Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Der von der Tante erhaltene Diamant des Helden macht Bekanntschaft mit dem Onkel desselben

 

Der Zusammenbruch der großen West-Diddlesexgesellschaft wurde natürlich in allen Zeitungen besprochen, und jeder, der mit ihr in irgendeinem Zusammenhange stand, wurde bald als Schurke und Schwindler der Abscheu des Publikums. Man erzählte, Brough sei mit einer Million davongegangen. Man deutete sogar an, daß ich armer Schlucker hunderttausend Pfund nach Amerika geschickt haben sollte und nur abwartete, bis ich vom Gericht freigesprochen wäre, um dann für den Rest meiner Tage als reicher Mann zu leben. Diese Ansicht fand auch einige Anhänger im Gefängnis, wo sie mir, seltsamerweise, eine Achtung verschaffte, – von der ich, wie man sich denken kann, nur wenig geneigt war, Nutzen zu ziehen. Herr Aminadab jedoch blieb bei seinen häufigen Besuchen im Gefängnis dabei, ich sei ein dummer Teufel, der nur ein willenloses Werkzeug in Broughs Händen gewesen wäre und nicht einen Schilling auf die Seite gebracht hätte. So gingen also die Meinungen auseinander, und ich glaube, die Schließer hielten mich für einen Burschen von erstaunlicher Verstellungskunst, der sich den Anschein der Armut nur gab, um das Publikum irrezuführen.

Auch die Herren Abednego und Sohn galten ebenfalls in der öffentlichen Meinung als verabscheuungswürdig; und in der Tat habe ich nie genau ermitteln können, welcher Art eigentlich das Verhältnis dieser Herren zu Herrn Brough gewesen war. Aus den Büchern wurde nachgewiesen, daß Herr Abednego große Summen Geldes von der Gesellschaft erhalten, er aber brachte außerdem von Herrn Brough unterzeichnete Dokumente zum Vorschein, aus denen hervorging, daß dieser und die West-Diddlesexgesellschaft den Abednegos noch Summen höheren Betrages schuldete. An dem Tage, wo ich nach dem Insolvenzgerichtshof gebracht wurde, um dort vernommen zu werden, befanden sich auch Herr Abednego und die beiden Herren von Houndsditch dort, um ihre Forderungen zu beschwören; sie machten einen entsetzlichen Lärm und ließen eine ungeheure Menge von Eiden los zur Bekräftigung ihrer Ansprüche. Aber die Herren Jackson und Paxon stellten ihnen denselben irländischen Portier gegenüber, der den Brand verursacht haben sollte, und ich hörte sie andeuten, daß sie Beweise genug hätten, die Juden an den Galgen zu bringen, wenn sie auf ihre Forderungen beständen. Darauf verschwanden sie allesamt, und man hörte nie mehr etwas von ihren Ansprüchen. Ich meinesteils glaube, daß unser Direktor Geld von Abednego geliehen hatte, – ihm dafür Aktien als Provision und Sicherheit gab und sich plötzlich gezwungen sah, diese Aktien mit barem Gelde einzulösen, wodurch er seinen Ruin und den der Gesellschaft natürlich beschleunigte. Es wäre nutzlos, hier aufzuführen, an wie ungeheuer vielen Gesellschaften Brough beteiligt war. Die, bei welcher der arme Herr Tidd sein Geld angelegt hatte, zahlte nicht zwei Pence aufs Pfund, und sie war noch von allen diejenige, die ihren Gläubigern die meisten Prozente gewährte.

Was nun unsre Gesellschaft anbetrifft, – oh, das war eine nette Szene, als ich aus dem Fleetgefängnisse nach dem Insolvenzgericht gebracht wurde, um als der letztgewesene erste Commis und Rechnungsführer der West-Diddlesexgesellschaft mein Zeugnis abzulegen.

Meine arme Frau, deren Zeit damals bald gekommen war, bestand darauf, mich nach Basinghall Street zu begleiten, und ebenso mein lieber Freund Gus Hoskins, der treue, ehrliche Bursche. Wenn ihr die Masse der versammelten Leute gesehen und den Lärm gehört hättet, der sich erhob, als ich hineingeführt wurde!

»Herr Titmarsh,« sagte der Richter mit eigentümlich sarkastischer Betonung der ersten Silbe, als ich an den Tisch trat – »Herr Titmarsh, Sie waren Herrn Broughs Vertrauter, sein erster Kommis und auch ansehnlicher Aktionär der Gesellschaft?«

»Nur nominell, Herr Richter,« antwortete ich.

»Natürlich nur nominell,« fuhr der Richter fort und lächelte dabei seinen Kollegen spöttisch zu; »es muß ja ein großer Trost für Sie sein, wenn Sie bedenken, daß Sie Anteil am ganzen Rau – ich meine, am Gewinn der Spekulation hatten, und sich nun von den Verlusten lossagen können, indem Sie angeben, daß Sie nur nomineller Teilhaber wären.«

»Der teuflische Schurke!« schrie eine Stimme aus der Menge. Es war die des wütenden Offiziers auf Halbsold, Kapitäns Sparr, eines unsrer ehemaligen Aktionäre.

