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Elftes Kapitel

Detlev Oldekop hatte als Untersuchungsgefangener das Recht, für seine Pflege selbst zu sorgen, und da es ihm an Mitteln nicht fehlte, machte er davon Gebrauch. Es wären ihm wohl auch sonstige Erleichterungen der Haft gestattet worden, wenn er sich nicht gleich am ersten Tage mit dem obersten Beamten des Gefängnisses überworfen hätte. Er fand die Speisen aus einem nahen Restaurant nicht schmackhaft und führte bei dem Inspektor Beschwerde.

»Wollen Sie vielleicht Ihren eigenen Koch haben?« fragte der Inspektor. »Seien Sie froh, daß wir Ihnen so viel bewilligt haben ...«

»Bewilligt – wir? Wer wir?« entgegnete Oldekop scharf. »Sie haben überhaupt nichts zu bewilligen, das ist Sache des Richters. Ein Beamter in Ihrer Stellung sollte doch ein Buch kennen, das sich Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich betitelt, und wissen, was der Paragraph 116 über die Behandlung der Untersuchungsgefangenen unzweideutig vorschreibt. Ich weiß es ja auswendig: Erstens: dem Verhafteten dürfen nur solche Beschränkungen auferlegt werden, welche zur Sicherung des Zweckes der Haft oder zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gefängnisse notwendig sind. Zweitens – Bequemlichkeiten und Beschäftigungen, die dem Stande und den Vermögensverhältnissen des Verhafteten entsprechen, darf er sich auf seine Kosten verschaffen. Drittens – die erforderlichen Verfügungen hat der Richter zu treffen – verstehen Sie? Und so weiter. Also kommen Sie mir bei ›Bewilligungen‹ nicht mit dem Majestätsplural ›Wir‹!«

»Danke für die Belehrung! – Der Gefangene ist abzuführen,« entschied der Inspektor kurz und brummte hinter dem Aufsässigen her: »Wir werden dich schon noch mürbe kriegen.«

Bei der nächsten Gelegenheit führte Oldekop vor dem Untersuchungsrichter Beschwerde.

»Ich werde Abhilfe schaffen,« versprach Dr. Mackens.

»Ich bitte um die Erlaubnis zum Halten einer Zeitung,« fuhr Oldekop fort.

»Bedauere, das kann ich nicht gestatten.«

»Nicht? Also nicht einmal wissen darf man, was in der Welt vorgeht? Wie ein Blinder oder Dummer, der vom hellen Tag nichts sieht, soll man über kurz oder lang wieder hinaustreten?«

»Es wird Ihnen wohl,« erklärte der Richter ruhig, »in erster Linie darum zu thun sein, die Berichte der Zeitungen über Ihren eigenen Fall kennen zu lernen ... Haben Sie sonst noch Wünsche?«

»Die Zeitungen sollen mir nichts geben, als Anregung. Da sie mir abgeschlagen werden, verlange ich wenigstens, mir aus einer Leihbibliothek meinem Geschmack entsprechende Bücher beschaffen zu dürfen.«

»Sie können aus der Gefängnisbibliothek nach Belieben wählen.«

»Jawohl, Andachtsbücher. Pardon: erbaut bin ich schon genug.«

»Die Sammlung enthält auch Reisebeschreibungen und Romane.«

»Bewahre, nichts als fromme Schmöker.«

»Ich lehne Ihr Ansuchen vor der Hand ab.«

»Sie haben die Macht! Ich ersuche, mir durch meine Frau das Strafgesetzbuch und die Strafprozeßordnung schicken lassen zu dürfen.«

»Die Bücher sind in billigen Ausgaben zu haben. Ich gestatte, daß sie Ihnen aus einer Buchhandlung geholt werden.«

»Auch gut, und bei der Gelegenheit Papier und Schreibmaterialien, damit ich dem Gange der Untersuchung folgen und meine Verteidigung selbst ausarbeiten kann.«

»Ich werde Auftrag geben ...«

Einer der für die Verhaftung angeführten Gründe fiel sogleich bei dem ersten Verhöre fort, die Unterschlagung. Die Verurteilung wegen Betrugs galt nach der Vernehmung der Frau Wichbern als sicher, wenn auch der Angeklagte jede Schuld zu bestreiten suchte.

Der Alibibeweis für die Mordnacht schien auf Schwierigkeiten zu stoßen.

