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III.

Von sich aus wären Röseli und Heini niemals ins Schloß gegangen, obschon sie sich den Garten wie ein Paradies vorstellten, und noch weniger wäre es Frau Tillmann eingefallen, ihre Kinder dorthin zu schicken. 37 Aber sie waren durch einen Dienstboten abgeholt worden. Die Mutter hatte sie eilends in Sonntagsstaat gesteckt, dem Mädchen eine schöne Schleife ins Zöpflein geflochten und dem Buben die krausen Locken mit einem reichen Zusatz selbst­verfertigter Pomade säuberlich gescheitelt. So waren sie schüchtern und doch voll herrlicher Erwartung in Prankenau angerückt und von Antoinette sehr liebenswürdig empfangen worden, denn das Töchterchen hatte selten Besuch aus der Stadt und fand am Verkehr mit den Kindern der Nachbarschaft, denen sie immer ein wenig die gütige Fee sein durfte, ganz besonderes Vergnügen. Antoinettes Vater war an jenem Tage auch da, ein stattlicher Herr. In seinem wohlgenährten Gesicht, aus dem eine stolze Adlernase hervortrat, stand kein einziges Bartstöppelchen. Doch gaben ihm die nur bis zum Ohrläppchen herunter­reichenden, geometrisch scharf abgeschnittenen schwarzen Backenbärtchen etwas Gütiges. Heini war nicht wenig erstaunt, als bei seinem Anblick Herr und Frau von Guldwang belustigte Blicke tauschten. Frau Dorothea sagte etwas auf Französisch. Und dem Knaben kam es vor, als zöge Frau von Guldwang dabei die Nasenflügel zusammen. Er ward von der Bonne in ein oberes Zimmer geführt, wo es sehr gut duftete und alles weiß und blitzsauber war. Da kämmte und bürstete ihn die Kammerjungfer aus, als ob er Läuse hätte, schüttete ihm aus einem Fläschchen wohlriechendes Wasser auf den Kopf und bürstete wieder und wieder, bis die 38 Haare vor Trockenheit flogen. «So,» sagte die Jungfer befriedigt und führte ihn zu den Mädchen in den Garten. Da meinte Antoinette: «Jetzt gefällst du mir» und gab dem Umcoiffierten einen Kuß. Heini kam das sehr kurios vor. Er hatte noch nie von einem fremden Mädchen einen Kuß bekommen, und wußte nun nicht, ob man so was erwidern müsse. Er war darüber noch nicht schlüssig, als man sich ans Croquetspiel machte, und nun war die Gelegenheit verpaßt. Den ganzen Nachmittag war er krumm drin mit seinen Gefühlen. Das schöne Mädchen war so freundlich und lustig mit ihm, und immer noch kam er nicht draus, ob ihm einen Kuß zu geben eine Pflicht wäre oder etwas, das man sich nicht herausnehmen durfte. Auf alle Fälle hatte er sich dumm benommen. Das einzig war ihm klar. Und es ward ihm noch deutlicher bewußt, nachdem er auch die Zärtlichkeit, welche Antoinette beim Adieusagen an ihn verschwendete, nicht zu erwidern gewagt hatte.

Von dem Tage an war es dem armen kleinen Kerl, als liefe er mit einer ungetilgten Schuld herum, mit einem etwas, für das er keinen Namen wußte. Am ähnlichsten war das Gefühl dem eines leeren Magens. Und es hing eigentümlich zusammen mit der Erinnerung an den Duft und die feine weiße Wäsche und die Toiletten­gegenstände in jenem Zimmer, wo man ihm die Känelmattpomade aus den Haaren getilgt hatte. Diese Erinnerung wiederum war unzertrennlich von der lieblichen Gestalt Antoinettens und von der seltsam 39 strengen und doch wieder freundlichen Art, wie die Mama Guldwang mit den Kindern umging. Manchmal war ihm, als möchte er sich stehlen und in diese verfeinerte Zucht und Pflege versetzen lassen. Aber er fühlte ganz deutlich, daß er eben gestohlen werden müßte, um in dieses Treibhaus versetzt zu werden. Dann kamen wieder Augenblicke, in denen ihm unsäglich wohl war bei seiner Mutter und im traulichen Dämmer ihrer Stube, wo es nach praktischeren Dingen roch.

