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Viertes Kapitel

»Der Bauer bleibt lang,« sagte Anna Wichbern in der Küche zu einem der Mädchen.

»Ja, Mamsell,« kam die Antwort.

Anna Wichbern glättete in der Wohnstube an dem sauber gedeckten Kaffeetisch und wartete.

Das junge Mädchen war eine ungewöhnlich sympathische Erscheinung; von schöner, schlanker Figur, eine natürliche Anmut in Haltung und Bewegung; das reiche Blondhaar schlicht gescheitelt und nach hinten zu einem schweren Knoten verschlungen; das blaue Auge klar; die Stirn frei und rein; durchgeistigt und ein Gemisch von Energie und Weichheit die feinen Züge. Sie trug ein einfaches, blaues Wollkleid und über diesem eine schwarzseidene Schürze, wie meistens, wenn sie den Bauern erwartete und die grobleinene, hellfarbene Arbeitsschürze abgelegt hatte.

Sie griff tapfer mit zu in der Wirtschaft, scheute vor keiner Arbeit zurück und wußte es doch einzurichten, daß sie repräsentierte, wenn sie mit den Bauern zu thun oder einen Besuch zu empfangen hatte. »Blitzsauber!« pflegten die Reickendorfer Freunde Hans Oldekops sie zu loben und neidlos den eigenen Töchtern als Muster hinzustellen.

Auf der großen Diele des Wohnhauses herrschte geschäftiges Treiben, und das Surren einer Dreschmaschine, das Peitschenknallen des die Pferde treibenden Knechtes drangen bis in die Wohnräume.

Die Stunden vergingen, und als mit dem neunten Glockenschlage die Frühstückszeit herangekommen war und das Surren und Knallen und Hantieren auf Diele und Hof schwieg, wurde Anna über das Ausbleiben des Bauern doch unruhig.

Sie trat unter die Leute und forschte, ob jemand von einer besonderen Veranlassung wußte, die ihn fernhalten konnte.

Die Leute sahen sich an.

»Nee, Mamsell.«

Einer der Knechte biß in die derbe, mit rohem Schinken belegte Schwarzbrotschnitte, stieß seinen, auf aufgeschichteten Weizengarben neben ihm sitzenden Nachbar an und fragte, mit vollen Backen kauend:

»Is er all wieder jagen?«

»Wird er woll,« entgegnete der andere schluckend und setzte bedächtig hinzu: »Glock neun all? Hm, es wird ihm doch nichts zugestoßen sein?«

Die Frage pflanzte sich fort und erzeugte Unruhe.

»Wann is er denn fortgegangen?« schwirrte es: »All früh oder erst spät?«

Das allgemeine Schweigen zeigte, daß niemand Auskunft geben konnte.

Die Blicke waren auf die Mamsell gerichtet, deren Besorgnis sich den Leuten mitteilte.

»Ob wir nach ihm aussehen?« fragte endlich einer der Männer, der als Vorknecht eine bevorzugte Stellung auf dem Hofe einnahm.

»Was Menschliches ist ja nicht ausgeschlossen, und wenn die Mamsell meint – – –«

Anna Wichbern nickte.

»Es kann ja sein, daß er jeden Augenblick kommt,« meinte sie. »Aber wenn du ausschauen willst, Christian – schaden kann es nicht.«

»Nee,« stimmte der Knecht bei. »Und krumm nehmen kann er's auch nich und wird er auch nich, wenn er sieht, daß wir uns um ihn kümmern. Ja, wenn er dreißig Jahre jünger wär, der Bauer ... Na, da werd ich man gehen. Ihr drescht ruhig weiter. Jochen, du kommst an meine Stelle. Aber stopp nich zu viel hinein – rrrrr – wenn das so schnurrt, bleiben die Garben stecken und die Trommel rutscht ab, weil's zuviel ist. Hannes, der Voß war faul vorhin, dem kannst du mal eins hinter die Ohren knallen nachher ... Wo er is, der Bauer, kann ich mir schon denken. Hat denn jemand schießen hören? Nee? Ich auch nich. Ich werd aber erst 'mal nach der Wisch gehen, denk ich – meinen Sie nich auch, Mamsell? Na, denn man zu ...«

Anna ging in die Wohnstube zurück, und die Leute nahmen nach dem Frühstück ihre Arbeit wieder auf.

