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XV.

«Nicht weinen, Mandi, Mandi! — Wollen wir ja klein Mandi schön machen. Denk, Onkelchen kommt aus Amerika, weit, weit her übers Meer. Onkelchen, das Mandi noch gar nie gesehen hat.» So sprach Frau Rosa Dengeler, die Pfarrfrau von Hilbligen, zu ihrem ungeberdig strampelnden Nestbuz, während ihr kehrum der dreijährige Fränzi und das zweijährige Röseli mit allerhand Begehrlichkeiten am Kittel hingen. Nachdem sie all die süßen Geduldsproben, die ihr Tag für Tag auferlegt waren, auch heute wieder einmal bestanden und ihre kleinen Plaggeister befriedigt hatte, begab sie sich in die Küche, um dem Herrn Pfarrer den Zehnuhr-Imbiß zu rüsten.

Die Gemeinde Hilbligen hatte den richtigen Namen. Ihr sanftes, mit stattlichen Bauernhöfen übersätes Hügelgelände war in weitem Umkreis von wohlgepflegten Wäldern umgeben, die als breiter Schutzgürtel die Wucht der Winde brachen und, wie man glaubte, die heranfegenden Hagelschauer in segensreiche Regengüsse verwandelten. In einer besonders lieblichen Talsenkung zu Füßen des Kirchhügels lag inmitten üppiger Obstgärten das alte Pfarrhaus, dessen Krautgarten durch einen heimelig murmelnden Bach von den dunkelerdigen Äckern geschieden war. Wie die Gemeinde innerhalb des Waldgürtels, so bildete das Pfrundgut 261 in der Gemeinde eine Welt für sich, und wie das Land, so waren die Leute. Man hätte glauben können, der Schall der Welthändel würde von dem Fichtengürtel gebrochen und gedämpft wie die Hagelwetter, während von der Pfarre der Strom des Gottesfriedens nach allen Richtungen ganz ungestört bis an den Waldsaum sich ergießen konnte. So war’s dem Hirten und der Herde recht, und sie waren des Friedens so sicher, daß der Wunsch nach Ungestört­bleiben überhaupt nie auf eines Hilbligers Lippen kam, am allerwenigsten auf die Lippen des pfarrherrlichen Paares.

Es gab im Pfarrhause gewisse Dinge, welche die junge Hausmutter an die dunklen Tage ihrer Kindheit erinnerten. So stand auf einer Kommode in der Wohnstube jene kleine Vase, die der Vater einst samt den Blumen achtlos unter den Tisch geworfen. Kam die Pfarrfrau mit diesen Dingen ins Zwiegespräch, so blickte sie allemal aufatmend nach dem Waldsaum, der sogar gegen die Vergangenheit eine Schranke bildete, und dankte in ihrem Herzen Gott für die glückliche Wendung, die ihr Leben genommen. Immer mehr ward ihr die Wieseninsel zum Sonnenland, alles aber, was jenseits des Waldes lag, zu einer Fremde, in deren dröhnendes Grauen sie nimmermehr zurückkehren wollte. Und dieses Glück des Geborgenseins strahlte auf ihren Mann über, daher denn fast alle seine Predigten von Lob und Dank gar lieblich widerhallten.

Die Hilbliger wußten das zu schätzen. Solche Dankbarkeit 262 konnte nur aus einem kristallauteren Herzen kommen. Die guten Leute wußten nicht, daß Franz Dengeler eine Art Friedenstyrann war, der mit seinen Lobgesängen die Gewissensnöte seiner Frau luftdicht einzudecken sich bemühte. — Gewissensnöte? In der Brust dieser allzeit fröhlich summenden Biene? — Ja, warum hatte sie eine solche Scheu vor allem, was jenseits des Waldes lag? Der Herr Gemahl hatte über seinem Schreibtisch einen selbstgemalten Wandspruch hingehängt: « Bene vixit qui bene latuit.» Ei, was wußte er nicht alles über das Glück des Lebens im Verborgenen zu sagen. — Verdächtig viel. Und just weil ihm das Gewissen zuraunte, das Losungswort schicke sich besser für eine Weinbergschnecke als für einen tapfern Winzer in Gottes Rebberg, so kritzelte er es erst recht auf jeden noch unbeschriebenen Fetzen Papier.

Frau Rosa duckte sich in den Hausfrieden; aber sie sah dem angekündigten Besuch ihres Bruders mit eigentümlich gemischten Gefühlen entgegen. Erlösung erwartete sie von ihm, und doch bangte ihr davor. Den ganzen Tag sann sie auf Mittel und Wege, ihren Mann auf den Augenblick der Ankunft ans Haus zu fesseln, damit sie die ersten paar Schritte von der Posthaltestelle wenigstens allein mit Heinz gehen könnte. Aber es fiel ihr nichts Vernünftiges ein. Der Pfarrer schien auch etwas nervöser zu sein als sonst. Beim Mittagessen kamen sie überein, man wolle das ganze volle 263 Hausglück so recht erstrahlen lassen. Wohl werden müsse es darin dem arbeitsharten Amerikaner. Er müsse in der Sonnenflut des Pfarrhausidylls untergetaucht werden. Schon bald nach dem Essen wurde unter dem alten Gallwilerbaum, der hinter dem Haus aus einem dichten Haselhag in die Luft ragte, der Kaffeetisch gedeckt. Man schleppte die bequemsten Stühle herbei, belegte sie mit Kissen, und der Pfarrer stellte neben den mit Gebäck und Konfitüren beladenen Tisch noch seinen mit viel unnützen Ziernägeln und Kettchen geschmückten dreibeinigen Rauchtisch. Er selber warf sich in die Garnitur des Behagens, stopfte sich eine Pfeife mit meterlangem Rohr und setzte auf sein rotblondes Lockenhaupt eine gänzlich überflüssige Samtmütze. Als wollte er, der Himmel weiß wem, ein lebend Bild von anno dazumal stellen, wandelte er paffend den Kiesweg längs der Hofstatt auf und nieder. Da hörte man das Pöstlein klingeln. Fast gleichzeitig entschlüpfte die gelbe Kutsche der feierlichen Fichtenmauer des Waldgürtels, um, ein leichtes Staubwölklein hinter sich herschleppend, bald wieder hinter dem Kirchhügel zu verschwinden. Die Postablage und das Wirtshaus standen am jenseitigen Abhang.