Am gründlichsten vergaß er das merkwürdige ungestillte Verlangen in der Gesellschaft seiner Schulkameraden. Es gab aber auch nichts Schöneres als die gemeinsamen Streifzüge, die gewöhnlich der Werlen entlang und etwa bis in die Steinbrüche des Kriesberges hinübergingen, mitunter jedoch bis in die Gräben des Prankenauer­waldes auf der Emmentalerseite sich erstreckten. Die Kunst bestand nur darin, mit Sicherheit festzustellen, welchen Strich jeweilen der Bannwart genommen hatte. Das gegenseitige Übertrumpfen an Schlauheit hatte einen ganz besonderen Reiz. Eines Tages war von den Ausspähern festgestellt worden, daß der «Bawi» nach Bern gefahren sei. Also los! In den Prankenauer Schloßwald. Eichhörnchen und Herrenvögel. Man schlenderte, nicht eben sehr zielbewußt, dem Känelgraben entlang gegen einen schmalen Waldriemen, der wie ein Gürtel den Westhang des Gummenhubels umgab, ein von den Hähern sehr bevorzugter 40 Eichensaum. Da tauchte plötzlich der beliebte Knauf des Dachschlosses über den Stoppeln der Hügelwölbung auf. Und obgleich der Munitionsvorrat gering war, mußte der Knauf eins haben. Man stritt sich um das Gewehrlein. Der Joggeli von der Studweid erklärte, nicht mitgehen zu wollen, wenn er jetzt nicht einmal an die Reihe gelassen werde. «Nun denn, so gib ihm eins!» entschied der glückliche Besitzer der Flobertbüchse. «Aber halt nicht zu hoch!» Joggeli zielte und schoß. Da stäubte es ganz nah im Brachfeld. «Höi!» brüllten sie alle im Chorus, «läßt der ihn in den Dreck!» Und ein Kalb sollte der arme Joggeli auch noch sein. Jetzt zeigte der Vögeli-Ruedi seine Vertrautheit mit der Waffe. Da man aber keinen Einschlag beobachtete, ward er nicht minder verhöhnt. Allen voran lachte ihn Heini aus. «So zeig du, ob du’s besser kannst!» maulte Ruedi. Heini warf sich in die Stoppeln, kroch ein wenig vor, schlug kunstgerecht an und zielte lang unter lautloser Stille. Wie ein geschulter Schütze krümmte er den Finger um den Abzug, und — pägg! saß das Kügelchen in der Urne. — Wo blieb der Beifall? — Heini blickte zurück. Allein auf weiter Flur. O daß er allein gewesen wäre! Aber ein Geräusch wie Flügelschlagen riß ihn aus dem Staunen, und schon krallte sich etwas wie Geierfang in seinen Hosenringgen. Hilf Gott! Es war das Neßleren-Mädi, das von der hintern Känelmatt heraufgekommen sein mußte. «So, Bürschli,» triumphierte es, «jetzt wohl, jetzt haben wir 41 einmal den Schützen. Jetzt wollen wir dich dem Herrn von Guldwang zeigen.» Heini machte einen verzweifelten Versuch, loszukommen, hätte gern mit dem Gewehrkolben das Mädi «erledigt»; aber das Gewehrlein befand sich schon in der Häscherin linker Hand. Er mußte bald einsehen, daß er verloren war und selbst mit Beißen nichts mehr ausrichtete. Auf den ersten Versuch mit den Zähnen hatte Mädi das Gewehr fallen gelassen, rasch Hand gewechselt und dem Gefangenen ein paar um die Ohren gehauen, daß er ein halb Hundert Dachknäufe um sich herumtanzen sah. Dann ging die grausige Fahrt weiter, feldab, dem Schloß zu. Mit jedem Schritt stieg die Verzweiflung. Jetzt wäre Heini lieber in den Tod gegangen als in die verfeinerte Kultur des Schlosses. «Mädi!» schrie er aus dem Abgrund seiner Not. «Mädi, laß mich gehn! Ich will dir alles z’lieb tun. Laß mich! Sie schicken mich dem Regieriger! Mädi! Um Gotts willen!»