Der Vorknecht Christian Kummerfeld hatte sich nicht Zeit gelassen, sein Brot zu Ende zu essen. Er kaute noch unterwegs daran und wischte sich mit dem Aermel des Leinenkittels den Mund, als er den letzten Bissen hinuntergewürgt hatte.

»Ja ja, wenn man alt wird,« knurrte er und kraulte sich den stachlichen, wie ein Halbmond das Gesicht umrahmenden Bart. »Is ja noch fest, der Bauer, und stramm für seine Jahre; aber wenn's auf dem Kopf schlecht Wetter wird, denn trau' ich dem Frieden nich mehr. Und viel fehlt nich, denn is er grad so weiß, wie zuletzt uns' Wichbern war, als der noch lebte. Ob der Bauer jemals krank gewesen is? Ich hab nichts davon gehört. Aber die bröckeln am ehesten ab, wenn's endlich 'mal losgeht. Mit dem Wichbern war das auch so. Kerngesund, noch nich 'mal alt – lang nich so alt wie der Bauer – und knickte zusammen über Nacht. Wie'n Taschenmesser. Mag freilich Sorgen gehabt haben – aber der Bauer nich? Dieser Windbeutel von Bruder da in Hamburg – netter Herr! Ui jeh, wenn der 'mal den Hof kriegen sollte! Ich würd' gleich mein Bündel packen und adjüs sagen, denn mit dem unter einem Dach – nich in die Hand nich. Na, und die Mamsell – – Gott, kann der Bauer denn der nich den Hof geben und dem dicken Hamburger das Maulwischen lassen? Wenn ich was zu sagen hätte: nich eine Bohnenstange kriegte der –! Und noch is ja auch nich so weit. Abwarten, und denn lachen – oder – ich könnt' ihm eins unter die Nase geben ... Aber der Bauer wird ihm den Gefallen nich thun, der hat sich bloß verpaßt und denkt nich daran, abzurutschen ... Ach was, Unsinn!«

Er hatte das Brachfeld betreten, blieb stehen, übersah die Fläche, forschte mit den wasserhellen Augen den Waldrand ab und blickte noch einmal zurück, ob er nicht etwa über seinem Grübeln an dem Bauern vorbeimarschiert sei. Da er den Gesuchten nicht finden konnte, legte er beide Hände hohl an den Mund und rief, so laut er vermochte: »Bau – er!« – und nach einer Weile: »Bur Ol – dekop!«

Keine Antwort als ein schwaches Echo.

»Denn man weiter,« murmelte er und setzte den Weg fort.

Sorglos kletterte er an der Wiese auf den Wall und blieb zwischen dem Buschwerk wie angewurzelt stehen. Er neigte den Kopf vor, und seine Augen weiteten sich. Ein lang hingestreckter Körper – –? Der Bauer –? – und ein Stück Wild –?

Er sprang vom Wall und eilte im Laufschritt vorwärts.

»Bauer! – Bauer!«

Er faßte den Hingestreckten rüttelnd an der Schulter und fuhr entsetzt zurück. Eine Blutlache unter dem auf der Seite liegenden Körper, vom Blute durchtränkt die Kleidung auf der Brust ...

»Großer Gott!« stammelte der Knecht, und die Haare sträubten sich ihm. Er war nicht furchtsam, aber die Kniee wankten ihm und versagten fast den Dienst, als er schaudernd erkennen mußte, daß ein entsetzliches Verbrechen an dem Toten da verübt war ... Er kehrte dem Orte des Schreckens den Rücken und hastete stolpernd und keuchend nach dem Hofe.