Das Ehepaar Dengeler erreichte gleichzeitig mit dem Postwagen die Haltestelle.

Man begrüßte sich voll wehmütiger Freude. Das schweizerisch Heimatliche des Ortes übernahm zugleich mit dem Wiedersehn der Geschwister den Heimkehrenden. 264 Frau Rosa war fast befangen ob Heinzens Erscheinung. Wie der seinem Vater zu ähneln anfing!

Das mußte sie ihm sagen. Auf dem Weg zum Pfarrhaus blieben sie einen Augenblick bei der Kirche stehen. Im weichen blauen Glanz des Sommer­nachmittags lag das Eiland von Hilbligen vor ihnen ausgebreitet. Franz Dengeler glaubte, Heinzens Augen folgten seinem Pfeifenrohr, mit dem er erklärend auf Höfe und Weiler zeigte. Der Amerikaner war aber mit seinen Gedanken ganz anderswo, begehrte auch gar nicht zu wissen, ob der Lorhaldenbauer ein wohlgesinnter Mann und der Besitzer des hilben Bodens eine Stütze der Gemeinde sei. Liebevoll, glückstrahlend und doch nicht ohne Scheu betrachtete die Pfarrfrau den träumerisch blickenden Bruder. Er brütet etwas, was ihm wehtut, dachte sie und wollte ihn losreißen.

«Nein,» schmeichelte sie, «wie du dem Vater gleichst! — Ließest du deinen Bart wachsen, man könnte dich mit ihm verwechseln.»

Ein sehr verwunderter Blick traf die Schwester.

«Ich meine, mit dem Vater, wie er in der Känelmatt aussah, als wir noch alle daheim waren.»

«Hat er sich stark verändert?» fragte Heinz.

Frau Rosa errötete und der Pfarrer verdoppelte seinen Cicerone-Eifer.

«Er ist gealtert,» sagte die Pfarrfrau. Dann drängte sie, vorangehend, zum Abstieg in den Garten. Sie brannte vor Ungeduld, die Kinder herauszuholen. Die zwei ältern 265 trippelten dann auch heran, als man zu dem einladenden Tische trat, und Heinz erwies ihnen alle Freundlichkeit, die man von einem ledigen Onkel erwarten darf. Das Jüngste schlief noch und sollte erst später seine Aufwartung machen. Den Kindern fiel das Fremdartige in Tonfall und Redensart des Onkels angenehm auf, und sie schlossen ihn gleich ins Herz, erlebten aber schon nach wenigen Minuten eine Enttäuschung. Da es nämlich der mit ihrem Kaffeegeschirr hantierenden Mutter nicht einfiel, die zudringlich auf den Onkel loskrabbelnden Kleinen abzumahnen, stellte dieser sie selbst mit kräftigem Arm sachte, aber unmißverständlich abseits. Frau Rosa entschuldigte sich bei Heinz, der wieder in Schweigen verfiel. Da er, den eingeschenkten Kaffee vergessend, seine Augen auf einem Pilz ruhen ließ, der in einer Falte des Apfelbaumes üppig wucherte, begann Franz Dengeler zu erklären: «Nicht wahr, ein interessantes Gebilde! Man sollte ihn eigentlich wegschneiden; aber es macht mir Vergnügen, sein fabelhaftes Wachstum zu beobachten. Der Baum ist ohnehin verloren, und drum...»

Dem ahnungslos Plaudernden stockte der Atem, indes die Kinder sich aufschreiend hinter die erbleichende Mutter flüchteten. Heinz war jäh aufgesprungen, zornglühend. — Wie er da wieder dem Vater glich, dem Vater Tillmann in der Kraft seiner guten Jahre!

«Eben,» donnerte er los, «gerade so treibst du’s, so treibt ihr’s beide. Behaglich abseits und wohlgeborgen 266 hockt ihr da auf eurer Pfrund und schaut zu, wie der arme Vater zugrunde geht. — Du bist mir ein Pfarrer, du!»

Franz Dengeler fühlte etwas wie eine Schlundlähmung. Mit vor Zorn zitternden Händen zupfte er an seinen Manchetten, am Rockkragen, am Tischtuch, auf dem, mit roter Baumwolle gestickt, ihn der Spruch anlächelte: Ost und West, daheim das Best’. Rascher als er hatte seine Frau sich gefaßt. Mit beiden Händen ihre Kinder streichelnd, sagte sie mit erzwungener Ruhe: «Aber Heinz, du weißt doch! — Nein, wie kannst du nur so was sagen; ich schrieb dir doch...»

«Ja, Röse,» fuhr der ergrimmte Bruder fort. «Was hast du mir geschrieben? — Jeder deiner Briefe war ein Klagelied über den Vater. Daß er auf nichts hören wolle, daß er sich nicht davon abbringen lasse, den aussichtslosen Prozeß gegen die Hallunkenbande zu führen, die von seiner Gefangenschaft profitierte, um seinen Vermögenseinsatz in ihren verfehlten Unternehmungen zu verlochen. Daß niemand sich an die einflußreichen Herren heranwage, hast du mir berichtet, daß es aber der arme Vater auch denen unmöglich mache, ihm beizustehen, die ihm wohlgesinnt wären, indem er sich immer mehr dem Trunk ergebe.»

Heinz Tillmanns Stimme war in Zittern gekommen. Es schien, als wollte er Atem schöpfen, um zu einem weitern Schlage auszuholen. Wild rollte er die Augen in seinem mißfarbenen Gesicht.

267 «Aber Heinz,» stammelte die Pfarrfrau, «es war ja doch so, und...»