»Ruhe im Gerichtssaal!« rief der Richter, und während all der Zeit blickte Mary ängstlich und totenblaß in sein Gesicht und das meinige, während Gus im Gegenteil purpurrot wurde. »Herr Titmarsh, ich habe glücklicherweise Gelegenheit gehabt, ein Verzeichnis Ihrer Schulden vom Insolvenzgerichtshofe durchzusehen und habe unter anderm gefunden, daß Sie Herrn von Stiltz, dem berühmten Schneider, eine schöne Summe schulden, ebenso Herrn Polonius, dem berühmten Juwelier, sowie einigen eleganten Putz- und Modehändlern; – und all dies bei einem Gehalt von jährlich 200 Pfund. Für einen so jungen Mann haben Sie es, wie ich gestehen muß, ziemlich weit gebracht.«

»Hat dies irgend etwas mit der in Frage stehenden Angelegenheit zu tun, Herr Richter?« sagte ich. »Stehe ich hier, um Auskunft über meine Privatverpflichtungen zu geben, oder um über das, was ich von den Geschäften der Gesellschaft weiß, auszusagen? Was meinen Anteil an letzterer betrifft, so habe ich eine Mutter und viele Schwestern.«

»Der verd– Schuft!« schrie der Kapitän.

»Man bringe den Kerl da zur Ruhe!« schrie Gus, kupferrot, worüber der Gerichtshof zu lachen anfing; dies gab mir den Mut, fortzufahren:

»Meine Mutter, Herr Richter, erbte vor vier Jahren ein Legat von vierhundert Pfund und beriet mit ihrem Anwalt, Herrn Smithers, wie sie diese Summe anlegen könnte; da nun die Independent West-Diddlesex damals gerade gegründet worden war, so wurde das Geld auf Leibrente bei der Gesellschaft angelegt, was mir eine Kommisstelle dort eintrug. Sie mögen mich nun für einen sehr hartgesottenen Verbrecher halten, weil ich mir bei Herrn von Stiltz Kleider machen ließ, aber Sie werden kaum annehmen können, daß ich als neunzehnjähriger junger Mensch etwas von den Angelegenheiten der Gesellschaft wußte, in deren Dienst ich als zwanzigster Kommis eintrat, eine Stellung, die ich mir gewissermaßen mit dem Gelde meiner eignen Mutter erkaufte. Nun, Herr Richter, die Zinsen, die die Gesellschaft bot, waren so verlockend, daß eine reiche Verwandte von mir sich veranlaßt fand, eine Anzahl von Aktien zu kaufen.«

» Wer veranlaßte Ihre Verwandte dazu, wenn ich mir gestatten darf, danach zu fragen?«

»Ich muß allerdings gestehen,« sagte ich errötend, »daß ich selbst ihr einen Brief schrieb. Aber bedenken Sie, meine Verwandte war sechzig Jahr alt und ich einundzwanzig. Meine Verwandte nahm sich mehrere Monate Bedenkzeit und beriet sich mit ihren Sachwaltern, ehe sie auf meinen Vorschlag einging. Ueberdies schrieb ich auf Geheiß des Herrn Brough, der mir den Brief in die Feder diktierte und den ich damals wirklich für ebenso reich hielt, wie Rothschild selbst.«

»Ihre Verwandte legte das Geld in Ihrem Namen an, und Sie, wenn ich mich nicht irre, Herr Titmarsh, übersprangen plötzlich zum Lohn für Ihre in dieser Sache geleisteten Dienste, auf einmal zwölf Ihrer Kollegen im Kontor?«

»Das ist allerdings wahr, Herr Richter,« – und bei diesem Geständnis fing meine arme Mary an, sich die Augen zu wischen, und Gus' Ohren (sein Gesicht konnte ich nicht sehen) sahen aus wie zwei rotglühende Eisen – »das ist allerdings wahr, und, nachdem die Dinge diese Wendung genommen, tut mir das herzlich leid, daß ich es annahm. Aber damals glaubte ich meiner Tante ebenso gute Dienste leisten zu können, wie mir selbst, und Sie müssen doch bedenken, wie hoch unsre Aktien damals standen.«

»Gut, Herr Titmarsh, nachdem Sie also Herrn Brough diese Geldsumme verschafft hatten, wurden Sie sofort in sein Vertrauen gezogen. Sie wurden in seinem Hause empfangen und stiegen sehr schnell vom dritten zum ersten Kommis auf, in welcher Stellung Sie sich beim Verschwinden Ihres würdigen Prinzipals noch befanden?«