»Abends bin ich gegen dreiviertel zehn zu Hause gewesen,« führte Oldekop aus. »Hätte ich nach Reickendorf wollen, so wäre die letzte Gelegenheit dazu mit dem Zuge um ein halb zehn geboten gewesen, und ich hätte mich dann kurz nach neun aus der Wohnung entfernen müssen. Da meine Frau erkrankt war, mußte ich gerade um diese Zeit den Arzt zu mir bitten, und dieser wird, wenn er den Vorfall im Gedächtnis behalten hat, bestätigen müssen, daß er noch um halb zehn bei mir ein Rezept schrieb und mir persönlich übergab.«

Der Arzt wurde kommissarisch vernommen und gab zu Protokoll, daß er den ›Rechtskonsulenten D. Oldekop am 27. Oktober abends 9½ Uhr und am 28. Oktober morgens 9 Uhr persönlich in seiner Wohnung angetroffen und gesprochen habe‹.

»Wo waren Sie in den späteren Nachtstunden?« fragte der Richter in einem neuerlichen Verhör.

»Ich muß die Beantwortung ablehnen,« entgegnete Oldekop. »Ich habe an dem Abend gespielt, von etwa elf Uhr an bis spät in die Nacht. Dem Besitzer des Lokals Unannehmlichkeiten zu bereiten, kann ich mich nicht entschließen; es liegt mir um so ferner, als ich meiner gerechten Sache vertraue und den lückenlosen Alibibeweis nicht brauche.«

»Sie wollen den Wirt nicht nennen, weil Sie angeblich Hazard gespielt haben?«

»Ganz richtig.«

»Ich würde Ihnen doch raten, nicht Dritte zu schonen, wenn Sie sich selbst damit an den Hals gehen.«

»Sie verzeihen, daß ich Ihrem Rat nicht folge.«

»Wie lange soll das Spiel gedauert haben?«

Oldekop zuckte die Achseln.

»Genau vermag ich es nicht anzugeben. Ich schätze: bis gegen drei; ich kann mich aber irren, weil ich stark angezecht war.«

»Sie sind dann nach Hause gegangen?«

»Nein. Ich war in der Nähe der Großen Freiheit und bin noch eingekehrt.«

»Können Sie das dortige Lokal nennen?«

»Bewahre! Die Kneipen liegen Haus an Haus, und eine ist mir so unbekannt und gleichgültig wie die andere Ich bin vermutlich in die erste beste, die mir durch irgend einen Umstand auffiel, hineingetorkelt, vielleicht auch in mehreren gewesen.«

»Diese wenig bestimmten Aussagen sind verdächtig unzureichend. Wissen Sie wenigstens, wie und wann Sie nach Haus gekommen sind?«

»Ja, annähernd. Wie? Mit Droschke. Wann? Vor sechs oder um diese Zeit, denn ich glaube mich zu erinnern, daß ich doppelte Taxe, also Nachttaxe bezahlen mußte. Beeidigen könnte ich das nicht.«

»Vermögen Sie uns einen Anhalt zur Ermittelung der Droschke zu geben, die Sie benutzt haben wollen?«

Der Richter stellte die Frage lauernd.

»Nein,« entgegnete Oldekop mit gleichgültigem Achselzucken.

»Denken Sie nach: Haben Sie mit dem Kutscher vielleicht eine Differenz gehabt?«

»Kann sein. Oder auch nicht. Erinnerlich ist es mir nicht.«

»Haben Sie sich von dem Kutscher den Zettel mit der Wagennummer geben lassen?«

Aha! dachte Oldekop, man hat gesucht und gefunden.

»Ich wüßte nicht, wozu,« antwortete er trocken.

»Können Sie bestimmt verneinen?« forschte Dr. Mackens.

