lassen, würde mir nicht einfallen. Wird mir mein Recht nicht morgen, so warte ich bis übermorgen oder übers Jahr oder so lange es sein muß. Aber als der Besitzer will ich kommen, nicht als der da fragt und anpocht, ob er eintreten darf – gehorsamer Diener, das würde mir passen!«

Frau Wichbern überlegte sekundenlang.

»Meine Nichte steht wieder allein. Soll ich hinfahren?« fragte sie plötzlich lauernd.

Die Frage kam ihm überraschend.

»Warten Sie noch,« riet er unwillkürlich ab und suchte nach Gründen. »Hat sie wirklich Anhänglichkeit für den Toten, so wird sie gerade in dem frischen Schmerze unzugänglich sein. Und Sie hinfahren? So weit dürfen Sie Ihren Stolz nicht unterordnen. Zu Ihnen muß das Mädchen kommen und dankbar sein, wenn Sie sie noch aufnehmen wollen ...«

Dazwischen grübelte er, ob und wie weit die Reise ihm schaden könne, und kam zu dem Schlusse, daß er die Fäden in der Hand behalten und ein direktes Eingreifen und Auftreten der Frau am Schauplatz selbst verhindern müsse. Die wiederholt berechneten Reisen, die vorgespiegelten Besprechungen mit dem Mädchen kamen ihm in den Sinn und ließen ihn rasch sich klar werden, daß die Dame bei der Durchschauung seines Lügengewebes sich mit Recht, aber vielleicht unbequem und voreilig, von ihm zurückziehen würde. Trat er die Erbschaft an, so mochte sie erfahren, was sie wollte; ihn wegen Vorspiegelung falscher Thatsachen und Betruges gerichtlich zu belangen, würde sie sich hüten; wie sie über ihn denken mochte, sollte ihm keine Minute Kopfzerbrechens machen.

»Die Feststellung, ob ein Testament vorhanden ist oder nicht,« redete er zu, »wird nicht auf sich warten lassen. Habe ich die Verneinung in Händen, so fahre ich sogleich und wirke energisch darauf hin, daß Ihre Wünsche erfüllt werden. Im gegebenen Falle ist es dann immer noch Zeit, auch Sie persönlich zu bemühen.«

Die Dame erhob sich reserviert. »Ich werde thun, was ich für gut befinde,« erklärte sie hochmütig und hatte im gleichen Augenblick den Entschluß gefaßt, gerade nach dem Gegenteil des ihr gegebenen Rates zu handeln. Ihr Mißtrauen gegen den Vermittler hatte den Höhepunkt erreicht, und sie verabschiedete sich frostig.

Der Zurückbleibende konnte sich eines leisen Unbehagens nicht erwehren, aber er schüttelte es ab in dem Gedanken an die unverhofft neu gewonnenen Mittel, die ihn über den Augenblick und seinem materiellen Druck abermals hinaushoben.

Die Dienerschaft der Frau Wichbern war am nächsten Tage verwundert, daß die Herrin reisen wollte. Frau Wichbern ließ sich einen Handkoffer packen und befahl den Wagen zu einer Stunde, in der sie sonst nie das Haus zu verlassen pflegte. Das Ereignis ließ die Hausmädchen und Diener die Köpfe zusammenstecken und vergnügt tuscheln. Sie war herrisch, die Gnädige, und ihre Abwesenheit versprach eine kurze Zeit der Erholung. Eine Stunde vor der angesetzten Zeit kam der Befehl, daß der Wagen sofort vorzufahren habe.

Frau Wichbern nannte dem Kutscher eine bekannte Juwelierfirma als nächstes Ziel, weilte längere Zeit in dem Laden und ließ sich dann nach dem Bahnhof in Altona fahren.

Am Nachmittag war sie in Reickendorf.

Die fremde Erscheinung der stolzen alten Dame erregte auf dem kleinen Bahnhof Aufsehen.