Atemlos langte er an, ohne Mütze, die er unterwegs verloren hatte, und bewirkte schon durch seinen Anblick, daß alles auf dem Hofe stockte. Hannes, der eben noch geknallt hatte, brachte mit einem ›Prrrr‹ die Pferde zum Stehen, rutschte von der Plattform des Göpels und rief ein ›Sst – Sst!‹ nach der Diele zu. Die Leute standen schweigend und erwartungsvoll auf ihren Posten, die Geräte und Garben noch in ihren Händen, und fühlten es sich kalt überrieseln, als der Unglücksbote heiser und abgerissen ihnen seine erschütternde Kunde zurief: »Der Bauer – – t ... t ... tot – – M ... mord –!«

Es dauerte Minuten, ehe die Leute die plötzliche Lähmung zu überwinden vermochten, dann warfen sie die Arbeit hin, drängten sich um den Vorknecht und wollten sich eben berichten lassen, als in einer auf die Diele führenden Thür, durch die plötzliche Stille aufmerksam gemacht und herbeigezogen, Anna Wichbern erschien, erst stutzte und dann rasch auf die Gruppe zutrat. Die Leute wichen zurück, und der Vorknecht stand gesenkten Hauptes und suchte nach einer Form, wie er der Mamsell die Schreckenskunde möglichst schonend mitteilen könnte.

»Was ist, Christian?« fragte das Mädchen bestürzt.

»M ... Mamsell, der Bauer – ich – ich glaube, der kommt noch nich,« stieß der Gefragte hervor.

»Was soll das heißen? Hast du ihn gesprochen?« fragte Anna Wichbern hastig.

»Ja – nein, –« antwortete Christian verwirrt und fügte langsam hinzu: »Ihm is nich gut – ich – ach, Mamsell, ich glaube, den hat – hat der Schlag getroffen –«

Sie schrie nicht auf, aber ihr frisches, liebliches Gesicht deckte plötzlich Totenblässe.

»Wo ist er?« fragte sie.

»Auf der Wisch. Und, Mamsell, krank, sehr krank – ging der Knecht einen Schritt weiter.

»Mein Gott, krank, und ich sitze hier und warte. Komm, Christian, bring mich hin – gleich! Und Jochen – komm mit, wir müssen den Herrn hertragen –«

»Ja,« stimmte Christian zu. »Aber, Mamsell – ach Gott, wie soll ich es denn sagen, er – ich glaube – er is ja all tot!« stammelte er.

Die Thränen stürzten ihr in die Augen, und die Diele schien sich mit ihr zu drehen, so faßte sie ein plötzlicher Schwindel. Aber sie wehrte sich und hielt sich aufrecht, und sie sammelte sich zu rascher Umsicht, als der Entdecker der blutigen That auch den Rest seiner erschütternden Botschaft stockend vorgetragen hatte.

»Hannes! zum Arzt, zu Doktor Berg!« ordnete sie an. »Und du« – zu einem andern – »zum Ortsvorsteher! Ich lasse beide herbitten, so schnell als möglich. Sattelt, und reitet, was die Tiere laufen können! Christian, Jochen, kommt mit – ihr andern bleibt hier. Schickt mir den Arzt nach; wir halten Wache bei dem Bauern, bis er kommt. Und wer weiß – vielleicht ist noch Hilfe möglich. Christian, nimm Wasser mit; ich hole Leinen –«

Sie eilte davon und kam mit Tüchern und Verbandszeug in wenigen Minuten wieder. Die beiden Leute schlossen sich ihr mit einem Kübel frischen Wassers an, blieben aber, da sie vorsichtig gehen mußten, um das Wasser nicht bis auf den Grund zu verschütten, weit hinter ihr zurück ...

Anna Wichbern stand entsetzt ... Ein einziger Blick sagte ihr, daß der Mann, der ihr ein wahrhaft väterlicher Freund gewesen war, aufgehört hatte zu atmen, und daß er gefallen war von verbrecherischer Hand. Ein Weh wie am Totenbette von Vater und Mutter krampfte ihr das Herz zusammen und ließ sie die Hände falten in stummer, thränenloser Qual. Sie überlegte nicht, wer die ruchlose That vollbracht haben könnte, und sie dachte nicht an die Konsequenzen, die sich für sie selbst ergeben mußten; ihre Gedanken gingen auf in dem wortlosen, klagenden Schmerze um den jäh Dahingerissenen.