»Hm, Sie scheinen dieser Frage eine Wichtigkeit beizumessen, die ich nicht verstehe. Warum?«

»Antworten Sie mir!«

»Ich werde mich hüten, etwas zu behaupten, was ich nicht positiv weiß. Damit hat sich schon mancher Schuldlose den Strick selbst gedreht.«

»Sie erinnern sich also nicht?«

»Nein.«

»Sie glauben auch nicht, daß Sie sich der Wagennummer versichert haben?«

»Ich wiederhole: ich wüßte nicht, aus welchem Grunde. Es war nicht meine Gewohnheit, und ich könnte es höchstens in der Betrunkenheit gethan haben.«

»Sie verklausulieren sich.«

»Durchaus nicht. Ich behaupte nur nicht ins Blaue.«

»Es kann doch Ihrer geschulten Logik nicht verschlossen sein, daß Sie mit der Ermittlung des Droschkenführers Ihren Alibibeweis wesentlich vervollständigen würden?«

»Ich würde mit Freuden die Hand dazu bieten,« versicherte Oldekop, »wenn ich nur wüßte wie.«

Als er nach dem Untersuchungsgefängnis zurückgebracht wurde, konnte er ein Lächeln der Befriedigung nicht unterdrücken. War der kleine, zusammengeknüllte Zettel in der bei der Verhaftung beschlagnahmten Geldtasche den Spüraugen der Justiz nicht entgangen, reflektierte er im stillen, so hatte man auch schon nachgeforscht, und die verfänglichen Fragen des Untersuchungsrichters deuteten mit einiger Gewißheit darauf hin; im andern Falle konnte er sein Gedächtnis immer noch ›auffrischen‹ und selbst auf die richtige Spur hinlenken.

Der Weihnachtsabend brachte ihm eine Stimmung der Erbitterung.

Er dachte nicht mit sonderlicher Sehnsucht an seine Familie; es beherrschte ihn allein das Verlangen, hinauszukommen unter Menschen und in das festliche Treiben, das er noch zu vorgerückter Stunde bis an die Mauern des abgelegenen Gefängnisses branden fühlte.

Er rückte einen Schemel an die Fensterwand, kletterte hinauf und spähte durch die vergitterten Scheiben hinaus. Menschen mit Paketen, hin und wieder mit einem Tannenbaum, huschten unten auf der einsamen Straße vorüber; aus den Fenstern der vereinzelten nächsten Häuser ergoß sich winkender Lichtschimmer, und fernher grüßte ein strahlender Christbaum durch die Nacht nach dem dunklen Gebäude der Freiheitslosen hinüber.

Weit über der Stadt lagerte die Helle der Gasflammen ... Nach rechts hin die Hafengegend. Die Gegend mit den engen, winkeligen Gassen, in denen auch in der Weihnachtsnacht das Jagen nach dem Genuß nicht verstummen würde; wo in den Konzerthallen grogheisere Matrosenkehlen das Fiedeln der Damenkapellen begleiteten und der käufliche Flirt sein unsauberes Wesen trieb.

Er verließ seinen Platz so hastig, daß der Schemel polternd umschlug.

Fern dem lockenden Winken und Jagen! Eingeschlossen in Kerker und Nacht! Ein Verdächtigter, Verworfener, Verstoßener – aber noch nicht Ueberführter! Noch nicht – nein, und überhaupt nicht! – Schuldig? A pah! Schuld! Schuld! Was ist Wahrheit – heiliger Pontius Pilatus, was ist Schuld? Schuldig ist, wer überführt wird! Ich noch lange nicht! Meine Schuld? Notwehr. Und die That der Notwehr? Sie sollen sie mir beweisen! Das Leben ist ein Kampf der Selbstsucht. Die Selbstsucht, die mich verurteilte, habe ich vernichtet. Das war mein Egoismus, aber auch mein Recht. Und mehr als das: meine Pflicht! Die Pflicht des Egoismus, die da vorschreibt, sich nicht drangsalieren zu lassen, sondern sich zur Wehr zu setzen; zu zertreten, wenn man nicht selbst zertreten werden will. Mögen sie richten, die da die Gewalt haben, wenn die Gegenwehr sie nicht besiegt, allen ihren Kniffen und allen Spürnasen zum Trotz. Dieser Richter, schlau, zäh, selbstbewußt – er würde auch nicht hexen können. Und die Hamburger Alte – –!

Der Drache! Gegen ihn vorgegangen? Er wollte sie in ein Licht stellen – in ein Licht – sie sollte es bereuen! Aber wenn sie ihm an den Wagen fuhren, wegen Betruges – Geldstrafe, kurze Haft – das Gewitter würde bald vorüber ziehen. Und das andere –! Das war fern, das drohte noch ohne Donner und Blitz, das konnte und würde sich verziehen, wie so manches, das am Horizont schwarz aufgestiegen und ohne Unheil wieder versunken war ...