Sie bat den Stationsvorsteher um Auskunft, ob sie in der Nähe einen Wagen erhalten könne. Der Beamte ließ sie höflich in die am Bahnhof gelegene Gastwirtschaft führen. Sie konnte sich nicht entschließen, auf einem der groben Holzstühle Platz zu nehmen, sondern trat ans Fenster und verharrte stehend, bis der Wagen, ein niedriger, etwas veralteter Landauer, vorfuhr.

»Wohin befehlen gnädige Frau?« fragte der Wirt.

»Nach dem Hofe des Herrn Oldekop.«

Der Wirt führte sie hinaus und rief dem Kutscher, der vor dem vornehmen Gast die Mütze zog, zu:

»Johann, nach dem Grünen Sod.«

Die Bewohner des Wirtshauses waren im Gastzimmer zusammengeströmt und spähten dem Gaste interessiert nach.

»Hui!« meinte der Wirt, »sollte das etwa die Hamburger Alte sein, die Madame Wichbern, und zu ihrer Nichte wollen? Die wird sie auf dem Sod schwerlich noch finden! Ist sie nicht schon bei Blank?«

»Seit ein paar Stunden – ja.«

»Na, da wird Johann umkehren müssen. Wir wollen aufpassen. Uebrigens höllisch steif, die Alte, und von einer Unnahbarkeit – brrrr!«

Frau Wichbern war selten aufs Land hinaus gekommen, und die ländlichen Verhältnisse imponierten ihr nicht. Sie musterte die schmucke Blank'sche Villa, den Stolz der Reickendorfer, ziemlich geringschätzig und schenkte den Häuschen der Arbeiterkolonie und weiterhin den Anwesen der Bauern und Käthner im Dorfe kaum einen Blick.

Als der Wagen in die Nähe des Grünen Sod kam, zeigte der Kutscher mit der Peitsche vorwärts und rief seinem Fahrgast über die Schulter ein kurzes: »Da ist der Sod!« zu.

Er hielt vor der Gartenpforte an und knallte mit der Peitsche.

Frau Wichbern stieg gemessen aus und schritt langsam auf das Haus zu, dessen Butzenscheiben ihr einen ersten oberflächlichen Einblick in das Innere verwehrten.

Auf dem halbdunklen Flur trat ihr eine in Trauer gekleidete ältere Frau entgegen, die sie neugierig musterte.

»Ich wünsche Fräulein Anna Wichbern zu sprechen,« klang es durch den dichten Schleier der Fremden.

»Anna ist nicht mehr hier,« lautete die Antwort.

»Nicht mehr?« – klang es zweifelnd. »Wollen Sie mir mitzuteilen belieben, wo ich sie finden kann?«

»Am Bahnhof. Im Hause von Herrn Blank. Der hat sie zu sich genommen und heute mittag abgeholt.«

»Ich danke.«

Sie kehrte um und befahl den Kutscher nach der Villa Blank. Ein Diener in schlichter grauer Livree nahm sie in Empfang und führte sie in den Salon.

Das Innere des zweistöckigen Gebäudes war doch anders, als sie sich vorgestellt hatte. Wenn auch ihr geschulter und verwöhnter Geschmack auszusetzen fand, ließen sich weder Gediegenheit noch eine gewisse Behaglichkeit ableugnen.

Sie hatte nach dem Hausherrn gefragt und ihn um eine Unterredung ersuchen lassen, ohne ihren Namen zu nennen.

Martin Blank stutzte, als er die hohe, elegante Erscheinung vor sich sah.

»Mit wem habe ich die Ehre?« fragte er reserviert.

Sie nestelte den Schleier auf und zeigte ihm ihr stolzes, kaltes Antlitz.

»Anna Wichbern, wie meine Nichte, die ich zu holen komme,« erklärte sie ohne Umschweife.