Die hinzugekommenen Leute hielten sich hinter ihr. Die nicht abgestumpfte Achtung vor der Majestät des Todes und die Pietät ließen sie das Haupt entblößen und gleich dem Mädchen schweigend ausharren, bis nach einer Stunde als erster der Gerufenen der Ortsvorsteher Blank eintraf und mit ihm zugleich der Amtsvorsteher von Donner, der zufällig in der Nähe der Blankschen Holzhandlung am Bahnhof gewesen war.

Beide bejahrte Herren drückten dem Mädchen mit aufrichtiger Teilnahme die Hand, und Blank fügte voll Herzlichkeit hinzu: »Jetzt, mein Kind, ist Ihr Platz in meinem Hause!«

Die offene Güte entriß ihren zuckenden Lippen ein Schluchzen, und sie mußte sich umwenden, um sich zu fassen.

Die Männer ließen ihr Zeit.

Dann erklärte Blank:

»Sie haben, wie ich hörte, nach dem Arzt geschickt, der nicht mehr helfen kann. Wir haben die andern nötigen Schritte gethan, den Amtsrichter in Bornhöved telephonisch hergebeten und an die Staatsanwaltschaft in Kiel telegraphiert. Unser Freund da kann nicht mehr reden, jetzt haben die Behörden das Wort.«

Zu den Harrenden gesellte sich um Mittag der Arzt. Er konnte nichts thun, als konstatieren, daß der Tod lange schon eingetreten sein mußte.

Die Kunde von dem Verbrechen mußte sich in der Gegend mit rapider Schnelligkeit verbreitet haben. Von allen Seiten strömten die Dörfler und Anwohner herbei und schlossen um den Toten einen dichten Kreis. Sie verharrten stundenlang stumm und ergriffen, und nur hin und wieder sonderten sich ein paar Leute ab, um flüsternd Zwiesprach zu halten. Als der Amtsrichter mit einem Gerichtsschreiber und dem Ortsgendarmen herannahte, wurde ihm respektvoll Platz gemacht.

Der Richter, ein noch junger Mann von festem, sicherem, taktvollem Auftreten, schritt alsbald zur Aufnahme des Thatbestandes, und die immer mehr anwachsende Menge folgte seinen Fragen lautlos und mit hochgespanntem Interesse.

Der Amtsrichter wandte sich, nachdem er das erschütterte, nach Sammlung ringende junge Mädchen mit warmem Händedruck begrüßt hatte, zunächst an den Arzt.

»Herr Dr. Berg, in Abwesenheit des Kreisphysikus bitte ich Sie um die erste Feststellung des Befundes. Die Frage, ob der Tod eingetreten ist, ist überflüssig und kann durch die andere nach der Zeit ersetzt werden. Wollen Sie über die mutmaßliche Stunde des Todes Ihr Gutachten abgeben?«

Dr. Berg kniete nieder und untersuchte lange.

»Es kann sich nur um eine frühe Nachtstunde handeln,« erklärte er.

»Welche?« fragte der Richter.

»Drei bis fünf. Eine genauere Angabe dürfte nicht thunlich sein.«

»Läßt sich feststellen, wann der Bauer sich vom Hofe entfernt hat?«

Anna Wichbern verneinte.

»Die Todesursache, Herr Doktor?«

»Ein Schuß in die Brust. Ein Schrotschuß –.«

»Wäre Selbstmord denkbar?«

Der Amtsvorsteher von Donner machte unwillkürlich eine abwehrende Bewegung, und der Richter bemerkte es.

»Ich glaube auch nicht an eine That der eigenen Hand,« flocht er ein. »Aber ich muß die Frage zur Erwägung stellen.«

»Ich kann Anzeichen eines Nahschusses nicht entdecken,« konstatierte der Arzt. »Im Gegenteil,« fügte er nach einer durch erneute Untersuchung ausgefüllten Pause hinzu, »die Verstreuung der Schrotkörner auf die ganze Breite der Brust ergiebt den Beweis, daß aus einer beträchtlichen Entfernung gefeuert worden ist.«

»Ich bitte um das Gewehr.«

Der Amtsrichter stellte fest, daß der eine Lauf geladen, der andere abgeschossen war. Sein Blick schweifte nach dem Wilde.