Auch die Weihnachtszeit ging zu Ende und die Zeit der beiden Feste vorüber.

Die Untersuchung zog sich noch hin, dann kam die Hauptverhandlung vor dem Schwurgerichte.

Detlev Oldekop fühlte sich siegesgewiß, und auch sein Verteidiger teilte die Hoffnung auf einen günstigen Ausgang.

Als der Angeklagte um die achte Morgenstunde nach dem Landgericht abgeholt wurde und auf dem Flur des Untersuchungsgefängnisses auf den Inspektor traf, blieb er vor diesem stehen, fixierte ihn, verbeugte sich ironisch und sagte: »Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, mich Ihres werten Andenkens außerhalb dieser Mauern zu freuen. Ich habe die Ehre – e – e« –

Er ging mit unterdrücktem Lachen.

Der Zuhörerraum im Schwurgerichtssaal war dicht besetzt. Oldekop erblickte, als er auf der Angeklagtenbank Platz genommen hatte und dreist musternd Umschau hielt, unter den Neugierigen nur wenige bekannte, meist gleichgültige Gesichter. Sein Interesse wurde erst rege, als er von der Zeugenliste die Namen der beiden Damen Wichbern verlesen hörte und hinter diesen der Hamburger Arzt, der seinerzeit Frau Oldekop behandelt hatte, ferner Martin Blank, der Kommissar Grotthus und der Droschkenführer G. C. Utsiek aus Altona folgten.

Frau Wichbern verweilte in einem separaten Zimmer. Sie hatte am Tage vor der Verhandlung den Gerichtspräsidenten aufgesucht und um die Gewährung einer Einrichtung gebeten, die sie vor der lästigen Berührung mit den ›übrigen Zeugen‹ schützte. »Unter diesen befindet sich meine Nichte, der an dieser Stelle zu begegnen mir nicht genehm wäre. Ich bin gegen sie verstimmt, und wie ich ihren Besuch abgelehnt habe, so wünsche ich auch hier ein Kreuzen unserer Wege zu vermeiden. Außerdem: ich fühle mich leidend, ernstlich leidend, und bedarf der Schonung, wenn ich den Aufregungen der Verhandlung gewachsen sein soll.« Sie hatte das noch weiter ausgeführt und von dem Präsidenten die erbetene Zusage erhalten. Als bei dem Aufrufe der Zeugen und Sachverständigen ihr Name genannt wurde, bemerkte der Präsident, die Zeugin sei im Gerichtsgebäude anwesend, von ihm aber, weil kränklich, bis zu ihrer Vernehmung dispensiert.

Nach den üblichen Formalitäten über die Personalien des Angeklagten und der Verlesung des Beschlusses über die Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgte die Vernehmung des Beschuldigten.

»Sie sind des Betruges und des Mordes beschuldigt,« begann der Präsident. »Ich frage zunächst: bekennen Sie sich des Betruges, begangen an Frau Anna Wichbern in Hamburg, schuldig?«

»Nein,« antwortete Oldekop.

»Bekennen Sie sich des Mordes an Ihrem Bruder, dem Bauern Hans Oldekop in Reickendorf, schuldig?«

»Nein.«

Der Angeklagte zeigte den Kreuzfragen des Präsidenten gegenüber eine überlegene Ruhe, die auch keine merkliche Erschütterung erlitt, als Frau Wichbern als Zeugin vorgerufen wurde, ihn keines Blickes würdigte und kalt ihre ihn belastenden Aussagen machte.

Sie erschien bleich und abgespannt und die Begründung ihrer anfänglichen Dispensation mit Krankheit nicht unberechtigt. Ihr Schwur klang eintönig.

»Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich nach bestem Wissen die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde. So wahr mir Gott helfe.«

»Sie hatten,« begann der Präsident, »den Angeklagten, ehemaligen Rechtskonsulenten Detlev Oldekop, mit Wahrnehmung Ihrer Interessen in einem bestimmten Falle beauftragt. Ich ersuche Sie, uns hierüber Auskunft zu geben.«

»Ich hatte dem Rechtskonsulenten Oldekop die Vermittelung zwischen einer Verwandten und mir anvertraut,« erklärte die Zeugin nervös. »Die Verwandte, die Tochter meines verstorbenen Bruders, hatte nach dem Tode ihres Vaters mein Ansuchen, zu mir zu kommen, abgelehnt, und da sie in mir nicht sympathischen Kreisen lebte, erteilte ich meinem Vertreter den Auftrag, meine Nichte aufzuklären und dann sich zu bemühen, ihre Beziehungen zu dem Vormund und ihrem Geliebten zu lösen. Ich hielt mich zu diesem Schritt berechtigt und verpflichtet, weil mein Sachverwalter die Verhältnisse, in denen meine Verwandte lebte, in den trübsten Farben malte, und ihren Geliebten derart als einen beschränkten bäuerischen Burschen hinstellte, daß mir ihre Neigung zu diesem nur als eine Verirrung erscheinen konnte. Ich muß hinzufügen, daß ich den ländlichen Verhältnissen ein um so größeres Vorurteil entgegenbrachte, je weniger ich sie kannte und je mehr ich – – die gewohnten überschätzte.«

Es war ihr anzusehen, daß das geringe Zugeständnis sie peinigte.

»Das Verhältnis Ihrer Familie zu Ihrem verstorbenen Bruder war getrübt?« fragte der Präsident.

Sie bestätigte es und gab eine kurze Erläuterung. Dann fuhr sie fort:

»Mein Vertreter verfügt über die Kunst des Redens, und da sein Gewissen genügend weit war, der Dichtung einen breiten Spielraum zu gewähren, so konnte es ihm nicht fehlen, daß er für eine Zeit lang mein Vertrauen gewann und die Möglichkeit erhielt, dies in pekuniärer Beziehung auszunutzen. Er hat davon hinreichend Gebrauch gemacht. Ich brauche mich hierüber wohl nicht ausführlicher zu verbreiten, da alle Belege sich in den Händen des Gerichts befinden.«

»Diese Belege,« bemerkte der Präsident, »sind von dem Angeklagten, wenn von dem letzten Briefe abgesehen wird, äußerst vorsichtig abgefaßt.« Er verlas eine der Quittungen: »›Von Frau A. Wichbern in Harvestehude Mark ein Tausend und sechshundert à conto meiner Bemühungen erhalten zu haben, bescheinigt pp.‹. Genau so lauten die weiteren Empfangsbestätigungen. Hat der Angeklagte in irgend einer Weise sich überhaupt für Sie bemüht?«

»Er hat zwei Briefe an meine Nichte geschrieben.«

»Aus seiner beschlagnahmten Korrespondenz mit dem Bruder geht hervor, daß er auch diesem wiederholt in der gleichen Angelegenheit geschrieben hat. Der Angeklagte hat ferner einen Zeugen, David Riecken in Reickendorf, angeführt, den er mit Ermittelungen über den Verlobten Ihrer Nichte Anna Wichbern betraut, von dem er auch Nachrichten erhalten und den er entschädigt haben will. Wir werden den Zeugen hören. Sie haben zu dem Kommissar Grotthus von Reisen gesprochen, die Ihnen der Angeklagte unrechtmäßig in Rechnung gestellt hatte ... Haben Sie darüber schriftliche Belege?«

»Nein. Er hat mir diese Auseinandersetzungen mündlich vorgetragen.«

»Ohne Gegenwart weiterer Zeugen?«

»Ja. In meiner Wohnung.«

»Er sprach von drei Reisen?«

»Ja.«

»Die er gemacht hatte oder machen wollte?«

»Die er gemacht hatte.«

»Hätten Sie ihm die erheblichen Vorschüsse auch bewilligt, wenn er von den Reisen nicht gesprochen hätte?«

»Zu Anfang: ja. Ich vertraute ihm.«

»Hm.«

Der Präsident verließ den Betrugsfall.

»Hat der Angeklagte,« fragte er, »sich Ihnen gegenüber über den Bruder in gereizter Stimmung geäußert?«

»Nein.«

»Kannte er die Absicht seines Bruders, den Hof Ihrer Nichte zu vererben?«

»Wir haben darüber wiederholt und ausführlich gesprochen. Ich selbst habe ihm vorgestellt, daß er mit der Entfernung meiner Nichte aus dem Hause des Bruders in erster Reihe seinem eigenen Vorteil dienen würde.«

»Er hat das zugegeben?«

»Ja.«

»Halten Sie den Angeklagten über den Betrug hinaus auch des anderen Verbrechens, des Mordes, fähig?«

»Ich bedauere, darüber nicht befinden zu können.«

Die Zeugin wurde mit Einverständnis der Verteidigung entlassen. Ihr folgte David Riecken.