»Ah?« stieß Martin Blank etwas überrascht hervor. »Ich weiß die Ehre zu schätzen, meine Gnädige, die Sie meinem Hause erweisen,« setzte er gemessen hinzu. »Ehe ich indes Ihre Nichte herbeirufe und sie über ihr Gehen oder Bleiben selbst entscheiden lasse, habe ich Ihnen zu eröffnen, daß ich das junge Mädchen in mein Haus und meine Familie aufgenommen habe, um ihrer selbst willen und um ihren toten Vater, der mir ein selbstloser, treuer Freund war, zu ehren. Ihre Nichte wird von mir als Kind gehalten werden, wie sie es von ihrem Vormund gehalten wurde, den eine verbrecherische Hand vorzeitig auf das Totenbett gestreckt hat. Ich habe sie darüber nicht im unklaren gelassen, und sie weiß, daß sie nicht nötig hat, nach dem neuen Schlage, der sie traf, ein Anerbieten anzunehmen, das sie früher abgelehnt hat. Sollte die Sorge um Ihre Nichte Sie hergetrieben haben, so können Sie also beruhigt zurückkehren, denn sollte ich auch – ich bin ja grau und alt geworden – abgerufen werden, so treten an meine Stelle andere, die die Waise mit Freuden zu sich nehmen; allen voran die Familie meines Sohnes und meine Tochter, die Ihrer Nichte wie einer Schwester zugethan ist.«

»Ich wünsche meine Verwandte selbst zu sprechen,« unterbrach Frau Wichbern mit kühler Ruhe, »und ihr zu sagen, daß sie nicht nötig hat, ein Almosen, und sei es gut gemeint, anzunehmen. Sie tritt mit demselben Augenblick, in dem sie in mein Haus kommt und mit ihrer Vergangenheit abschließt, in die Rechte ein, die ihr Vater sich verscherzt hat.«

»Bitte: die die geldstolze Familie Wichbern ihm in unerhörter Selbstsucht streitig gemacht hat,« brauste Blank auf.

In ihren grauen Augen glomm es auf, wenn sie auch scheinbar gelassen die Achseln zuckte.

»Darüber zu befinden ist nicht Ihres Amtes.«

»Nein, und ich will auch nicht richten. Aber wie einfache und gerade Leute über Ihre und Ihrer Angehörigen Handlungsweise gedacht haben, sollten Sie wenigstens erfahren. – Sie gestatten, daß ich der Unterredung mit Ihrer Nichte beiwohne.«

»Wenn Sie einen Zwang ausüben, ja. Sonst: nein.«

»Ich werde die Entscheidung Ihrer Verwandten anheimgeben. Sie verzeihen eine Minute.« –

Das junge Mädchen war bei Ann-Len. Sie nahm die Mitteilung von dem unerwarteten Besuche ruhiger entgegen, als Blank vermutet hatte.

»Bitte, bleib bei uns!« bat Ann-Len und faßte sie an beiden Händen.

»Wollen Sie mich behalten?« fragte sie Vater und Tochter mit halbem, freudigem Lächeln. Sie wartete die Antwort nicht ab.

»Ich bitte, Herr Blank. Aber bleiben Sie zugegen.«

Er nickte zustimmend, öffnete ihr die Thür zum Salon und schloß sie hinter sich.

»Ihre Nichte wünscht meine Gegenwart,« erklärte er kurz. »Bitte, meine Gnädige, sprechen Sie sich aus.«

Er trat zur Seite und ließ sich am Fenster nieder.

Es war das erstemal, daß Frau Wichbern die Nichte von Angesicht zu Angesicht sah. Sie überhörte fast die Anrede Blanks und hing mit gespanntem Forschen an den reinen, schönen Zügen der schlanken, jugendlich mädchenhaften Erscheinung, und über das stolze alte Antlitz huschte es kurze Augenblicke wie Rührung.

»Mein Kind,« – kam es stockend über die herben Lippen und eine Hand stahl sich unter dem schwarzen, schweren Seidencape der Dame hervor und streckte sich Anna entgegen.

Das Mädchen verbeugte sich förmlich und schien die Hand nicht zu sehen. Dann ging sie mutig und gerade auf ihr Ziel.

»Ich bedaure, auch Ihr wiederholtes Anerbieten ablehnen zu müssen,« sagte sie ruhig und entschieden.

Frau Wichbern lehnte sich unwillig in den Sessel zurück.