«Es war ja doch so!» schrie Heinz. «Das brauchst du mir nicht erst zu beteuern. Deinen Briefen zu glauben, war bei Gott keine Kunst. Wenn man den Vater kennt. Natürlich ist es so, und zwischen den Zeilen hab’ ich noch viel mehr gelesen. Kann mir wohl denken, wie er zu Werke ging. Diplomat war er nie. Aber er gehört zu den Menschen, die man entwaffnet, indem man einen Faustschlag hinnimmt und mit tapferer Liebe beantwortet. So hat’s die Mutter mit ihm gemacht. Lebte sie noch... o Gott im Himmel! Ja, lebtest du noch, Mutter! Es wäre nicht so weit gekommen.»

Nach einer Weile tiefen Schweigens wandte er sich scharf gegen seinen Schwager: «Statt ihm mutig unter die Augen zu treten, habt ihr beide reißaus genommen, habt euch des verkommenden Mannes geschämt und euch hinter der Entschuldigung verkrochen, es sei ja doch nichts zu machen.»

«Bitte!» fuhr jetzt der Pfarrer, vor Zorn bebend, auf. «Nimm dich in acht, was du sagst! Du scheinst eben doch nicht alles zu wissen...»

«Oder du vielleicht nicht,» donnerte Heinz. «Davon wenigstens» — keuchend brachte er das heraus, indem er seine Blicke zwischen den Geschwistern hin und her rollen ließ — «habt ihr nichts gemeldet, daß sie den Vater ins Armenhaus gebracht haben, nach Prankenau. 268 — Ah — ah!» Heinz preßte beide Fäuste an die Schläfen.

Frau Rosa fiel auf ihren Stuhl zurück und barg unter Schluchzen ihr Gesicht in den Händen.

Wußten sie um den Aufenthalt des Vaters oder war seine Mitteilung neu für sie? Heinz erriet es noch nicht. Franz Dengeler ergriff ihn beim Arm und sagte mit mühsamer Überwindung: «Aber so kommt doch wenigstens ins Haus! Ist’s denn notwendig, daß die ganze Gemeinde hört, was hier geredet wird?» Seine Frau lief hastig voran, indes Heinz ihm zögernd ins Studierzimmer folgte. Erst suchte der Pfarrer seine Frau zu beruhigen, die sich in krampfhaftem Schluchzen auf das Sofa geworfen hatte. Er strich ihr mit weicher Hand über den Scheitel. Heinz war ans Fenster getreten. In seinen glühenden Zorn hinein tat es ihm leid, daß er seiner Schwester schon in der langersehnten Stunde des Wiedersehens so weh getan. Er wandte den beiden den Rücken und ließ seine Blicke über den Garten hinschweifen. Nun hörte er den Pfarrer im Zimmer auf- und abgehen. Plötzlich stand er neben ihm. Man hörte ihm deutlich an, daß er sich zur Ruhe zwang, als er anhob:

«Darf ich nun auch sagen, was ich von der Sache weiß und denke? — Für’s erste hat dir ja Röse nicht alles schreiben können. Es ist eine lange Leidens­geschichte, und du weißt nicht, was alles wir in diesen letzten Jahren, die doch die schönste Zeit unsres Lebens hätten werden können, gelitten haben — um des Vaters 269 willen. — Ist’s nicht so?» fragte er seine Frau. Die nickte bestätigend. Und der Pfarrer fuhr fort: «Ich kann dir versichern, Heinz, wir haben viel durchgemacht. Wie oft haben wir ihm zugesprochen und durch andere zureden lassen, er möge von dem Prozeß lassen. Aber du solltest gehört haben, was er darauf antwortete. Wir mußten es aufgeben, um ihn nicht vollends außer sich zu bringen. Denn weißt, Heinz, es war uns darum zu tun, ihm hier bei uns die Türe offen zu halten, damit er doch wenigstens noch an einem Ort eine Heimstätte finde. Wir wollten es ihm nicht unmöglich machen, unsre Liebe anzunehmen. Wie oft haben wir ihn eingeladen, ganz hierher zu ziehen und hier in der Stille ein neues Leben anzufangen. Aber er hat es schroff abgewiesen. Es war, als wollte er mit aller Gewalt in sein Verderben rennen. ‹Um euretwillen kämpf’ ich’s durch›, sagte er, ‹dem Heinz bin ich’s schuldig.› Und als es die Advokaten längst aufgegeben hatten, da hat er immer neue Anläufe genommen, ist den Gegnern zu Leibe gerückt, hat sie bedroht und ihnen aufgelauert. Und weil er leider Gottes dazu häufig einen bösen Wein getrunken und nirgends mehr recht daheim war, haben sie zuletzt Mittel und Wege gefunden, sich vor ihm zu schützen. Und jetzt ist er zusammengebrochen. — Vor zwei Monaten noch haben wir den letzten Versuch gemacht. Die Wirtin von Elsigen hat uns geschrieben. Aber er wollte nichts von uns wissen. Und dann ist’s geschehen.»

270 «Franz, Franz! warum hast du mir das nicht gesagt?» unterbrach ihn die Pfarrfrau.

Heinz, der während der Rede seines Schwagers starr durch das Fenster geblickt hatte, so daß man nicht wußte, hörte er eigentlich zu oder nicht, horchte plötzlich auf und wandte sich, neuen Zorn in den fragenden Augen, den Geschwistern zu.

«Was sollte ich dir verschwiegen haben?» fragte Franz.

«Daß sie den Vater nach Prankenau gebracht haben.»

«Das behielt ich für mich, weil ich dir’s ersparen wollte und weil das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen ist. Ich hoffte immer noch...»

«Franz! Wenn ich das geahnt hätte! Keine Stunde länger wäre ich hier geblieben. Ich wäre gelaufen...»

«Bin ich ja auch. Aber so einfach ist die Sache nicht. Der arme Vater hat sich der Verhaftung mit Gewalt widersetzt und hat nun noch Strafe zu gewärtigen. Und damit ihr beide ja alles wißt: er liegt in Prankenau krank darnieder. — Du kannst mir glauben, Heinz, ich würde nichts versäumt haben, was zu Vaters Gunsten geschehen kann.»