»Herr Richter, Sie haben sicherlich kein Recht, mich so zu befragen, aber da hier Hunderte unsrer Aktionäre anwesend sind, so bin ich willens, offen und frei von der Leber weg zu sprechen,« sagte ich, und drückte dabei Marys Hand. »Gewiß, ich war erster Kommis. Aber warum? Weil die andern Herren ihre Stellungen verließen. Gewiß bin ich in Herrn Broughs Haus geladen worden. Aber warum? Weil meine Tante noch mehr Geld anzulegen hatte. Ich sehe das jetzt alles klar, aber damals konnte ich es noch nicht verstehen, und daß Herr Brough das Geld meiner Tante, aber nicht mich brauchte, geht daraus klar hervor, daß unser Direktor, als sie nach London zog, sie beinahe mit Gewalt aus meinem Hause nach Fulham brachte und niemals auch nur daran dachte, mich oder meine Frau dorthin einzuladen. Sicherlich würde es ihm damals auch gelungen sein, sich den Rest ihres Vermögens anzueignen, wenn nicht ihr Anwalt aus der Heimat sie davon abgehalten hätte. Ehe aber noch die Gesellschaft zusammenbrach, und sobald sie hörte, daß leise Zweifel an derselben auftauchten, zog sie ihre Aktien zurück – die Papiere lauteten, wie Sie wissen, auf den Inhaber, Herr Richter – und sie hat dann darüber nach Gutdünken verfügt. Das, meine Herren Richter, ist die ganze Geschichte, soweit sie mich betrifft,« sagte ich. »Meine Mutter legte, um ihrem einzigen Sohn die Mittel zum Lebensunterhalt zu verschaffen, das wenige, was sie besaß, bei der Gesellschaft an – es ist verloren. Meine Tante beteiligte sich mit größeren Summen, die mir eines Tages zufallen sollten, und sie sind ebenfalls verloren, und hier stehe ich selbst, nach vierjähriger Arbeit, ein schmachbedeckter und ruinierter Mann. Befindet sich unter denen, die hier sind, mögen sie durch das Fallissement der Gesellschaft auch noch so großen Schaden erlitten haben, auch nur einer, dessen Mißgeschick sich mit dem meinen vergleichen ließe?«

»Herr Titmarsh,« sagte der Richter, um vieles freundlicher, und dabei warf er zugleich dem nahesitzenden Zeitungsberichterstatter einen Blick zu, »was Sie uns da erzählt haben, wird wahrscheinlich nicht in die Blätter kommen, denn, wie Sie ganz richtig sagen, sind es Privatangelegenheiten, über die Sie, wenn Sie nicht gewollt hätten, keine Auskunft zu geben brauchten; wir fassen die Sache als vertrauliche Mitteilung für uns und die andern Herren hier auf. Aber wenn Sie diese Dinge veröffentlichen wollten, so könnten sie vielleicht etwas Gutes wirken und zur Warnung für solche dienen, die sich warnen lassen wollen: zur Warnung vor so törichten Unternehmungen, wie die, an der Sie beteiligt waren. Es geht aus Ihrer Erzählung ganz klar hervor, daß Sie ebenso gröblich betrogen worden sind, wie nur irgendeiner der Anwesenden. Aber sehen Sie, wenn Sie nicht so eifrig hinter dem Gewinn her gewesen wären, so meine ich, hätten Sie sich wohl auch nicht so täuschen lassen, und Ihre Verwandten hätten ihr Geld nicht verloren, und Sie hätten es später mal geerbt, wie Sie sagen. Sowie die Leute hoffen, hohe Zinsen zu bekommen, scheint ihr Urteilsvermögen sie zu verlassen, und weil sie Vorteil haben möchten, so glauben sie auch, dessen ganz sicher zu sein, und verachten alle Warnungen und alle Vorsicht. Neben den Hunderten von rechtschaffenen Familien, die zugrunde gegangen sind, nur weil sie Ihrer Gesellschaft Vertrauen schenkten, und die das herzlichste Mitgefühl verdienen, gibt es andre Hunderte, die sich ihr gleich Ihnen angeschlossen haben, nur um zu spekulieren, und diese, auf mein Wort, verdienen das Schicksal, das sie betroffen hat. Solange Dividenden gezahlt wurden, fragte man nach weiter nichts, und Herr Brough hätte sich das Geld für seine Aktionäre durch Straßenraub verschaffen können, sie hätten es ohne jedes Bedenken eingestrichen. Aber was nützt alles Reden?« fuhr der Richter voll Unwillen fort: »Hier wird ein Schurke entlarvt, und Tausende sind betrogen, und wenn morgen ein andrer Schwindler auftaucht, so werden binnen Jahr und Tag noch tausend mehr seiner Opfer um diesen Tisch stehen, und so, glaube ich, wird's fortgehen bis ans Ende. Aber nun wollen wir zu unsrer Aufgabe zurückkehren, meine Herren, und entschuldigen Sie diese Predigt.«

Nachdem ich alles ausgesagt hatte, was ich wußte, und was übrigens recht wenig war, wurden andre an der Sache Beteiligte vernommen, und ich ging mit meiner armen kleinen Frau am Arm ins Gefängnis zurück. Wir mußten unsern Weg durch die im Saal versammelte Menge nehmen, und das Herz blutete mir, als ich unter vielen andern den armen Gates, Broughs Portier, erblickte, der seinem Herrn den letzten Schilling gebracht hatte und nun, mit zehn Kindern, auf seine alten Tage ohne Obdach und ohne einen Heller Geld dastand. Kapitän Sparr stand in seiner Nähe, war aber keineswegs so freundlich gesinnt, denn während Gates seinen Hut vor mir wie vor einem Lord zog, kam der kleine Kapitän, drohend seinen Bambusstock schwingend, auf mich zu und beschwor mit den fürchterlichsten Eiden, ich sei Broughs Helfershelfer.