»Mein Kind, ich habe mich selbst überzeugen wollen, wie weit dein Trotz geht,« erwiderte sie herb. »Daß meine Briefe ohne Erfolg blieben, daß das persönliche Zureden Detlev Oldekops ebenso wenig half – –«

»Der Bruder meines Vormundes hat mit mir nie gesprochen –«

»Nicht –!« fuhr sie kurz und zornig auf.

»Und ich hätte ihm keine andere Antwort geben können, als er sie zweimal auf seine Briefe erhalten hat.«

»Die lautete?«

»Auf Nein, mit der näheren Begründung.«

»Mein Mittelsmann,« antwortete Frau Wichbern bitter, »hat mir also wiederholte Unterredungen vorgespiegelt, die nicht stattgefunden haben. Vielleicht hat er auch die Gründe deiner schriftlichen Ablehnung durch solche eigener Erfindung ersetzt; darf ich dich deshalb um die Liebenswürdigkeit ersuchen, sie mir selbst in Kürze zu wiederholen?«

»Ich bin in der Anschauung groß geworden,« entgegnete Anna fest, »daß der Wert des Lebens nicht im Ueberfluß liegt. Ich hatte und habe, was ich brauche – und darüber hinaus: die Achtung und Liebe derer, die ich schätze und an deren Urteil mir gelegen ist. Nach einem Mehr verlange ich nicht, und am wenigsten nach einem Reichtum, der die Herzen gegen meinen armen Vater zu Stein verhärten ließ.«

»Deutlich, mein Kind,« bestätigte die Frau. »Und thöricht. Aber wenn ich selbst zugeben wollte, daß an deinem Vater ein Unrecht begangen worden: folgerte daraus für dich die Berechtigung, die Hand zurückzuweisen, die sich dir darbietet vielleicht gerade aus dem Drange, geschehenes Unrecht nach Kräften gut zu machen?«

»Kann ich das annehmen, wenn Sie es selbst in Frage stellen?«

»Nein, und sollst du auch nicht,« betonte Frau Wichbern gereizt. »Der gegen das, was die Familie beschlossen hatte, verstoßen hat, hat seine Strafe mit Recht empfangen und sie tragen müssen. Nicht, weil ich sühnen zu müssen glaube, trete ich an dich heran, sondern weil du an dem, was zwischen uns steht, schuldlos bist.«

»Und weil es einsam geworden ist in dem stolzen Palast der Wichbern,« warf Blank vom Fenster her hart ein, »weil die Familie, die einst ein blühendes Glied verschwenderisch glaubte in den Staub stoßen zu dürfen, kahl geworden ist im Herbststurm und an dem jungen Zweig, der einzig übrig geblieben ist, sich hinüberretten möchte in die Zukunft ...«

Frau Wichbern wandte sich nicht um; aber ihr Atem ging hörbar und verriet ihre Erregung.

Anna blickte zu dem alten Herrn hinüber und nickte ihm dankbar zu.

»Das Schicksal meines Vaters schreibt mir mein Verhalten vor,« beharrte sie. »Er hatte nichts gethan, was die Acht über ihn rechtfertigen konnte; er hatte als Ehrenmann gehandelt und blieb es in der Entsagung, und ich will seiner wert sein.«

»Das sind ja Phantasien!« unterbrach Frau Wichbern mit mühsamer Behauptung ihrer Geduld. »Phantastereien, die vor der Wirklichkeit zusammensplittern wie Glas! Ich will sie dir nicht wünschen, aber es kann eine Zeit kommen für dich, in der du das Antlitz der Welt, das unverschleierte und wirkliche, mit Schrecken erkennen lernst. Du bist wie eine Traumwandelnde, blind gegen alle dich umgebenden Abgründe. Ja, wenn die Schläge, die dich schon bisher in deinem jungen Leben trafen, dich nicht aufgerüttelt haben zum Wachen und Sehen und Erfassen – wann endlich und durch welche Schule des Leides sollst du zur Besinnung kommen? Die Eltern dir entrissen, der Vormund einem tragischen Geschick zum Opfer gefallen – du aus dem Elternhause, das keine bleibende Stätte bieten konnte, hinausgestoßen, der zweiten Zuflucht beraubt, in der dritten überflüssig und geduldet – und das alles, trotzdem ein reiches, glänzendes, Gegenwart und Zukunft sicherndes Heim dir geboten, dir fast bettelnd zu Füßen gelegt wird! Aber nein, ich bettele nicht; ich fordere, und ich sage dir zum letztenmal: ziehe einen Strich unter alles, was vergangen ist, und folge mir. Was du hier geträumt hast, wird wie Schemen zurücktreten, wenn die blöden Augen sehend werden, und du wirst mir für das Glück an meiner Seite noch danken aus den Knieen.«

