Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXI.

Marcel Delierre lag im Todesschlummer, hingestreckt mitten in seinem klug und kraftvoll geleiteten Lebenswerk, als Leiche noch achtung­gebietend. Ein treuer Arbeitskamerad hatte soeben die Ehrenwache bei ihm angetreten und lauschte gesenkten Hauptes dem Nachtsang der fernen Wasser. Antoinette hatte sich zurückgezogen. In tiefster Einsamkeit lehnte sie am Fensterpfosten ihres Zimmers. Noch hielt ihre Hand den zerknitterten Briefbogen, auf dem zu lesen stand: «Ich bin deines Blickes nicht mehr wert. Laß einen andern den Freund begraben, dem ich das Beste geraubt. Ich will dort meine Sühne suchen, wo ich mein Unrecht Tat werden ließ. Lebe wohl.»

Das finstere Gewölbe des Leides war über ihrem Haupte geschlossen. Sie begehrte nach keinem Licht mehr, 415 fragte nicht nach dem, was nun noch kommen würde. Daß der Brief einen aufrichtigen Entschluß enthielt, hatte sie mit ihren leiblichen Augen gesehen. Der ihn geschrieben, war vor einer Viertelstunde bergan geschritten, in die Nacht der verlassenen Alpen hinauf.

Lange währte es, bis sie sich wieder bewegte. Lautlos schritt sie hinüber. Unbeweglich stand sie am Lager ihres Lebensgefährten, als suchte sie in den erstarrten Zügen zu lesen. Der Wachende verließ das Zimmer. Als er nach einiger Zeit wieder einen Blick hineinwarf, sah er im flackernden Licht der Kerze Antoinette vor dem Bette knien. Sie legte des Toten Hände, die sie an ihre Lippen gezogen hatte, wieder ineinander. Einen Augenblick noch ließ sie ihren Blick auf dem Entschlafenen ruhen, dann wich sie rückwärts der Türe zu, den Blick starr nach dem fahlen Gesicht gerichtet. Plötzlich war sie verschwunden. Der Wachende trat ein. Er hörte einige rasche Schritte im Nebenzimmer, dann im Korridor, und dann ward es still.

*  *  *

Stiller noch war es droben, auf der Nollenalp, wo nicht einmal mehr das Rieseln der Wasser zu hören war. Über einer zwischen schwarzen Felsmassen ausgespannten, frischen Schneedecke flimmerte in der ver­schwenderischen Pracht des Hochgebirgs­himmels das unabsehbare Heer der Sterne, da und dort von einer 416 Nebelfahne verhüllt, so daß die sichtbaren Sterngruppen noch größer und heller zu flackern schienen.

In dieser Verlassenheit suchte eine mühsam schreitende Frauengestalt die Stufen, welche in langer Reihe den sanftgeneigten Firn durchquerten. Mehrmals sank sie hin. Mit dem Rest ihrer Kraft raffte sie sich immer wieder auf. Wie fern ist doch der erbarmende Tod! Mehr als einmal beschlich sie die Versuchung, sich auf die matt schimmernde Decke hinzulegen und sich dem zu überlassen, der so jäh ihr gefährdetes Glück zerbrochen, noch ehe sie Zeit zu seiner Rettung gefunden. Aber zuvor noch mußte sie wissen, durch welche Pforte ihr Freund in die Vergessenheit gegangen. — Plötzlich sah sie in der Ferne ein mattes Lichtlein. Das konnte kein Stern sein, es lag zu tief. Ob er in der Hütte geblieben? — Die Möglichkeit, ihn lebend zu finden, spornte ihre schwindende Kraft.

Bald darauf war Heinz, er höre Tritte auf dem Geröll vor der Hütte. — Im ausflutenden Lichtschein sank, dicht vor der aufgerissenen Türe, Antoinette auf die rohbehauenen Steinplatten. Ein Schrei der Erlösung entrang sich der Brust des Entflohenen. Rasch hob er die Erschöpfte in seine Arme und trug sie in die Hütte.

Auf die Pritsche hingestreckt, hauchte sie: «Heinz... Heinz, nimm mich mit. Ich ertrage es nicht.»

«Nein,» sagte er sanft, doch sicher. «Wir kehren an der Schwelle um.»

Ihre Augen weiteten sich zu staunender Frage.

417 «Ich habe den Tod gesucht und habe das Leben gefunden,» fuhr Heinz fort. «Auf dem Wege zu den unergründlichen blauen Tiefen ist mir meine Mutter begegnet.»

«Deine Mutter?»

«Die Sterne, die herrlichen, haben nicht abgelassen, meine Blicke auf sich zu ziehen. Da ist ein Abend aus der schlummernden Tiefe meines Gedächtnisses heraufgezogen, jener Abend, der uns zusammengeführt. Da haben die Sterne auch so wundervoll geschienen, und der Mutter Freude darüber ist mir in der Seele geblieben.»