»Verfluchter glattgesichtiger Schurke!« rief er. »Welches Recht habt Ihr, einen englischen Gentleman, wie mich, zugrunde zu richten?« Und wieder drang er mit seinem Stock auf mich ein. Aber dieses Mal, obwohl er Offizier war, nahm ihn Gus beim Kragen, schob ihn zurück und sagte:

»Sehen Sie doch die Dame an, Sie Tölpel, und halten Sie das Maul!« Und als Kapitän Sparr bemerkte, in welchem Zustand meine Frau sich befand, wurde er noch röter vor Scham, als er erst vor Aerger gewesen war. »Es tut mir leid, daß sie an solchen Taugenichts verheiratet ist,« murmelte er und zog sich zurück; und meine arme Frau und ich verließen den Gerichtshof und gingen in unser trübseliges Gefängniszimmer zurück.

Das war ein gar trauriger Ort, um ein zartes Wesen wie Mary zu beherbergen, und ich sehnte mich danach, daß eine meiner Verwandten in ihrer schweren Stunde bei ihr wäre. Aber ihre Großmutter konnte den alten Leutnant nicht verlassen, und meine Mutter hatte geschrieben, da Frau Hoggarty bei uns sei, möchte sie lieber zu Hause bei ihren Kindern bleiben.

»Welches Glück ist es doch für euch in allem Unglück,« fuhr die gute Seele fort, »daß ihr die Börse eurer großmütigen Tante zur Hilfe habt!« Eine schöne offne Börse, die meiner Tante, wahrhaftig! Wo mochte aber Frau Hoggarty sein? Aus meiner Mutter Brief ging augenscheinlich hervor, daß sie weder an ihre Freunde daheim geschrieben noch, wie sie angedroht hatte, nach Sommersetshire zurückgekehrt war.

Da aber meine Mutter durch mein Unglück schon soviel Geld verloren hatte und mit ihrem kleinen Einkommen schon genug zu tun hatte, meine Schwestern zu erhalten, und da sie, wenn sie von meiner Lage gehört hätte, fraglos ihr letztes Kleid verkauft haben würde, um mir Hilfe zu bringen, so kamen Mary und ich überein, daß wir sie unsre wirkliche Lage, die wirklich schlimm genug war, nicht wissen lassen wollten. Der Himmel weiß es, wie trübe und trostlos sie war! Der alte Leutnant Smith hatte ebenfalls nichts auf der Welt, als seinen Halbsold und seine Gicht, und so waren wir in der Tat ganz freund- und hilflos.

Diese Spanne meines Lebens und das fürchterliche Gefängnis erscheinen mir jetzt wie Erinnerungen aus Fieberträumen. Welch ein entsetzlicher Ort! – Und seltsamerweise erschien er mir so, weniger durch seine Traurigkeit, als durch seine Heiterkeit, denn die langen Gefängniskorridore waren, soviel ich mich erinnere, voll von Leben und stets ein Schauplatz reger Betriebsamkeit. Den ganzen Tag und die ganze Nacht wurden Türen auf- und zugeschlagen, man hörte laute Stimmen, Flüche, Schritte und Gelächter. Neben unserem Zimmer war ein Mann, der Gin, sogenannten »blauen Zwirn«, verkaufte, und in diesem Zimmer hielten sie von früh bis in die Nacht schreckliche Gelage und sangen – teils schlimme Lieder, – die aber mein liebes kleines Weibchen Gott sei Dank zum größten Teile nicht verstehen konnte. Sie pflegte niemals vor Einbruch der Dämmerung auszugehen und saß den lieben langen Tag und arbeitete an einer kleinen Aussteuer von Mützen und Jäckchen für den erwarteten kleinen Fremdling – und hat sich, wie sie noch heute behauptet, dabei nicht unglücklich gefühlt. Aber die Gefängnisluft machte sie, die an die freie Landluft gewöhnt gewesen war, kränklich, und sie wurde täglich blasser und blasser.

Unserm Fenster gegenüber lag der Turnplatz und Spaziergang des Gefängnisses, und hier pflegte ich, anfangs sehr widerwillig, aber später, wie ich zugestehen muß, mit großem Eifer, täglich einige Stunden mit Leibesübungen zu verbringen. Ach! Das war ein seltsamer Ort. Auch da gab es, wie überall, eine Aristokratie. Da war unter den andern der Sohn von Mylord Deuceace, und gar viele von den Gefangenen waren so beflissen, sich ihm zu nähern, und sprachen so bekannt von seiner Familie, als ob sie selber echte Bond-Street-Stutzer gewesen wären. Besonders der arme Tidd gehörte zu diesen. Von seinem ganzen Vermögen hatte er nichts gerettet als ein Toilettenecessaire und einen geblümten Schlafrock, und zu diesen Besitztümern kam noch ein schöner Schnurrbart, auf den der arme Kerl sehr stolz war, und obgleich er sein Mißgeschick verfluchte, war er, glaube ich, wenn seine Freunde ihm dann und wann eine Guinee brachten, ebenso glücklich, wie er während seiner kurzen Laufbahn als Londoner Lebemann gewesen war. Ich habe in Badeorten Stutzer umherschlendern und jede Frau beäugeln, Dampfboote und Postkutschen so eifrig erwarten, als ob ihr Leben davon abhinge, und den ganzen Tag in kurzem Jackett auf den Promenadenwegen hin und her spazieren sehen. Nun, solche Burschen gibt es auch im Gefängnisse, ebenso stutzerhaft und albern, nur ein klein bißchen schäbiger – Dandys mit unsauberen Bärten und Löchern in den Aermeln.