»Sind Sie glücklich?« fragte das Mädchen einfach.

»Ich – ja!« antwortete sie schneidend. »Unglück bringt allein die Not. Wie Rauch verfliegen die Ideale, wenn das Elend herangekrochen kommt, und zum Schornstein hinaus die Liebe, wenn das Feuer auf dem Herde verlischt und die Kammern und der Magen leer sind! Ueber Bord mit dem unnützen Ballast, so lange es Zeit ist ...«

Anna Wichbern fand ein träumerisches, sie weich verschönendes Lächeln. Sie dachte an Bernd von Löhnau und ihre Liebe und entgegnete der erregten Tante ruhig, fast freundlich:

»Das ist wohl nicht die rechte Liebe, die nur im Vollen gedeihen und nicht auch freudig entsagen kann, wenn es von ihr gefordert wird.«

»Du sprichst vom Entsagen, wie der Blinde vom Tag,« fiel die alte Dame bitter ein und nahm einen letzten entschlossenen Anlauf. »Hast du es denn der Mühe wert gehalten, ein einzigesmal wahr und ernst zu wägen, was dein ›Entsagen‹ bedeutet, wenn du meiner Sorge für deine Zukunft abweisend begegnest und dir die Welt gestalten willst, wie deine neunzehnjährige Unerfahrenheit und die Beschränktheit eines blöden Bauernburschen sie dir vormalen? Es ist deinem Vater nachgerühmt worden, daß er dir eine ungewöhnliche Bildung auf den Lebenspfad mitgegeben hat, und ich finde es – in gewissem Grade – bestätigt: glaubst du, daß du am Butterfaß und in Magddiensten glücklich werden, daß du Befriedigung – nota bene: stetige – an der Seite eines Mannes finden kannst, dessen Sinn über den Kuhstall und die Feldwirtschaft nicht hinausgeht?« ...

»Von wem sprechen Sie?« fragte das Mädchen und die Röte der Entrüstung färbte ihre Wangen.

»Von wem! Von wem! Hast du eine Auswahl von Verehrern, daß du zweifeln kannst, wen ich meine? Oder ist Bernd Löhnau nicht ein bäurischer Strohkopf und Habenichts, der dir als doppelte Hochzeitsgabe den Stumpfsinn und die leere Hand in die Ehe zu bringen verspricht?«

Das in ihrem Heiligsten gekränkte Mädchen fuhr zornig auf:

»Wir sind zu Ende! Und wenn Sie nicht Herrn Blanks Gast wären, würde ich Ihnen bedeuten, daß Sie ein Haus mit Ihrer Gegenwart beehren, das nicht darnach verlangt ... Ich bitte um Verzeihung, Herr Blank, daß ich mich entferne – –«

Der alte Herr trat auf sie zu und drückte ihr die Hand.

»Recht, mein Kind. Brav so! Geh zu Ann-Len – –«

Sie ging wortlos, und Blank wandte sich kalt an die Frau, die sich von ihrem Platze erhoben hatte.

»Ihre Nichte hat in meinem Sinne gesprochen,« sagte er kurz.

Frau Wichbern kämpfte gegen das Bewußtsein, daß der Mann in seiner ungesuchten Würde und das Mädchen in ihrem ehrlichen Zom ihr imponierten, neigte den grauen Kopf und entfernte sich langsam, ohne noch ein Wort zu verlieren.


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