»Hatten Sie von dem Angeklagten den Auftrag erhalten und angenommen, über den Gutsinspektor Bernd v. Löhnau Erkundigungen einzuziehen?«

»Ja.«

»Haben Sie den Auftrag ausgeführt?«

»Ja. Ich konnte nur nichts Nachteiliges herausbringen.«

»Sie sollten hauptsächlich darnach forschen?«

»Ja.«

»Nicht auch in der Richtung, ob der Inspektor sich eines guten Leumunds erfreute?«

»Daran konnte ihm nichts liegen. Er wollte doch die Liebesgeschichte mit dem Fräulein zum Scheitern bringen.«

»Haben Sie Nachteiliges erfahren?«

»Nein.«

»Haben Sie Ihrem Auftraggeber das mitgeteilt?«

»Ja. Als er bei mir war.«

»Wann war das?«

»Einige Tage vor dem Tode des Bruders.«

»Hat der Angeklagte sich zu Ihnen feindlich über den Bruder ausgesprochen?«

»Nein.«

»Sprach er vor oder nach der Begegnung mit seinem Bruder mit Ihnen?«

»Vorher und nachher.«

»Was sagte er nachher?«

»Das Gerücht von dem Hof und der Anna Wichbern, nämlich von der Erbschaft, sei Klatsch. Sein Bruder habe es ihm gesagt und ihn beruhigt. Ich glaubte es ihm auch, weil er ganz vergnügt war.«

»Haben Sie für Ihre Bemühungen eine Entschädigung erhalten?«

»Ja. Hundert Mark.«

Die junge Zeugin Anna Wichbern erregte das Interesse des Gerichtshofes und der Zuschauer. Ihre Aussagen erreichten den Höhepunkt, als sie erklärte, daß sie von einer Absicht ihres Vormunds, sie zur Erbin einzusetzen, nichts gewußt und erst nachträglich davon gehört habe. Von dem Bruder des Bauern hätte sie zwei Briefe erhalten, mit Vorstellungen, das Anerbieten der Tante anzunehmen. Sie habe beide abgelehnt. Von dem Besuche des Hamburger Bruders bei dem Bauern habe sie erst hinterher erfahren; sie selbst sei in der Zeit nicht zu Hause gewesen, sondern von ihrem Vormund – ob mit Absicht oder nicht, wisse sie nicht – fortgeschickt worden, um den Nachmittag in der Gesellschaft Ann-Len Blanks zu verleben, die wie immer kränklich gewesen sei.

»Hat der Bauer häufiger mit Ihnen über den Bruder sich unterhalten?«

»Nein. Fast nie.«

»Hat er nicht einmal einem Gedanken der Furcht vor dem Bruder Ausdruck gegeben?«

»Nein.«

»Hat er Ihnen davon gesagt, daß er bei dem letzten Besuche des Bruders einen Zusammenstoß mit diesem gehabt hatte?«

»Er hat gar nicht von diesem Besuch gesprochen.«

»Ist Ihnen das nicht ausgefallen?«

»Herr Oldekop war über seinen Bruder sehr verschlossen.«

»Haben Sie sich nicht Ihre Gedanken darüber gemacht, daß er Sie fortgeschickt und dann Ihnen auch noch den Besuch verschwiegen hat?«

»Ich dachte mir, der Besuch möchte wohl nicht erfreulich gewesen sein.«

»Sie schlossen das aus der Ihnen bekannten Spannung zwischen den Brüdern?«

»Ja.«

»Einen besonderen Grund hatten Sie nicht, ich meine, von dem Briefe, der am Morgen bei dem Bauern mit der Ankündigung des Besuches eingelaufen war, wußten Sie nicht?«

»Nein. Sogar bis zu diesem Augenblicke nicht.«

Martin Blank vermochte nur auszusagen, daß die der Frau Wichbern von dem Angeklagten vorgespiegelte Unterredung mit ihm von Anfang bis zu Ende erfunden sei.