»Das erlegte Tier giebt zu Kombinationen Anlaß, die nicht unwesentlich von einander abweichen und auch in den Folgerungen erheblich differieren. Als die Hauptfrage ergiebt sich, von wem der Schuß auf das Tier herrührte. Gab ihn der Bauer ab, so mochte der Schuß auf ihn selbst aus dem Hinterhalt gefeuert worden sein, da ein Wilderer, wenn ein solcher angenommen wird, sich wohl kaum vorgewagt haben würde, dem rechtmäßigen Jagdherrn die Beute streitig zu machen. Die Wahrscheinlichkeit liegt wohl eher nahe, daß der unberechtigt Jagende sich beeilt haben dürfte, aus der gefährlichen Nähe des Jagdherrn sich möglichst unbemerkt und rasch zu entfernen. Möchte man zu der zweiten Annahme neigen, daß der Unberechtigte den Jagdschuß abgegeben habe und von dem Bauern bei seinem verbotenen Thun überrascht worden sei, so erklärte sich, daß der Wilderer in der Abwehr die Waffe auch gegen den auf ihn eindringenden Jagdherrn erhoben hätte – es entstände dann aber die Frage, welches Ziel der Bauer für seinen Schuß hatte, und die andere, ob Wilderer und Jagdherr zugleich auf einander schossen und der letztere im Kreuzfeuer fiel. Um so weit als möglich sofort Klarheit zu schaffen, muß ich ersuchen, mir eine Reihe von Fragen sogleich zu beantworten. Zunächst: ist jemand unter den Anwesenden, der in dem Morde etwa einen Racheakt vermutet?«

Es meldete sich Niemand.

»Hatte der Bauer in der Gemeinde – oder überhaupt – Feinde?«

Wieder Schweigen.

»Könnte ein Racheakt eines seiner Knechte vorliegen?«

Der Vorknecht fuhr auf:

»Wir waren ja alle bei der Arbeit! Und so was zu denken!«

»Eine Ermittlung nach dieser Richtung hin halte auch ich für unnötig,« fiel der Amtsvorsteher ein, und Anna Wichbern schüttelte tiefernst den blonden Kopf.

»Von unseren Leuten? Nein, von denen gewiß nicht!« verneinte sie entschieden.

»Findet die Annahme Zustimmung, daß es sich um das Werk eines Wilderers handelt?« fuhr der Richter fort.

Blank nickte.

»War es bekannt, daß Wilderer in der Gegend ihr Unwesen trieben?« forschte der Amtsrichter zu Blank gewendet.

»Wohl nicht gerade häufig, aber doch zuweilen,« bestätigte der Gefragte. »Ich habe ein paarmal von dem Bauern erfahren, daß er Schlingen gefunden und auch nächtlich Schüsse gehört hatte, die in seiner Pachtung gefallen sein mußten.«

»Hat der Bauer zu Ihnen davon gesprochen, Fräulein Wichbern?«

»Ja, ich entsinne mich. Zwei- oder dreimal hat er morgens auch Schlingen mit nach Hause gebracht, die er mir beim Kaffee zeigte.«

»Wie lange ist das her?«

»Das letztemal erst einige Wochen, genau kann ich es nicht sagen.«

»Wann sprach der Jagdherr mit Ihnen davon, Herr Blank?«

»Auch erst vor einigen Wochen, zu Anfang der Jagdsaison. Ich bin zu alt, um noch ein allzu eifriger Jäger zu sein; aber ich schloß mich ihm doch hin und wieder an, und einmal haben wir auch hier an der Wiese eine für Rehwild gelegte Schlinge entdeckt.«

»Wann war das?«

Blank sann nach.

»Liebes Kind,« wandte er sich an Anna Wichbern, »Sie wollten an dem Tage nach Neumünster oder Kiel fahren – erinnern Sie sich?«

»Ja, das war am – – am zweiten Oktober. Am dritten – hatte Herr Oldekop –« sie schluchzte – »Geburtstag – und da wollte ich –« sie barg das Antlitz in den Händen und konnte nicht zu Ende sprechen.