Auf die sogenannte »Armenseite« des Gefängnisses bin ich nicht gegangen – ja, wirklich, ich wagte es nicht. Aber unser kleiner Geldvorrat schmolz immer mehr zusammen, und mein Herz drehte sich in mir um, bei dem Gedanken an das Schicksal, das mein liebes Weib erwartete, und an das Lager, auf dem unser Kind das Licht der Welt erblicken würde. Aber der Himmel ersparte mir diese Qual, – der Himmel und mein lieber guter Freund Gus Hoskins.

Die Sachwalter, an die Herr Smithers mich empfohlen hatte, sagten mir, ich könnte im Bezirk des Fleetgefängnisses wohnen, wenn ich dem Gefängnisdirektor für die Summe, derentwegen ich mich in Haft befand, einen Bürgen stellen könnte; aber obwohl ich Herrn Blatherwick scharf dabei ansah, so bot er mir die Bürgschaft nicht an, und ich kannte keinen Menschen in London, der sie hatte leisten können. Und doch gab es einen solchen – einen, den ich nur nicht kannte –, und das war der alte Herr Hoskins, der Lederhändler aus der Skinner Street, ein guter, dicker Mann, der seine dicke Frau mitbrachte, um meiner Frau einen Besuch zu machen; und obwohl die Dame eine etwas gönnerhafte Miene aufsetzte (ihr Gatte, der ein großer Mann in seiner Gilde war, konnte ja leicht Aeltermann, ja Lordmajor der ersten Stadt der Welt werden), so schien sie doch herzliche Teilnahme für unser Schicksal zu empfinden, und ihr Mann bemühte sich ernstlich und eifrig, bis die erbetene Erlaubnis gewährt und uns eine verhältnismäßige Freiheit gestattet wurde.

Die neue Wohnung, nun, die war bald gefunden. Meine frühere Wirtin, Frau Stokes, schickte ihre Jemima zu uns und ließ sagen, ihr erster Stock stände zu unsrer Verfügung, und als wir ihn in Besitz genommen und ich Frau Stokes am Ende der Woche ihre Miete bezahlen wollte, sagte die gute Seele mir mit Thränen in den Augen, sie brauche das Geld vorläufig nicht und wisse, daß ich jetzt mit dem, was ich hätte, genug Ausgaben zu bestreiten hätte. Ich lehnte ihre Güte nicht ab, denn ich besaß in der Tat alles in allem bloß noch fünf Guineen und hätte eigentlich eine so teure Wohnung wie diese gar nicht nehmen dürfen. Aber die Entbindung meiner Frau stand ganz nahe bevor, und ich vermochte den Gedanken nicht zu ertragen, daß es ihr in ihrer schweren Stunde an irgendeiner Bequemlichkeit fehlen sollte.

Das bewundernswerte Frauchen, dem die Fräulein Hoskins täglich einen Besuch machten, – sehr hübsche liebenswürdige Mädchen waren es – gewann nun ihre Gesundheit zum guten Teil wieder, wo sie aus dem schrecklichen Gefängnis heraus war und sich täglich Bewegung machen konnte. Wie heiter spazierten wir in Bridge Street und auf dem Chathamplatz herum – und doch war ich in Wirklichkeit ein Bettler und schämte mich zuweilen geradezu, daß ich mich so glücklich fühlen konnte.

Wegen meiner Verantwortlichkeit für unsre Gesellschaft war mein Gemüt jetzt ganz ruhig geworden; denn die Gläubiger konnten sich mit ihren Ansprüchen nur an unsre Direktoren halten, und diese waren schwer aufzufinden. Herr Brough befand sich jenseits des Wassers, und zur Ehrenrettung dieses Gentleman muß ich hinzufügen, daß er, während jedermann dachte, er sei mit Hunderttausenden von Pfunden durchgebrannt, in Boulogne in einer Dachkammer hauste, mit kaum einem Schilling in seiner Tasche, und sein Glück aufs neue versuchte. Seine Frau blieb als gutes, braves Weib ihm treu und nahm nichts aus Fulham mit, als das Kleid, welches sie trug, und Fräulein Belinda war nicht besser daran; sie murrte freilich gegen das Schicksal und war sehr übler Laune. Was die andern Direktoren betrifft, so forschte man in Edinburgh nach einem gewissen Mull W. S., und es ergab sich, daß ein Herr dieses Namens allerdings dort gewohnt, der bis 1800 mit gutem Erfolge praktiziert, von dort aber sich nach der Insel Sky zurückgezogen hatte, und daß auf Befragen dieser Mann von der West-Diddlesexgesellschaft nicht mehr wußte, als Königin Annas General Sir Dionysius. O'Halloran hatte Dublin plötzlich verlassen und war nach der Republik Guatemala zurückgekehrt. Herr Shirk erklärte sich bankerott. Herr Macraw, Parlamentsmitglied und Advokat, besaß außer den Honoraren für Besorgung unsrer Gesellschaftsgeschäfte keinen Heller Einnahme, und der einzige Mann, den man fassen konnte, war Herr Manstraw, der für einen reichen Marinelieferanten zu Shatham gegolten hatte. Er erwies sich aber als ein kleiner Händler mit Schiffsproviant, und sein ganzes Warenlager war keine 10 Pfund wert. Herr Abednego war der andre Direktor, und wir haben ja schon gesehen, wie mit dem die Sache verlief.