Frau Oldekop bestätigte, daß ihr Gatte in der verhängnisvollen Nacht zum 28. Oktober bis gegen ½ oder ¾ 10 Uhr Abends zu Hause gewesen und dann mit der Absicht fortgegangen sei, zu spielen.

»Wohin?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wann kehrte er heim?«

»Ich habe ihn nicht kommen hören. Um acht Uhr schlief er und wurde geweckt wie gewöhnlich.«

»War er betrunken?« forschte der Präsident.

»Ich habe das nicht bemerkt.«

Der seinerzeit zu Frau Oldekop gerufene Arzt wiederholte seine bereits kommissarisch abgegebene Auskunft und fügte hinzu:

»Ich hätte mir die Zeit vielleicht nicht gemerkt, wenn ich dem Angeklagten nicht hätte raten wollen, das von mir ausgefertigte Rezept in einer bestimmten Apotheke ausführen zu lassen. Ich sah auf die Wanduhr und vergewisserte mich, daß es bereits etwas spät sei, um noch nach der entfernten Apotheke zu schicken. Die Uhr zeigte zwei oder drei Minuten vor halb Zehn.«

»Nach Ihrer eigenen Uhr haben Sie nicht gesehen?«

»Nein.«

»Hat der Angeklagte Ihre Aufmerksamkeit auf die Wanduhr hingelenkt?«

»Nein.«

»Sie auch nicht auf die vorgeschrittene Zeit aufmerksam gemacht?«

»Auch nicht.«

»Konnte die Uhr vorgestellt sein, oder war es Ihre Ueberzeugung, daß sie richtig zeigte?«

»Ich habe in die Zeitangabe einen Zweifel nicht gesetzt.«

»Beobachteten Sie am nächsten Morgen an dem Angeklagten Anzeichen von Betrunkenheit?«

»Nein.«

Der Zeuge Droschkenführer Utsiek wurde gerufen. Er musterte den Angeklagten etwas scheu.

»Angeklagter, kennen Sie den Zeugen?« fragte der Präsident.

»Mir scheint, das Gesicht kommt mir bekannt vor. Ich kann aber nicht sagen, woher.«

»Hat der Mann Sie in der Frühe des 28. Oktober von Altona nach Hause gefahren?«

»Ja, das soll ich wissen ... Es kann sein ...«

»Sie erkennen ihn nicht?«

»Ich muß bedauern ...«

»Zeuge, war der Angeklagte Ihr Fahrgast?«

»Ja, den kenn' ich wieder.«

»Wo ist er in Ihren Wagen gestiegen?«

»An der Großen Freiheit. Er war benebelt. Aber mächtig.«

»Wohin haben Sie ihn gefahren?«

»Nach Hamburg. Große Johannisstraße. Die Nummer weiß ich nicht mehr.«

»Ueberlegen Sie, ehe Sie auf meine Frage antworten! Um welche Stunde war das?«

»Es war noch Nachtzeit.«

»Also vor sechs?«

»Jawohl.«

»Hat sich der Fahrgast die Nummer Ihres Wagens nennen lassen?«

»Ja, er wollte handeln. Und als ich darauf nicht einging, ließ er sich den Nummerzettel geben. Das thun viele, wenn sie knickrig sind.«

Der Staatsanwalt erhob gegen die Beeidigung des Zeugen Einspruch.

»Sind Sie bestraft?« fragte er den Kutscher.

»Na, 'mal mit drei Märker.«

»Nur einmal?« inquirierte der Ankläger.

»Woll noch 'n paarmal,« gab der Zeuge mit einiger Verlegenheit zu.

»Jawohl, viermal! Auch schon mit Gefängnis?«

»Na, wenn Sie's doch wissen: – einmal auch.«

»Mit drei Tagen! Weshalb?«

»Wie's 'mal so in der Eile passieren kann – ich hatte mich im Preis versehen. Meine dämliche Uhr war ein bißchen unzuverlässig.«

»Die Richter scheinen Ihnen das aber nicht geglaubt zu haben.«

»Nee, leider nicht. Es war aber so.«

»Wollen Sie,« fragte der Präsident, »sich nicht lieber noch bedenken, ehe Sie den Eid auf sich nehmen? Sie wissen doch, daß es damit eine gefährliche Sache ist. Ihr Beruf ist ja ein schwerer, und ein kleiner Irrtum mag, wenn alles schnell gehen soll, nicht immer ausgeschlossen sein. Aber hier haben Sie richtig Zeit zum Ueberlegen, und Sie werden trotz der leidigen Strafen doch gewiß so viel Manneswürde und Ehre besitzen, daß Sie mit dem Eide nicht spielen wollen. Nicht wahr, den respektieren Sie, und überlegen genau, ehe Sie die Hand aufheben?«