»Armes Kind!« murmelte der alte Blank, trat zu ihr, zog eine der Hände von dem thränennassen Gesicht und legte ihren Arm schützend in den seinen.

»Aus dem Datum folgt, daß der oder die Wilderer noch in der allerletzten Zeit thätig waren, und aus dem Fundort der Schlinge, daß sie auch die Wiese zum Schauplatz ihres Treibens erkoren hatten. Sind wir so weit, so liegt die Folgerung nicht mehr fern, daß dem verbotenen Treiben in der Frühe des heutigen Tages ebenfalls gefröhnt wurde und bei der Entdeckung der Bauer den Verbrechern zum Opfer fiel. Liegt ein Anhalt vor, der einen Schluß auf einen oder mehrere Diebe zuläßt?«

Keine Antwort.

»Hat der Bauer nicht irgend einen Verdacht gegen die eine oder andere Person ausgesprochen, Fräulein Wichbern?«

»Nein –.«

»Herr Blank –?«

»Auch zu mir nicht.«

»Herr von Donner –?«

»Nein.«

»Zu jemand sonst –?« – in lauter Frage an die Umstehenden.

Nein.

»Also kein Fingerzeig. – – Ich ersuche alle Anwesenden, auf ihren Plätzen zu verbleiben, damit etwa vorhandene Spuren des oder der Thäter nicht noch mehr verwischt werden, als durch das Zuströmen von allen Seiten leider schon geschehen sein kann. Herr Doktor Berg, ist Ihre Meinung, daß der Schuß den Bauern auf der Stelle tötete – oder halten Sie nicht für ausgeschlossen, daß der Getroffene noch bei Bewußtsein blieb?«

»Der Schuß war tötlich, unbedingt und sofort. Allein ein halbes Dutzend Schrote haben das Herz getroffen.«

»Er ist im Feuer zusammengebrochen?«

»Sicher.«

»Giebt die Lage der Leiche eine Andeutung, aus welcher Richtung der Schuß kam?«

»Das Gesicht des Toten zeigt nach dem Brachfeld. Hat er sich nicht nach rückwärts überschlagen, was ich für kaum wahrscheinlich halte, so ist mit der jetzigen Lage die Richtung des Schusses angegeben. Für die Annahme, daß er vom Felde herkam, oder aus dem Knick, spricht zugleich die Entfernung. Sie ist groß genug, die konstatierte Zerstreuung der Schrote zu erklären, und zugleich so knappe Schußweite, daß sie auch die sofortige tödliche Wirkung des Schusses verständlich macht.«

Der Richter entfernte sich in Begleitung des Gendarmen und des Amtsvorstehers nach dem Knick und forschte nach Spuren. Herr von Donner kletterte über den Wall und schritt die Felsseite ab. Ein Ausruf ließ den Richter ihm nach wenigen Minuten folgen. Eine deutliche, von ungewöhnlich großem, nägelbeschlagenem Schuhwerk herrührende Spur führte vom Walde her an eine Stelle des Knicks, auf diesen hinauf, wieder hinunter und zurück nach der Holzung. Der Amtsvorsteher folgte vorsichtig der herwärts gerichteten Spur und stellte fest, daß sie dicht vor dem Fahrwege aus dem Holze abzweigte; die Rückspur verlief zu Beginn des Waldes und war in diesem über den abschließenden Knick hinaus nicht mehr zu erkennen. Blutspuren fehlten.

An der Wiese trafen Amtsvorsteher und Richter wieder zusammen. Der letztere nahm das Wort.

»Ich schließe, daß wir das Versteck des Verbrechers und in den Fußspuren einen ersten Anhalt zu seiner Ermittlung gefunden haben.«

Er suchte nach einem Bogen Papier und zeichnete die Spur nach der Größe des Fußes und den Eindrücken der Nägel möglichst genau nach.