«Heinz!»

«Erinnerst du dich des Abends, da sie im Schlosse das Lied gesungen haben von den goldenen Gassen, das seltsame? Mein Leben lang hat es in mir fortgeklungen. Aber das Brausen der Welt hat es übertönt. Jetzt erst, in dieser heiligen Stille, ist es wieder laut geworden und klingt, klingt... Antoinette, hörst du es nicht? Ich muß dir’s sagen, was ich höre, muß dir zeigen, was mir aufgegangen.»

Antoinette blickte starr nach der Glutpforte des kleinen Hüttenherdes. Erschauernd sagte sie tonlos vor sich her: «Ich höre nur Seufzen, Stöhnen, Röcheln.»

Heinz legte ihr eine Wolldecke um die zitternden Schultern und schob Holz in den Ofen. Dann setzte er sich neben Antoinette, die, an einen Pfosten gelehnt, unverwandt in das aufprasselnde Feuer blickte.

418 «Ich weiß jetzt, was uns irregeführt hat, es ist der Irrtum aller Menschen und die Wurzel all unserer Not. Wir haben das Sehnen unsrer Herzen nicht verstanden, wir sind ihm nicht gefolgt in die goldnen Gassen der Stadt Gottes. Denn, weißt du, dorthin zieht die Sehnsucht, die aller Menschen treibende Kraft ist. Und weil sie ihr Gewalt antun und ihr Verwesliches in den Weg legen, geraten sie wider einander in Neid und Streit.»

«Ach, Heinz, das törichte Sehnen nach dem ewig Unerreichbaren, das uns quält und martert, weil unsre Füße doch nie hinüberkommen.»

«Die Stadt Gottes schwebt nicht auf flüchtigen Wolken, nicht in blauer Zukunft, sie ragt mit all ihrer Herrlichkeit herein in unser armes vergängliches Leben. Wir stehen vor ihren Pforten und wagen nur nicht hineinzugehen, weil uns Toren vor ihrer Reinheit graut und weil wir uns nicht entschließen können, die Lumpen abzuwerfen, mit denen wir das Göttliche in uns vermummen.»

«Laß doch die unmöglichen, unverständlichen Wahngebilde denen, welche sie in Verzückung des Geistes gesehen zu haben wähnten. Ich habe es, wenn ich ehrlich sein will, nie verstanden und werde es nie verstehen. Wie sollen wir uns nur eine Stadt vorstellen, die gleich hoch, wie lang und breit ist?»

«Das ist bloß der Ausdruck für die Vollkommenheit ihres Baues. Aber laß die Bilder, die für den 419 gemalt sind, der nur nach der Weise leiblicher Augen zu schauen vermag. Es heißt, die Gassen der ewigen Stadt Gottes seien von lauterem Golde wie ein durchscheinend Glas. Das will doch nichts anderes sagen, als daß die Menschen und ihr Wandel lauter sein sollen. Die Gassen sind doch nur das Sinnbild des Verkehrs. Nun denke dir eine Welt, in der alles Tun und Lassen, Böses und Gutes in durchsichtiger Wahrheit geschieht! Ist das nicht allein schon einer brennenden Sehnsucht wert? Nur unerkannt vermag das Böse die Menschen zu bändigen.»

«Blick einmal zurück auf unser Leben, wie es verlaufen ist und wie es geworden wäre, wenn wir es in Lauterkeit gelebt hätten. Wäre mein Vater so tief zu Fall gekommen, wenn er gegen sich und andere lauter geblieben wäre? Hätte ich meine Mission an den Arbeitern verleugnet, hätte ich dein Glück zerstört, wenn meine Seele lauter geblieben wäre? Ich habe den goldnen Gassen, in die ich andere weisen wollte, selber den Rücken gekehrt. Wäre ich lauter gewesen, gegen mich und andere, wie meine Mutter es gewesen ist, nie hätte ich solches Unheil heraufbeschworen. Sieh, das ist es ja, warum die ewige Stadt keinen Tempel und kein Licht, weder Sonne noch Mond braucht. Gott wohnt in den lautern Menschen. Er ist die Wahrheit ihres Wesens und Wandels. Darum sind dort die Kleinen groß, und es bedarf keiner Fixsterne noch Trabanten. Glücklich, wem die Augen aufgegangen sind! Der sieht, 420 daß diese Welt des Verderbens schon von goldnen Gassen durchzogen ist. Er hält sich zu den Kleinen und Niedrigen, in denen kein Falsch ist.»

«Heinz, Heinz! Wir aber sind verdorben und liegen im Elend vor den Toren. Wer gibt uns die goldene Lauterkeit wieder?»