Heinz raunte vor sich hin: «Das glaubst wohl du selbst.»

«Heinz!» brauste der junge Pfarrer auf.

Dem Amerikaner lief ein galliges Lächeln um die Mundwinkel. «Täusche dich nicht, Franz!» sagte er kalt. «Du 271 hast schon zuviel Wurzeln getrieben in dem Misthaufen deines Wohlbehagens.»

Franz Dengeler starrte fahlen Gesichts auf seinen Schwager. Frau Rosa wollte mit einem besänftigenden Wort dazwischen treten; aber Heinz drängte sie mit gebändigter Kraft zurück und sagte scharf und bitter zu Franz: «Du kannst dir nun weiter Zeit nehmen. Ich bin ja jetzt da und werde handeln. Unterdessen mögt ihr ruhig auf eurer Friedensinsel bleiben und um einen guten Ausgang beten. Behüt euch Gott!»

Die Bitterkeit der letzten Worte lähmte Franz und seine Frau derart, daß Heinz die Türe hinter sich ins Schloß zog, ohne eine Antwort auf seinen Abschied vernommen zu haben. Geraume Zeit blieb der Pfarrer, den Kopf auf die Ellbogen gestützt, über sein Stehpult gelehnt. Mechanisch lasen seine Augen die Goldpressungen auf den Rücken der vor ihm aufgestellten Bücher. Als er sich endlich wieder aufrichtete, schwamm die ganze Studierstube im Gold der scheidenden Sonne. Da lag neben ihm auf dem Pult das zierliche schwarze Samtkäpplein, zugleich Spielzeug und Sinnbild pfarrherrlicher Würde. Franz Dengeler ballte es zu einem kleinen Knäuel und warf es unter das Pult. Dann setzte er sich neben seine weinende Frau, zog sie fest in die Arme und sagte: «Du, vergib mir. Ich wollte dir ja nur neues Leid ersparen. Gelt, du läßt nichts zwischen uns kommen.» Dabei glitten seine Blicke 272 in unbewußtem Argwohn an ihr vorbei gegen die Türe, durch welche Heinz sie verlassen hatte.

*  *  *

Der Amerikaner folgte der Poststraße bis an den Waldsaum. Dort verließ er sie. Dreifach schwer verwundet, lief er stracks durch das raschelnde Laub ins Dickicht des nächsten jungen Tannenbestandes, wo das Licht der sinkenden Sonne nur spärlich über den weichgrünen Moosboden hereinschlich. Und wo es am allereinsamsten ihm vorkam, warf er sich hin. Er konnte sich in seinen Gedanken nicht zurechtfinden. Bald kam’s über ihn, er müsse zurücklaufen, wenigstens bis an den Waldrand, um das Pfarrhaus zu sehen, das er zum Schauplatz einer schlimmen Tat gemacht. Er hatte es ja nicht beabsichtigt; aber was vermag einer wider den Trieb seines Schmerzes? Jetzt hatte er seiner Schwester grausam wehgetan und vielleicht sogar ein häusliches Glück zerschlagen. — Kaum aber hatte er sich erhoben, so sah er wieder Franz Dengeler in seiner pappigen Pfrundseligkeit vor sich, mit der Riesenpfeife in der Hand und dem albernen Käpplein auf dem rotblonden Lockenfuder. Da fühlte er wieder, wie seine Fäuste sich krampften.

Diese eine Wunde, die jüngste, mochte weiter bluten. Wenn sie sich schon nicht so schnell schloß, was tat’s? Heinz lief weiter. Bald lichtete sich der Wald. In der 273 wunderbaren Milde des verscheidenden Sommertages breiteten sich vor ihm die Torfbrüche von Nonnenbuchsee mit dem rosigen Spiegel ihres lieblichen Seeleins. Eine Kirchturmspitze glitzerte im Abenddust über dem traulichen Genist von Dächern und Baumgärten. Dort, jenseits dehnte sich der Tragik atmende Waldrücken des Grauholzes. Noch weit jenseits lag das Ziel seiner Reise. Sollte er in die Stadt zurückkehren, um die Nacht dort zuzubringen? Um alte Bekannte zu treffen, die ihm, wie heute Berni Bär, in ahnungsloser Grausamkeit, die andern Wunden reizten! — Von Toinon Delierre hatte er zynisch gesprochen. Heinz ächzte ob der Erinnerung laut auf. In allen Fasern hatte es ihm gezuckt, den Keulenschlag mit einem Fausthieb zu beantworten. Er hatte sich überwunden; aber ein zweitesmal heute würde er es nicht mehr ertragen. Heinz war, als müßte er Gott danken, daß er ihm diesen einen Schmerz durch den im Augenblick noch wütender brennenden um den Vater dämpfte. Er rannte, die Stadt meidend, stracks südwärts, um Prankenau näher zu kommen. Ohne seines Weges recht zu achten, durchstreifte er Hügel und Senkungen, Wälder und Weiler. Immer länger lief sein Schatten vor ihm her. Als er endlich im Grau der Straße aufging und verschwand, gönnte sich der Wanderer einen kurzen Halt. Zu seiner Rechten murmelte in der Talmulde die Werlen. Weit jenseits tauchten aus dem Gewirr von Baumgruppen, Höfen, Alleen und Hügelwellen noch einige von der 274 Sonne beschienene Bergkuppen. Zu ihren Füßen lag, nur durch eine Dunstschicht verraten, die Stadt.