»Gendarm, Sie haben bis zum Eintreffen der Gerichtskommission darüber zu wachen, daß ein Verwischen der Spuren nicht stattfindet. Weisen Sie Unberufene und Neugierige streng ab. Ich werde Sorge tragen, daß die Abnahme einer Gypsform morgen in der Frühe erfolgt. Sie bleiben gleich zur Stelle.«

Die Herren kehrten an die Leiche zurück.

»Ist Ihnen,« wandte sich der Richter an die Umstehenden, »irgend jemand mit auffallend großem Fuß in der Gegend bekannt?«

Schweigen.

»Ist nägelbeschlagenes Schuhwerk mehr oder minder am Orte gebräuchlich?« fragte der Richter Herrn von Donner.

»Ich habe es an meinen eigenen Leuten vielfach beobachtet,« entgegnete der Befragte, »und ich glaube, auch die Arbeiter in den Fabriken, wenigstens auf dem Holzplatz, suchen durch Beschlagen der Sohlen und Absätze mit Nägeln eine größere Dauerhaftigkeit des Schuhwerks zu erzielen. Vielleicht können Sie bestimmtes aussagen –?« wandte er sich an Blank.

»Die Nägel sind kein besonderes Kennzeichen,« bemerkte Blank, »oder doch erst dann, wenn sich der Verdacht auf eine einzelne Person gelenkt hat und es sich um die Frage handelt, ob der Bodenabdruck eine mehr oder minder genaue Kopie von dem Schuhwerk dieser Person giebt.«

»Ich hoffe, daß wir bald in die Lage kommen, diese Frage zu erwägen,« erklärte der Amtsrichter. »Fräulein Wichbern, pflegte der Bauer größere Geldsummen bei sich zu führen?«

»Nein, fast nie. Höchstens wenn er einmal von einem Markte kam und für verkauftes Getreide oder Vieh einkassiert hatte –.«

»Hatte er gegenwärtig eine größere Summe bei sich oder zu Hause?«

»Das kann ich nicht sagen. Er sprach darüber nicht, und es ging mich nichts an.«

Der Amtsrichter überzeugte sich, daß Uhr und Kette vorhanden waren. In der Geldtasche fand er einige Thaler und zwei Goldstücke.

»Mutmaßen Sie, daß ein Betrag fehlen könnte?« fragte er die Mamsell.

»Nein.«

Der Richter nahm die Schlüssel an sich und forderte Blank, den Amtsvorsteher und Anna Wichbern auf, ihn nach dem Hofe zu begleiten. Ehe er sich entfernte, traf er seine Anordnungen.

»Die Leiche muß bleiben, wo und wie sie liegt. Ihre Leute werden Wache halten, Fräulein Wichbern, ich ersuche darum. Zuverlässige Leute – – bitte, bestimmen Sie ... Gut. Ich verlasse mich darauf, Leute, daß alles unverändert bleibt. Den Bauern gerächt zu sehen, werden Sie mit mir wünschen; tragen Sie dazu bei, daß die Unthat selbst dem Verbrecher zum Verräter wird.« ...

Ein Teil der Neugierigen folgte nach dem Hofe.

Anna bezeichnete die Schatulle und in dieser eine Abteilung, in der der Bauer sein Geld aufzubewahren pflegte. Sie enthielt an zweitausend Mark in Kassenscheinen, Gold und Silber, und der Befund ließ einen Raub auch an dieser Stelle, und somit überhaupt, ausgeschlossen erscheinen.

Die Thätigkeit des Amtsrichters war vorerst beendet.

Martin Blank blieb mit Anna Wichbern allein.

»Mein liebes Kind,« redete er dem schluchzenden Mädchen zu, »es hilft nichts, wir müssen uns in den Schicksalsschlag fügen und dem Morgen und was es bringt, ins Auge sehen. Ihr Vater und Ihr Vormund waren mir Freunde, vertrauen Sie sich mir an. Kommen Sie in mein Haus, und seien Sie mehr als unser Gast, seien Sie meiner Tochter eine Schwester. Sie kennen sie ja von Kindheit auf und würden ihr, wie einst frohe Gespielin, sorgende und liebende Schwester sein können. Und sie bedarf der Liebe und des Sonnenscheins, meine kleine, arme, immer kranke Ann-Len. Sagen Sie ja, Anna – nein, nicken Sie, wenn Ihnen das Wort fehlt –. So ist es gut, Kind. Und nun –: den Kopf nicht zu tief sinken lassen, sondern ihn oben behalten und klar, wenn Sie auch im Herzen trauern.«

Er strich mit linder Hand über das blonde Haar des an seine Schulter gelehnten Kopfes und ließ ihr Zeit zur Beruhigung.