«Vergiß nicht. Zwölf Tore sinds, nach jeder Himmelsrichtung drei. In heiliger Zahl stehen sie allen Völkern und Richtungen offen. Sie stehen ununterbrochen offen allen, die Verlangen nach den goldnen Gassen tragen. Aber siehe, wie fein! Ein jeglich Tor besteht aus einer einzigen Perle. Was sind die Perlen? Das schmerzgeborne Erzeugnis einer Wunde des Muscheltieres, das in der dunklen Tiefe lebt, das edle reine, sanft schimmernde Erzeugnis eines Herzeleides. Selig sind die Zerbrochenen, denn sie werden vollkommen sein in der Stadt Gottes.»

«Heinz, Heinz! Führe mich durch das Tor meines Schmerzes.» Antoinette lehnte ihr Haupt an des Freundes Schulter. Tränen lösten sich labend aus ihren brennenden Augen und glitzerten über Heinzens Kleid nieder. «Warum mußten wir in die Irre gehn, Heinz? Wir hatten uns doch auf das Gute verbunden.»

«Weil wir uns nicht im Spiegel der göttlichen Lauterkeit prüften. Die sich im Verweslichen suchen, finden sich im Verderben. Wir meinten das Gute zu wollen, aber wir wandelten nicht in goldenen Gassen. Nun die Schranke gefallen ist, die uns trennte, solange wir im Verweslichen uns suchten, laß uns aufeinander 421 verzichten, damit unsre Irrfahrt gesühnt sei. Getrennt, werden wir doch ewig eins sein, wie alle, die in goldnen Gassen wandeln.»

«Ewig eins.» Antoinette hüllte sich tiefer ein. Sie erschauerte trotz des Feuers. Aber aus ihren Augen leuchtete neues Leben.

«Brechen wir auf!» sagte Heinz, die Glut des Ofens löschend. «Noch haben wir ein gefährlich Stück Weges durch die Nacht. Aber der Tag soll uns bei der Pflicht finden. Du, gehe hin und gib der Erde, was von ihr genommen ist. Hinfür aber laß uns in Lauterkeit die Liebe Gottes kundtun. — Ich weiß nun auch, was ich denen zu sagen habe, die mir anvertraut sind. Nicht mehr Kampf um Brot, Recht und Freiheit ist meine Losung, sondern offene Bahn zum Leben in goldenen Gassen.»

«Laß mich’s noch einmal hören, das Lied, damit es mir fortklinge als der Nachhall unserer zerbrochenen Liebe!»

Leise hub Heinz vor dem Abmarsch zu singen an, und bald klang es zweistimmig über das nächtliche Firnfeld:

Ich bin zufrieden.
Daß ich die Stadt gesehn,
Und ohn’ Ermüden
Will ich ihr näher gehn
Und ihre hellen, gold’nen Gassen
Lebenslang nicht aus den Augen lassen.

422 Der Himmel lichtete sich kaum merklich über den dunklen Zinnen der gegenüber­liegenden Berge, und im Rauschen der Bäche schlummerte das Tal mit all seinem Leid, als Heinz sich von Antoinette verabschiedete. Er wandte sich talwärts, seinen Vater zu suchen.

Noch lag Morgenfrische auf Fels und Busch, als er nach mehrstündigem Marsch den Rücken des Bolgen erreichte. — Wie staunte er, als er an der Stelle, wo er einst den ersten Blick in das Ruhsetal getan, seinem Vater begegnete!

«Ich wußte, daß du kommen würdest,» antwortete der Alte auf seine Überraschung. «Ich habe mir vorgenommen, täglich hieher zu kommen, um dir meine Arme, die du doch wohl noch brauchen kannst, zu öffnen.»

«Vater, Vater, kannst du mir vergeben?» Heinz hatte sich seinem Vater um den Hals geworfen. Nicht er vergoß Tränen, sondern der alte, in Leid und Sorgen hart gewordene Mann. Es dauerte ein Weilchen, bis er, aus der Umarmung des Sohnes sich lösend, es herausbrachte: «Hab’ ich dir nicht gesagt, es werde noch Blut fließen? Hab’ ich dich nicht vor dem Tillmann gewarnt?» —

«Vater, vergib mir nur, so kann ich wieder zum Leben ausschreiten. Denn ich habe das Leben entdeckt, wahrhaftig, erst jetzt, nachdem all mein Streben gescheitert ist. Gott hat mir die Sehnsucht der Mutter offenbart, die große unverwesliche Kraft, die ich in ihrem Schoße empfing. O Mutter, die Blume deiner 423 lautern Liebe ist in mir aufgegangen, um ewig fortzublühen, ein Labsal allen, die mir begegnen werden, ein Weg in die goldnen Gassen.»

«Was hätte ich dir zu vergeben?» antwortete der Vater. «Uns beiden hat die Liebe der Mutter, die ich mit Füßen getreten, den Weg ins Leben gebahnt.»


 << zurück