Fort! Weiter? — Als die Sterne zu flimmern begannen, durchquerte Heinz das letzte Tal. Jenseits schlummerte schon der ihm so vertraute Schloßwald von Prankenau. Er durchstieg ihn und wandte sich dann ostwärts bergan, bog über dem Herrenvogel­hölzchen um die Bergkante und fand endlich das einsame Scheuerlein, das ihm von der Bubenzeit her genau bekannt war. Dort wollte er sich, weitab von allen Menschen und doch seinem unglücklichen Vater ganz nahe, zur Nachtruhe hinlegen. Eben noch hatte er, einem riesigen Katafalk ähnlich, das Schloßdach tief unterhalb des Fußpfades gesehen. Die Dachknäufe ragten ins Dunkel. Gedämpfte Lichter schimmerten aus den großen Fenstern. Jetzt lag zu seinen Füßen die schwarze Furche der Känelmatt — lichtlos. Ein Hund bellte in der verschwommenen Tiefe.

Bald hatte Heinz Tillmann den Einschlupf auf den Heuboden des Scheuerleins gefunden. Todmüde ließ er sich in das frisch duftende Heu fallen. Er war so erschöpft, daß es ihm ganz einerlei gewesen wäre, in irgend eine Grube hinunter­zustürzen, aus der ihn keines Menschen Hand errettet hätte. Er schlief auch alsobald ein. Aber lange konnte er nicht geschlummert haben. Denn als er wieder erwachte und zwischen den Hölzern der Bühne hinausspähte, fiel ihm sogleich der breite Lichtschein auf, die «Stadtheiteri», vor der sich der 275 Amselberg scharf abzeichnete. Das erblicken und tief hinabtauchen in die Erinnerungen der Knabenjahre war eins. So hatte es an jenem Abend ausgesehen, als die Mutter, mit ihm vom Schloß heimkehrend, dem Geschwätz der Dorfbasen entrann. — Die Mutter, die Mutter! — Gott, warum mußte sie so früh sterben! — Heinz sah sich in dem zur Kapelle umgewandelten Speisezimmer des Schlosses neben Antoinette sitzen. Er sah die dunklen Ölbilder, die silbernen Leuchter, sah den alten Pfarrer. Er hörte die Stimme der Frau v. Guldwang und suchte sich das sehnsuchtsvolle Lied zu rekonstruieren; aber er brachte es nicht zustande. In der Erinnerung an die Melodie fielen ihm bloß noch die Worte ein: «und ohn’ Ermüden will ich ihr näher gehn». Von der goldenen Stadt handelte das Lied — vom Ziele der Sehnsucht aller leidenden Menschen, dessen entsann er sich noch. Indem er dem nachdachte, geriet Heinz ins Träumen und duselte ein, bis ihn die Heuhalme wieder weckten. Wieder durchwanderte er vergangene Jahre. Seinen Verzicht zugunsten des Vaters durchlitt er von neuem. Hatte er etwas genützt? Ein dichtes, dumpfes Nebelgewoge lag die Zukunft vor ihm. Wie dem Vater geholfen werden sollte, war ihm völlig unklar. Wohin sollte er ihn bringen, da er ja sicher nicht ins Pfarrhaus zu Hilbligen wollte? Und was sollte nun er selbst beginnen? Als Klein-Unternehmer in des Vaters Fußstapfen treten und ihn zu sich in die Arbeit nehmen. Es wäre 276 das Natürlichste gewesen. Aber wer gab ihm Kredit zu einem Unternehmen? Bei tieferem Überlegen erkannte Heinz immer deutlicher in der Person und im Ruf seines Vaters das größte Hindernis. Vor allem mußte also der Vater dem bisherigen Leben entrissen werden. Etwas ganz Neues mußte geschaffen werden. Dieser Gedanke brachte Heinz eine gewisse Beruhigung. Der Schlaf übermannte ihn wieder und diesmal für längere Dauer.

Erst das durch alle Öffnungen einströmende Frühlicht weckte ihn wieder. Nun galt es, die letzte Geduldsprobe zu bestehen, die langen Morgenstunden bis zum Einlaß in das Armenhaus. Heinz fühlte sich matt und hungrig. Aber die Nüchternheit des Morgens befreite ihn von vielen lastenden und irreführenden Gemütsregungen. Wie er’s nun anfassen sollte, wußte er noch immer nicht. Er wollte sich führen lassen. Durch wen? Seinen guten Stern, einen glücklichen Zufall, einen auftauchenden Ratgeber? Dem allem traute er nimmermehr. Heinz wußte, was seiner Mutter Kraft gewesen. Und so warf er sich auf die Knie, um Gott anzurufen, nicht mit Geberden, nicht einmal mit überlegten Worten. Nein, aber was sich aus dem Dunkel seines abgekämpften Herzens in den lichten Morgen schwang, war der Schrei: «Ich bin zu Ende. Neues Leben schaffen kannst nur du, Herr, mein Gott und Schöpfer. Sprich du dein ‹Werde› und schaff’s?»

Er trat ins Freie, streifte sich die Spuren seines 277 Nachtlagers vom Rock und stieg noch weiter den Berg hinan bis in jene Waldlichtung, wo er einst mit Franz Dengeler und Röseli gesessen hatte. Als sich in der Tiefe das Leben zu regen begann, raffte sich Heinz auf und schlug den Weg nach der hintern Känelmatt ein. Im obersten Hause, wo sich das Neßlern-Mädi nach dem Verkauf von Prankenau eingenistet hatte, trat er freimütig in die Küche, die ihn in ihrer Rußschwärze anheimelte, und bat die alte Hausfreundin um ein Kacheli Warms.

Mädi wußte sich vor Staunen nicht zu fassen und rief einmal über das andere: «Ei der Tag auch! Wo kommt jetzt Ihr her, so früh am Tag? — Hab’ gemeint, Ihr seid in Amerika.»

«Bin ich auch gewesen», sagte Heinz, sich zur Geduld zwingend. Um der Neugierigen alle Fragen abzuschneiden, erzählte er ihr, auf dem Holzstock neben dem Herde sitzend, in kurzen Worten, was ihn des Weges führe. Dann schloß er: «Und nun tut den Gottslohn an mir und gebt mir Leibesstärkung auf den Gang, der mir zu tun bleibt.»