»Das Verbrechen wird bekannt werden,« fuhr er dann fort, »und den herbeirufen, der über Nacht und unerwartet zum Erben geworden ist – – – er soll Sie nicht mehr vorfinden auf dem Hofe, auf den ein anderer Geist einziehen wird – – leider, leider, aber nicht zu ändern, wenn nicht ein Testament vorhanden ist, das es anders fügt. Und ich glaube nicht ... Er war zu rüstig, unser Freund, und er dachte nicht ans Sterben. Ja ja, rasch kommt der Tod und stößt alles um, was nur geplant und nicht felsenfest geordnet war ... Er hatte es gut mit Ihnen im Sinn, mein Kind, und Ihre Thränen gelten einem stillgewordenen Herzen, das warm und lauter schlug und Ihnen zugethan war in Liebe und Sorge. Wir wollen ihn nicht vergessen, wir alle beide nicht. Aber auch nicht rat- und thatlos sein. Denken Sie, wenn das Zagen über Sie kommt, an Ihren guten Vater. Wie viel Schweres hat er dulden müssen, und wie hat er sich in jede Lage seines Lebens gefunden! Glauben Sie, daß es ihm, der aus reichem Hause stammte und im Glanze groß geworden war, leicht geworden sein mag, um seiner Liebe willen dem Behagen des Reichtums zu entsagen und den Kampf, der für ihn doppelt schweren, mit der Armut und der Erniedrigung, mit der Arbeit und den Entbehrungen aller Art aufzunehmen? Und wie freudig hat er gelitten, wie freudig gestritten für Weib und Kind, wie gerungen um andere Ideale, als sie ihm von seiner Jugend vorgezeichnet waren! Wie hat er, der studierte Mann, sein reiches Wissen in das kleine Amt gezwängt und selbstlos in den Dienst der Gemeinde gestellt, wie mit seiner Güte seine ganze Umgebung umfaßt, und mit Rat und That geholfen, ob auch Schmalhans bei ihm Küchenmeister und die Sorge sein täglicher Gast war. Denken Sie an ihn, Anna Wichbern, wenn Sie zagen, und richten Sie sich auf an seinem Beispiel. Rufen Sie sich sein Leitwort in Erinnerung und handeln Sie darnach: ›Gradeaus!‹ Viel Leid und wenig Kümmern; je schwerer die Sorgenlast, um so breiter die Schultern zum Tragen, und den Blick und den Schritt – immer ›gradeaus‹.«

Die Thränen versiegten ihr. Sie umschloß mit beiden Händen seine Rechte und drückte sie in überquellender Dankbarkeit.

»Wenn Ann-Len mich als Schwester will – ich komme – und ich bin Ihnen dankbar – –«

Er wehrte freundlich ab.

»Morgen mittag schicke ich Ihnen den Wagen, mein Kind, und Ann-Len selbst soll Sie abholen, wenn ihr so wohl ist wie heute. Und nun: Auf Wiedersehen morgen ...«

Er wandte sich noch im Gehen wiederholt um und nickte ihr zu.

Sie kniete vor einem Stuhle nieder und weinte sich, da sie unbeobachtet war, aus. Dann wechselte sie das Kleid und legte um den Toten tiefe Trauer an, sorgte für den Haushalt zum Abend, hüllte sich in einen warmen Mantel und ging nach der Wiese, um mit den Leuten die Ehrenwache zu halten bei dem Entschlafenen.

Auf schaumbedecktem Rosse kam in später Stunde Bernd von Löhnau auf dem Grünen Sod an. Er eilte der abermals verwaisten Braut nach und umfing sie erschüttert.


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