»Nun, da von seiten der West-Diddlesex keine Gefahr mehr ist,« sagte eines Tags Herr Hoskins sen., »so könnten Sie sich vielleicht danach umtun, ein Abkommen mit Ihren Gläubigern zu treffen, und wer wäre wohl mehr geeignet, günstige Resultate bei ihnen zu erzielen, als unsre liebenswürdige Frau Titmarsh hier, deren sanfte Augen das hartherzigste Schneider- oder Putzmachergemüt besänftigen müssen.«

Diesem Vorschlag gemäß drückte an einem hellen Februartage mein geliebtes Weibchen mir die Hand, bat mich, guten Mutes zu sein, und setzte sich mit Gus in einen Wagen, um den betreffenden Persönlichkeiten ihre Aufwartung zu machen. Ein Jahr vorher hätte ich es kaum ausdenken können, daß die Tochter des tapfern Smith je gezwungen sein würde, als Bittstellerin vor Schneidern und Putzhändlern zu erscheinen; sie aber, Gott segne sie, fühlte die Scham nicht, die mich zu Boden drückte, oder tat wenigstens so und machte sich furchtlos auf ihren Botengang.

Am Abend kehrte sie zurück, und mein Herz klopfte vor Erwartung, die Nachrichten, die sie brächte, zu hören. Ich sah ihr am Gesicht an, daß sie schlimm waren, denn sie sagte erst eine ganze Weile kein Wort, sah aber totenbleich aus und weinte, als sie mich küßte. »Erzählen Sie, Herr Augustus,« sagte sie endlich schluchzend; und so berichtete Gus mir die näheren Umstände dieses traurigen Tages.

»Was meinen Sie, Sam?« begann er, »dieses Ungeheuer von Ihrer Tante, auf deren Veranlassung, ja Befehl, Sie die Sachen nahmen, hat an die betreffenden Geschäftsleute geschrieben, Sie seien ein Schwindler und Betrüger, Sie gäben nur vor, daß sie die Sachen bestellt hätte; sie aber sei bereit, auf der Stelle tot niederzufallen und könne auf die Bibel beschwören, daß sie nie so etwas gesagt habe, und daß man sich wegen der Bezahlung allein an Sie halten müsse. Kein einziger von ihnen wollte etwas von Warten hören, und dieser Mantalini, der Halunke, war so unverschämt, daß ich ihm eine Backfeige gab und ihn halbtot geschlagen hätte, wenn nicht die arme Mary – Frau Titmarsh wollte ich sagen – geschrien hätte und in Ohnmacht gefallen wäre; und so brachte ich sie fort, und hier ist sie, so elend wie man nur sein kann.«

In derselben Nacht mußte der unermüdliche Gus Hals über Kopf zu Doktor Salts laufen, und am nächsten Morgen wurde uns ein Knäblein geboren. Ich wußte nicht, ob ich traurig oder glücklich sein sollte, als man mir das kleine, schwächliche Geschöpf zeigte, aber Mary erklärte, sie sei die allerglücklichste Frau auf Erden, und vergaß all ihre Sorgen um die Pflege des armen Kleinchens; sie ertrug alles tapfer und beteuerte, es sei das schönste Kind der Welt, und wenn Lady Tiptoff, deren Niederkunft, wie wir in der Zeitung lasen, am selben Tage stattgefunden hatte, ein seidenes Bett hätte und ein schönes Haus am Grosvenor Square, so könnte sie doch nie, niemals solch schönes Kind haben, wie unsern lieben kleinen Gus – denn nach wem sonst hätten wir den Knaben nennen sollen, als nach unserm guten, lieben Freunde? Wir hatten keine Taufgesellschaft, und ich kann versichern, wir tranken unsern Tee sehr vergnügt.