Um Leibesstärkung bat er; aber er meinte etwas anderes. Und Mädi verstand ihn. Sie sagte nichts, dachte aber: was ich dir zu geben vermag, sollst du haben. Die Alte trug auf, was an Speis und Trank ihre Küche enthielt. Und indem er sich’s schmecken ließ, mußte sie ihm erzählen, was sie von seines Vaters Schicksal wußte. Als er satt war, schob er Tasse und 278 Teller weg, stützte den Kopf in die Hand und sann vor sich hin. So blieben sie lange schweigsam. Endlich tat Heinz einen tiefen Seufzer und griff nach seinem Hute. Da sagte Mädi: «Nicht daß ich Euch etwas drein zu reden hätte; aber mir ist doch, als müßte ich das sagen. Es geht doch merkwürdig zu in der Welt. Eure Mutter, Heinz Tillmann, war auf der guten Fährte und hat sterben müssen, Euer Vater war auf der lätzen und findet sich nimmermehr zurecht. Aber glaubt mir, lebte die Mutter noch, so wären die beiden noch uneins geworden, und ihr hättet alle zusammen das gute Trom verloren. Aber jetzt ist die Mutter draus und weg, und was Verkehrtes der Vater angefangen, ist zerbrochen. Jetzt kann’s wieder gut kommen, wenn ihr der Mutter Weg einschlagt.»

Warum ballten sich Heinzens Fäuste, als er bald darauf am alten Stöcklein in der vordern Känelmatt vorüberschritt, als er, über den Walm steigend, den Dachknauf des Schlosses aus dem Boden auftauchen sah, als er durch den wappen­geschmückten Torbogen in den — ach so schauerlich nüchtern gewordenen — Hof trat?

«So, zum Tillmann wollt Ihr?» fragte in seinem vertabakten Bureau der Verwalter, ein vierschrötiger, derber Mann, der mit einem seiner kalten, grauen Augen leicht nach außen schielte. «Es ist nicht Besuchstag: aber... Wer seid Ihr?»

«Sein Sohn.»

279 Der Verwalter staunte.

«Und ich will den Vater zu mir nehmen. Ich kann jetzt für ihn sorgen.»

«Tja. Das wird seine Haken haben. So mir nichts, dir nichts kommt keiner hier zum Tor hinaus.»

«Wer hat ihn hierher gebracht?»

Der Verwalter blätterte in einem Folianten, setzte eine Brille auf und sagte mit einem Blick über die Gläser: «Die Heimatgemeinde. An die müßt Ihr Euch wenden.»

«Gut, das werde ich tun.»

«Aber wißt. Euer Vater hat da übel vorgesorgt. — Nu, wenn Ihr der Gemeinde die Kosten abnehmt... Es ist nämlich da etwas passiert. Offen gestanden» — der Verwalter trat vertraulich an Heinz heran — «ich kann’s ihm nicht einmal so übel nehmen. Als der Notarmen­kassier mit ihm herkam, hat er draußen im Hof zu ihm gesagt: ‹So, Tillmann, jetzt seid Ihr ja, wohin Euch solange gelüstet hat.› Da ist Euer Vater dem Kassier mit der Faust unter die Nase gefahren, daß er beinah den Geist aufgeben mußte. Und er war doch schon damals ein kranker Mann, Euer Vater.»

«Darf ich ihn sehen?» fragte Heinz.

«Wie gesagt, es ist eigentlich nicht Besuchstag, aber wenn Ihr extra weither gekommen seid...»

Damit führte der Verwalter den Gast in den gewölbten Korridor. — Gott! Diese alten herrschaftlichen Gänge, in denen sich nun der atembeklemmende Armeleutegeruch 280 fing! — Auf der Treppe wandte sich der Vorsteher nochmals zu Heinz: «Wie gesagt, es ist nicht Besuchszeit. — Und Einzel­kranken­zimmer haben wir eben nicht. Ich muß mir mit dem helfen, was da ist.»

Heinz war ohnehin auf Schlimmes gefaßt, so daß ihm die wie Entschuldigung klingenden Worte seines Führers nicht einmal besondern Eindruck machten. Was ihm in diesem Augenblick noch mehr das klare Denken benahm, war die hier oben aus jedem Winkel ihn anfallende Erinnerung, in deren Mitte fantomartig und blitzschnell die herrliche Gestalt Antoinette von Guldwangs trat. Hinter dieser dunklen Eichentüre da, an der er eben vorbeiging, hatte das schöne liebe Mädchen manchen Tag seiner glänzenden Jugend zugebracht; hier hatte es vielleicht in stillen Stunden an Heinzens Leiden mitgetragen, hatte es wohl sogar für ihn auf den Knien gelegen. Heinz fühlte, wie sich seine Kehle zu schnüren begann.

Da floß plötzlich helles Licht in den Korridor. Der Verwalter hatte eine andere Türe geöffnet und trat, mit der Hand den Türflügel gegen den Winddruck stemmend, zur Seite. Ein Schwall widerlicher Gerüche strömte in den Gang. Trotz der offenen Fenster, durch die der Blick in die weite blaue Pracht des Sommertages flog, schwehlten Arzneidüfte, Ausdünstungen absterbender Menschenleiber und zerwühlter Betten träge durcheinander. Der Raum war — ein letztes Überbleibsel seiner einstigen Herrlichkeit — hoch und hell. 281 An den mattweiß gestrichenen Panneaux liefen noch die erblindeten Goldfilets. In acht oder zehn verbeulten, hellgrauen Holzbettstellen lagen unter rot- und weißkarriertem Bettzeug Jammergestalten. Über einigen Betten hingen Schnüre mit Handgriffen von der schön getäferten Decke. Rasch ließ Heinz seine Blicke über die Lagerstätten hingleiten. Einige der Kranken nahmen gar nicht Notiz von seinem Eintreten; andere, in den sonderbarsten Körperlagen sich wälzende glotzten ihn neugierig an, mitten darunter... o Gott! Barmherziger Gott! — Heinz, der aufrechte, stattlich-schlanke Mann, war an das eine Bett hingestürzt, in dem er — nicht auf den allerersten Blick — seinen unglücklichen Vater entdeckt hatte. Aus einem bleichen, eingefallenen Gesicht mit anstaltsmäßig zurechtgestutztem grauem Vollbart hatten ihn ein paar weit aufgerissene, wie aus schreckhaftem Traum erwachende Augen angestarrt.