»Ja – jawoll, Herr Richter.«

»Ich habe es nicht anders erwartet. Und der Paragraph hundertdreiundfünfzig des Strafgesetzbuches versteht auch keinen Scherz. Wissen Sie, was der sagt? Nein? So: ›Wer einen ihm auferlegten Eid wissentlich falsch schwört, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft.‹ Zehn Jahre – fast ein halbes Leben. Na, wir wollen lieber noch einmal fragen: War es wirklich noch Nachtzeit?«

Der Kutscher kraulte sich hinter den Ohren.

»Ich weiß es wenigstens nicht anders.«

»Hm. Und Sie wollen das beschwören?«

»Wenn's sein muß, werd' ich woll nicht anders können. Ich schwöre aber blos, daß ich glaube, es war noch Nachtzeit; denn einen Meineid – nee, den würde ich nicht auf mich nehmen.«

Der Verteidiger drang darauf, den Zeugen, dessen Aussagen von ausschlaggebender Bedeutung seien, zum Eide zuzulassen.

»Angeklagter, legen Sie Wert auf die Vereidigung des Zeugen?« fragte der Präsident.

Oldekop entgegnete großmütig:

»Ich überlasse die Entscheidung dem Gerichtshof. Ich selbst kann den Zeugen nicht rekognoszieren, und da ich nicht einmal weiß, wie er hierher kommt –«

Der Präsident machte mit der Hand eine Bewegung der Abwehr, blätterte in den Akten und wies auf einen kleinen Zettel von blauer Farbe.

»Der unscheinbare Fund wurde in Ihrer Geldtasche gemacht. Es ist wunderbar, daß Sie den Zettel so lange bewahrten, wenn er für Sie keine Bedeutung hatte.«

»Der Zettel war zusammengeknüllt,« bemerkte der Verteidiger; »er konnte der Aufmerksamkeit des Angeklagten leicht entgehen.«

»Ich hatte keine Ahnung –,« versicherte Oldekop. »Ich brauche aber nicht mit diesem Wisch zu rechnen, und wenn der Herr Zeuge seiner Sache nicht vollkommen sicher ist, dränge ich auf die Beeidigung durchaus nicht.«

Seine Erklärung machte einen guten Eindruck, und er bemerkte es befriedigt.

Der Gerichtshof beschloß, von der Beeidigung des Zeugen abzusehen.

Der Kommissar Grotthus schilderte seine Begegnung mit Oldekop und malte in lebhaften Farben.

»Standen Sie bei Besprechung des fingierten Falles unter dem Eindruck, daß der Angeklagte Ihnen direkt den Rat geben wollte, sich durch einen Meineid Ihrer Frau aus der Affaire zu ziehen?«

Der Kommissar bejahte überzeugt.

»Hm. Na ja, das weite Gewissen des Mannes kannten wir ja schon.«

Der Verteidiger hatte eine Reihe von Zeugen laden lassen, die dem Angeklagten bestätigten, daß er ihnen dankenswerte Dienste geleistet habe. Der Zeuge Rinkens erklärte sich für befriedigt. Wenn er gewußt hätte, daß der Beschuldigte ihm freiwillig gerecht werden würde, hätte er die Denunziation nicht eingereicht.

Oldekops Zuversicht wuchs mit jeder Aussage, die zu seinen Gunsten ausfiel, und er zürnte sogar dem ehemaligen Klienten nicht mehr, der als erster die Behörde auf seine Spur gelenkt hatte. Das ganze künstliche Gebäude der Anklage schien ziemlich haltlos zusammenzubrechen. Selbst in dem Betrugsfall mußte er aller Voraussicht nach gelinde davonkommen.

Nach Vernehmung der Sachverständigen, die nur über das Verbrechen selbst aussagen, aber den Beschuldigten nicht belasten konnten, wurde die Sitzung von dem Präsidenten auf eine halbe Stunde unterbrochen, die der Angeklagte zu eifriger Besprechung mit seinem Verteidiger benutzte.


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