Die Mutter befand sich, Gott sei Dank, recht wohl, und es tat dem Herzen wohl, sie in der Stellung zu sehen, in der, wie ich glaube, jedes Weib, auch das allerhäßlichste, schön aussieht – mit ihrem Kinde an der Brust. Das Kind war schwächlich, aber sie sah es nicht, wir waren sehr arm, aber was machte ihr das? Sie hatte keine Zeit, sich zu sorgen, wie ich; ich aber hatte jetzt meine letzte Guinee in der Tasche, und wenn sie ausgegeben war – ach! mein Herz drehte sich bei dem Gedanken um, was dann kommen würde, und ich betete um Kraft und Beistand von oben, und inmitten all meiner Trübsal fühlte ich mich doch dankbar, daß die Gefahr der Niederkunft überstanden und daß meine liebe Frau der Armut, die uns drohte, wenigstens kräftig und gesund entgegenging.

Ich sagte Frau Stokes, wir müßten ein billigeres Zimmer nehmen – eine Dachstube, die nur wenige Schillinge kosten dürfte; und obgleich die gute Frau mich bat, in unseren Zimmern wohnen zu bleiben, hatte ich jetzt, da meine Frau gesund war, die Empfindung, daß es ein Unrecht wäre, meine gütige Wirtin des größten Teiles ihrer Unterhaltsmittel zu berauben, und schließlich versprach sie mir, eine Dachstube, wie ich sie verlangte, so behaglich wie möglich herzurichten, und die kleine Jemima erklärte, sie werde über alle Maßen glücklich sein, Mutter und Kind zu bedienen.

Das Zimmer wurde also zurechtgemacht, und obgleich ich doch Anstand nahm, Mary all zu plötzlich von der neuen Einrichtung in Kenntnis zu setzen, so brauchte ich doch nichts zu verheimlichen oder zu umschreiben; denn als ich es ihr endlich sagte, meinte sie nur – »Ist das alles?«, drückte mir mit ihrem himmlischen Lächeln die Hand und versprach mir, sie und Jemima wollten das Kämmerchen so zierlich und nett wie möglich halten. »Und ich werde dir dein Mittagessen selber kochen,« fügte sie hinzu, »denn du weißt, du sagtest einmal, ich könnte die besten Puddings von der Welt machen.« Gott segne sie! Ich glaube, daß manche Frauen die Armut beinahe lieben; aber freilich sagte ich Mary nicht, wie arm ich war; sie hatte auch keine Ahnung, wie die Kosten für die Advokaten, den Gefängnisaufenthalt und die Doktoren die Geldsumme verkleinert hatten, die sie mir mitbrachte, als wir ins Fleetgefängnis gingen.

Indessen sollte sie mit ihrem Kinde die kleine Dachstube nicht bewohnen. Am Montag früh wollten wir unsre Zimmer verlassen, aber am Samstag abend wurde das Kind von Krämpfen befallen, und den ganzen Sonntag über wachte und betete die junge Mutter an seinem Lager, aber es gefiel Gott, das unschuldige Kind von uns zu nehmen, und am Sonntag gegen Mitternacht lag eine kleine Leiche an der Mutter Brust. Amen! Wir sind jetzt von andren glücklichen und gesunden Kindern umringt, und im Herzen des Vaters ist die Erinnerung an das kleine Wesen beinahe erloschen, aber ich glaube, die Mutter denkt jeden Tag ihres Lebens noch an ihr Erstgeborenes, das sie nur so kurze Zeit besitzen durfte, und oft, oft hat sie ihre Töchter zu dem Gräbchen nach dem St. Brideskirchhof geführt, wo es begraben liegt, und noch jetzt trägt sie auf der Brust ein winziges, winziges Goldlöckchen, das sie vom Köpfchen des Kindes nahm, als es lächelnd in seinem Sarge lag. Es ist mir geschehen, daß ich des Kindes Geburtstag vergessen hatte, ihr aber geschah es nie, und oft, im gleichgültigen Gespräch, zeigt mir ein Etwas, daß sie noch immer an das Kind denkt, – irgendeine einfache Anspielung, die etwas unaussprechlich Rührendes für mich hat.

Ich werde nicht versuchen, ihren Schmerz zu beschreiben, denn solche Dinge sind heilig und würden durch Worte entweiht werden, und es steht mir nicht zu, sie für jedermann aufs Papier zu bringen. Vielleicht hätte ich überhaupt den Verlust des Kindes nicht erwähnt, wenn uns nicht aus diesem Verlust ein großer materieller Segen erwachsen wäre, wie meine Frau seitdem oft mit Tränen des Dankes anerkannt hat.

Während Mary an der Leiche ihres Kindes weinte, war ich, wie ich zu meiner Beschämung gestehen muß, durch andere Empfindungen, von denen des Schmerzes um seinen Verlust abgezogen, ich habe seitdem oft gedacht, was doch für ein Meister – nein Zerstörer – der Gefühle der Mangel ist, und aus Erfahrung gelernt, fürs tägliche Brot dankbar zu sein. Das Bekenntnis der Schwäche, das wir ablegen, indem wir bitten, vor Hunger und Versuchung bewahrt zu werden, ist sicherlich sehr weise in unser tägliches Gebet eingefügt worden. Denkt daran, ihr Reichen! und seht euch vor, ehe ihr einem Bettler die Tür weist!