Heinz drückte den Greisenkopf mit ungestümer Inbrunst an die Brust, bis die hageren Hände des Kranken sich gegen die allzu kräftige Liebkosung zu wehren begannen.

«Heinz, Heinz,» kam es endlich von zitternden Lippen, «was suchst du hier?» Dann sank das ermüdete Haupt in die Kissen zurück.

«Dich, Vater,» rief Heinz, der sich auf den Bettrand gesetzt hatte und unverwandt in den fahlen Zügen des gänzlich gebrochenen Mannes zu lesen suchte. «Dich 282 suche ich, Vater. Dich will ich haben. Bei mir will ich dich haben, damit wir selbander einen neuen Weg einschlagen können. — Du bist zum längsten hier gewesen.»

Über des Alten Gesicht liefen Tränen. Er bewegte den Kopf hin und her und machte mit der rechten Hand eine wegwerfende Bewegung, als wollte er sagen: «Laß nur. Hier ist nichts mehr zu holen.»

Heinz streichelte lange seines Vaters Hände und fing an mit ihm zu reden, wie man mit einem kranken Kinde spricht. «Glaub’ mir’s nur, Vater. Es ist mir ernst. Jetzt werde ich dich heimholen, und dann wird alles wieder gut.»

«Wohin? — Wo wohnst du denn?» fragte Hans Tillmann staunend.

Da ward Heinz es inne, daß er ja selbst noch nicht hatte, wohin er sein Haupt legen könnte. Er zauderte einen Augenblick mit der Antwort. Dann sagte er: «Laß mich nur sorgen, Vater.» Dabei richtete er sich auf und reckte die Arme, als wollte er auf seine Kraft hinweisen.

Einen Augenblick ruhten des Vaters Blicke mit sichtlichem Wohlgefallen auf dem Sohne. Dann kam wieder ein tiefer Schatten auf das welke Gesicht. Schmerzlich zuckte es um die Mundwinkel, ehe er sagen konnte: «Verdirb dir dein junges Leben nicht weiter mit Sorgen und Mühen um mich. Ob ich hier oder anderswo den letzten Atemzug tue, hat nichts zu sagen. Jetzt kommt deine Zeit. Du mußt’s halt in Gottes 283 Namen wagen ohne mich. Aber du kannst’s. — Geh, Heinz, nimm dir das Weib deiner Wahl und baue dein Glück. Aber hüte dich vor den — vor den Menschen!» Des Alten Stimme erstickte, da er Heinz jählings ins Weite blicken und mit Tränen kämpfen sah.

Nach einigen tiefen Atemzügen hub er wieder an: «Ach Gott, ach Gott, was habe ich um dein Glück gerungen; aber ich bin zu Schanden geworden. — Geh von mir, Heinz, ehe ich dich mit in das Verderben reiße. Was meine Hände anrühren, ist dem Fluch verfallen.»

«Vater, ich bitte dich, nicht so!»

«Ja ja, so ist’s,» keuchte Hans Tillmann. Seine zitternde Hand zeigte stumm durch das Fenster. «Siehst du,» fuhr er, mühsam sich meisternd, fort, «siehst du dort den alten Saarbaum hinterm Walm, der unser Haus vor dem Blitz schützte? — Der klagt mich Tag für Tag an: Hättest du deinem Weibe gehorcht, als es dich vor Prankenau warnte!»

«Nun weiß ich, Vater, daß wir ein Neues pflügen können. Wenn du deinen Fehler eingesehen hast, so hat auch die Buße ihr Ende.»

«Geb’s Gott! — Nun du’s weißt und mir vergibst, kann ich auch ruhig sterben.»

«Leben, Vater, leben!»

«Du, ja, du sollst leben, und zwar nach deinem und der Mutter Sinn. Gehe du deinen Weg getrost. Ich will dir nimmermehr dawider sein. Nur mußt du mir 284 vergeben. — Heinz, mein Bub, ich kann dir deine Treue nicht mehr vergelten. Aber wenn es einen gerechten Gott gibt, so kann’s dir nicht fehlen. Seiner Gnade muß ich dich überlassen, wie ich — wie ich» — Hans Tillmann richtete sich mühsam auf und streckte drohend den hagern Arm aus dem zurückfallenden Ärmel gegen die Decke — «wie ich seiner Rache meine Verfolger übergebe.»

«Du hast recht, Vater,» sagte Heinz, «Gnade und Rache sind Gottes. Überlaß das alles ihm und gehe deines Weges weiter.»

Eine Weile noch sprachen Vater und Sohn zusammen, mehr auf die Schritte einlenkend, die zu des Alten Befreiung aus dem Armenhaus bei den Behörden zu tun sein würden. Als Heinz sich endlich losriß und der Türe zuschritt, fielen ihm erst die Bettnachbarn seines Vaters auf. Der eine hatte, halb aufgerichtet, ihr Gespräch aufmerksam belauscht. Jetzt stieß er, kaum verständlich, unter freundlichem Grinsen wohl zehnmal die Worte aus: «Ja ja heigah.» Der andere lag platt auf dem Rücken, wandte sein verblödetes Gesicht nickend gegen Heinz und lachte: «Gäll gäll! Himmelvater, gäll. Ähä, ähä, Himmelvater...» Dazu zeigte er mit dem Finger gegen die Zimmerdecke.

Heinz blieb an der Türe stehen. Er biß sich auf die Lippen und drückte die Hand aufs Herz. Seine Blicke konnten sich nicht von der zusammen­gesunkenen, schluchzenden Gestalt seines Vaters trennen. Auf einmal 285 trat er raschen Schrittes wieder an das Bett. «Vater,» befahl er mit gedämpfter Stimme, «steh auf! Kleide dich an!»

Hans Tillmann tat, als verstünde er Heinz nicht.

«Rasch!» wiederholte der. «Wo hast du deine Kleider? — Da, sitz auf! Vorwärts!» Heinz suchte selber die Kleidungsstücke zusammen, nur Schuhe, Rock und Hose. Der Vater wollte Heinz die Flucht ausreden; aber der Sohn hatte kein Ohr mehr dafür. Er drängte und half dem Steifgewordenen in die Hosen, wobei er in seiner Hast nicht allzu schonend verfuhr. Als der Alte die eiserne Entschlossenheit seines Amerikaners zu fühlen bekam, gab er nicht nur den Widerstand gegen die Entführung auf, sondern er verbiß tapfer die Schmerzen, welche ihm das Einzwängen seiner geschwollenen Füße in die ungewohnten Lederschuhe verursachte. Plötzlich erkannte sich Hans Tillmann in seinem Sohne wieder, und darob glomm in seinem Herzen ein Fünklein der fast erloschenen Tatkraft wieder auf, die ihm von jeher müßiges Zusehen verbot. Wenn denn etwas gewagt werden sollte, so mußte es mit Ausgabe der letzten Kraft geschehen. An Mißlingen dachte ein Tillmann nicht, bevor er zerschmettert am Boden lag.

Endlich waren sie soweit fertig, daß man es hätte wagen dürfen, den Weg ins Freie zu suchen. Da kniete Hans Tillmann nieder und langte mit einer Hand unter die Bettlade.

286 «Was willst. Vater?»

«Meine Papiere.» flüsterte der Alte. «Hast ein Messer bei dir?»

«Ach laß doch den Plunder! Ist denn was Kostbares dabei?»

«Die laß ich nicht hier. Heinz. Meine Rechtsansprüche sind noch nicht erloschen.»

Mit zitternden Händen führte er das Messer von unten ins Matratzen­gestell und grübelte endlich mit des Sohnes Hilfe ein dickverstaubtes Bündel Briefe heraus. Heinz behändigte es. Dann zog er den mühsam Gehenden zur Türe. Aber nun erst beachtete er, daß sein Unterfangen die Neugier der Stubengenossen geweckt, ja daß es sogar einige aus ihren Betten gelockt hatte. Barfuß, in schlotternden Hosen, mit herabbaumelnden Hosenträgern und offener Hemdbrust kamen ihrer zwei nachgelaufen. Alle grinsten mit neugierig aufgerissenen Augen, einzelne machten Bemerkungen, riefen: «Wohin die Reis? — Wann kommst wieder?» Die Bettnachbarn Hans Tillmanns verwarfen die Hände und gaben Töne von sich, die man als Freudenausbruch, als Hilferuf, als Alarm, als Abschiedsgruß, als Schreckens­ausdruck, kurz als alles Erdenkliche auslegen konnte. Schon drängten die zwei halb Angekleideten zur Türe. Da stellte sich Heinz ihnen drohend in den Weg: «Ob ihr euch still haltet? Ins Bett! sag’ ich, oder ich hole den Verwalter.»

Es trat eine Stille der Verblüffung ein.

287 «Wenn wir im Gang jemanden antreffen, so bist du auf dem Weg zum Abort. Verstanden?» flüsterte Heinz seinem Vater zu. Dann schob er ihn durch die Türe, faßte ihn fest unter den Arm und schritt, so rasch es ging, mit ihm der Treppe zu, immer mit gespitztem Ohr. Es war alles still. Jedermann schien an seiner gewohnten Vormittagsarbeit zu sein. Im Erdgeschoß durchliefen sie den Quergang, der auf die Freitreppe nach dem Garten führte. Scharf zeichnete die Junisonne den Schatten des prachtvollen Barockgeländers auf die Fliesen des Vorplatzes. In den Gemüsebeeten des prosaisch abgeteilten Gartens knieten zwei Anstaltsinsassen. Links außerhalb der nun sauber entmoosten und mit Zement erbarmungslos ausgebesserten Parkmauer wendeten auf der Zelg ihrer ein Dutzend das Heu. Der Teich auf der untersten Terrasse war ausgefüllt und verebnet, von dem Kastanienhain stand nur noch spärliches Randgestrüpp. — Gräßlich! — Aber Heinz hatte keine Zeit zu Betrachtungen. An der letzten Treppe des Terrassenweges lud er sich den Vater huckepack auf den starken Rücken, lief mit ihm den kleinen Wiesenpfad entlang, und schöpfte erst wieder Atem, als der grüne Riesenwall des Buchenwaldes — Antoinettes Wandelgang — ihnen den Rücken deckte.

Hier ließ er seine teure Last zur Erde gleiten. Seine Augen leuchteten vor Genugtuung, als er sich den Schweiß aus dem glühenden Gesicht wischte. Vater Tillmann aber zitterte am ganzen Leibe. Er lachte vor Schwäche, 288 fast unheimlich, und dabei liefen ihm Tränen in den Bart. Wortlos sank er auf einen Baumstrunk nieder. Was mochte in ihm vorgehen, als er da auf die Zelg hinausblickte, über die Schollen, auf denen er vor Jahren mit dem Feind sein eigenes Glück zertrümmert hatte? Seine Blicke richteten sich wieder auf den Sohn, der ihn jetzt eben hart an der Stätte des Fluches vorübergetragen. Sie schienen zu fragen: «Und jetzt?»

Heinz verstand die stumme Frage, und er hatte nicht sofort eine Antwort darauf. Erst jetzt ward er inne, was es eigentlich hieß, einen alten, kranken, steif und matt gewordenen Mann in dürftiger Kleidung, die von weitem den Anstaltszögling verriet, am helllichten Tag durchs Land zu bringen. Aber Tillmann-Starrsinn und junge Tillmannskraft reichten sich die Hand, so daß es Heinz bald gelang, im Tal ein Fuhrwerk aufzutreiben und den Weg nach dem Wieseneiland von Hilbligen einzuschlagen.


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