Das Kind lag mit einem süßen Lächeln auf dem Gesichtchen in seiner Korbwiege (ich meine, die Engel im Himmel selbst müssen sich dieses unschuldvollen Lächelns gefreut haben, als sie es unter sich aufnahmen); und am andern Morgen, als meine Frau sich ein wenig niedergelegt hatte und ich die Totenwacht hielt, überdachte ich die Lage der Eltern dieses Kindchens und überdachte, ich kann nicht beschreiben, mit welcher Qual, daß ich nicht einmal so viel hatte, um die kleine Leiche begraben zu lassen, und weinte bittere Tränen der Verzweiflung. Jetzt endlich, einer solchen heiligen Notwendigkeit gegenüber, hielt ich es für geboten, mich an meine arme gute Mutter zu wenden; ich nahm also ein Blatt Papier zur Hand und schrieb ihr, neben dem toten Kinde sitzend, einen Brief, worin ich unsere Lage schilderte. Aber Gott sei Dank schickte ich diesen Brief niemals ab, denn als ich an das Pult trat, um Siegellack zu nehmen und den Trauerbrief zu siegeln, fielen meine Augen auf die Diamantnadel, die ich ganz vergessen hatte, und die im Schubkästchen des Pultes lag.

Ich warf einen Blick ins Schlafzimmer – meine arme Frau schlief; sie hatte drei Tage und drei Nächte hintereinander gewacht und war vor reiner Ermattung eingeschlummert, und ich lief mit dem Diamanten zu einem Pfandleiher und bekam sieben Guineen dafür, und als ich wiederkam, legte ich das Geld in die Hände der Wirtin und bat sie, das Nötige davon zu besorgen. Meine Frau schlief noch, als ich zurückkehrte, und als sie erwachte, überredeten wir sie, in Frau Stokes Zimmer hinunterzugehen, und währenddessen wurden die nötigsten Vorbereitungen gemacht und das arme Geschöpfchen in seinen Sarg gelegt.

Am nächsten Tage, nachdem alles vorüber war, gab Frau Stokes mir drei von den sieben Guineen zurück; und da konnte ich nicht umhin, ihr meine Befürchtungen und Kümmernisse zu klagen; ich sagte ihr, das sei das letzte Geld, das ich besäße, und wenn das ausgegeben sei, so wüßte ich nicht, was aus der besten Frau, mit der jemals ein Mann beglückt worden sei, werden sollte.

Meine Frau war unten bei der Wirtin. Der gute Gus, der bei mir geblieben und nicht weniger erschüttert war, als wir andern, nahm mich beim Arm und führte mich die Treppe hinunter; und wir vergaßen ganz und gar, daß ich den Gefängnisbezirk nicht verlassen durfte, und machten einen langen Spaziergang über Blackfriars Bridge, wobei der gute Junge sich bemühte, mich zu trösten, so gut es ihm möglich war.

Als wir zurückkamen, war es schon Abend. Die erste Person, die mir im Hause begegnete, war meine gute Mutter, die mir unter vielen Tränen in die Arme fiel und mir zärtliche Vorwürfe machte, daß ich ihr meine Not verschwiegen hätte. Sie würde auch niemals etwas davon erfahren haben, sagte sie, aber sie hätte seit meiner Ankündigung von der Geburt des Kindes nichts von mir gehört und ängstigte sich um mein Stillschweigen, und als sie eines Tages Herrn Smithers auf der Straße begegnete, fragte sie ihn nach mir; darauf hatte ihr dieser Herr, nicht ohne einige Verlegenheit, mitgeteilt, er glaube, ihre Schwiegertochter habe ihre Niederkunft in einem recht unbehaglichen Hause abgehalten, Frau Hoggarty habe uns verlassen, und schließlich sagte er ihr, daß ich mich im Gefängnis befinde. Diese Mitteilungen bestimmten meine arme Mutter, sich sofort auf die Reise zu begeben, und sie kam gerade eben vom Gefängnis her, wo sie meine Adresse erfahren hatte.

Ich fragte, ob sie meine Frau schon gesehen und wie sie dieselbe gefunden hätte. Zu meinem großen Erstaunen antwortete sie, Mary sei mit der Wirtin ausgegangen, und es wurde acht – wurde neun Uhr, und noch immer war sie nicht zurück.

Um zehn Uhr kam – nicht meine Frau, sondern Frau Stokes zurück, und mit ihr ein Herr, der mir die Hand schüttelte, als er ins Zimmer trat; er sagte: »Herr Titmarsh, ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern, mein Name ist Tiptoff. Ich bringe Ihnen ein Briefchen von Ihrer Frau und eine Botschaft von meiner Frau, die Ihren Verlust aufrichtig beklagt und Sie bittet, sich über die Abwesenheit Ihrer Frau nicht zu beunruhigen. Diese war so gütig, uns zu versprechen, daß sie diese Nacht bei Lady Tiptoff bleiben wollte, und ich bin überzeugt, Sie werden über ihre Abwesenheit nicht böse sein, wenn Sie erfahren, daß sie eine kranke Mutter und ein krankes Kind pflegt.« Nach ein paar weiteren Worten verließ Mylord uns. Meiner Frau Schreiben besagte nur, daß Frau Stokes mir alles erzählen würde.


 << zurück weiter >>