Wortlos schleppte Mädi seine Beute bis hinter das Ofenhaus auf die Straße, wo ihm Kobi entgegenkam. Das war Heinis Glück. Nun stimmte nämlich Kobi seinen Triumphgesang an, wollte Mädi den Widerspenstigen entreißen und damit auch das Verdienst um die Herrschaft Prankenau. «Den bringe ich flugs ins Schloß, zum Herrn,» sagte Kobi. «Kannst dich freuen, Bürschli, das gibt einen saftigen Gunten für den Vater, all die zerbrochenen Ziegel und der Dachknauf mit den siebenundzwanzig Löchern!» Er riß Heini am linken 42 Arm und langte nach dem Gewehrchen. Aber Mädi ließ nicht von Heinis rechtem Arm und noch weniger von der erbeuteten Waffe. «Nichts da!» protestierte es, «der ist jetzt hingegen meiner. Du wärst mir schon ein kummlicher, du. Hättest weniger auf der faulen Haut gelegen, so gäb’s auch noch mehr ganze Ziegel auf dem Dach.» Bleich und zitternd fühlte sich Heini hin und her gezerrt und wagte nicht zu denken, welcher Abgrund ihn nun verschlingen würde. Woher hätte er nach so kurzer Erdenwallfahrt schon wissen sollen, daß selbst in einem Neßleren-Mädi sich eine Schwäche fand für solch schönen Buben?

«Nein,» sagte Mädi, «es ist gar nicht nötig, daß der alte Herr jedes Drecklein erfährt, das unsereins für ihn tut. In der Gschrift heißt es: ‹Laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut›, und selb gilt auch hie. Was hätte der alte Herr davon? Du weißt nicht, ob ihn nicht vor lauter Ärger noch der Schlag rührte, und dann? Es wär’ sich bei Gott nicht derwärt. — Ein Unflat bist richtig, weißt, Bub,» wandte sich die Gestrenge plötzlich gegen den Gefangenen. «Verdient hättest’s, daß man dir die Hosen herunterließe. Grad du, daß du dich nicht schämst. Nichts als Gutes haben dir ds Herren erwiesen, und dann gehst du und zerschießest ihnen das Dach.» — O wie es da tagte in des armen Delinquenten Herzen! Denn so viel Lebenserfahrung hatte er doch schon, auch wenn er’s nicht mit klarem Bewußtsein erwog, daß, wenn eins 43 sagt: «verdient hättest’s», die Gnade schon flüssig geworden, das Schlimmste überstanden ist. Und so brach aus seinen vor Angst blauer leuchtenden Grauaugen bereits der stumme, aufrichtige Dank.

Mädi ließ den Kobi stehen und führte Heini, immer noch in harter Faust, ein Stück Weges gegen die Känelmatt. Von bedingtem Straferlaß hatte sie ihrer Lebtag noch nie ein Wort gelesen, aber in der Praxis war sie den Richtern weit voraus. «Denk doch auch, du dummer Bub,» schalt es, «was du deinen Eltern für einen Kummer anemachst. Ich will jetzt der Mutter noch nichts sagen, aber viel braucht’s nimmer, so geschieht’s dann doch. Hast’s gehört?» Dabei hatte sie Heini am Schopf gefaßt, so fest, daß er von der Zürnenden sich tief in die Augen mußte blicken lassen. «Jetzt mach, daß d’ heimkommst!»

Heini warf einen fragenden Blick nach dem Gewehrlein. Aber «nüt da,» hieß es, «das behalte ich. Wollen dann schon sehen, wo’s hingehört.»

Nun blieb ihm bloß noch eine Sorge: Wie heimkommen, ohne daß er den Kameraden begegnete. Eigentlich waren die Feiglinge ja ihm gegenüber in der Schuld, aber das wog nichts gegen das Gefühl der Zerschmetterung, in der er sich vor ihnen nicht wollte sehen lassen. Unter Anwendung der äußersten Vorsicht gelang es Heini, unbemerkt seinen Kaninchenstall zu erreichen. Eine zeitlang sah er den Kraut muffelnden Lieblingen zu, ohne seine Gedanken von dem rein äußerlichen Gang 44 seines Vormittags­erlebnisses loszukriegen. Plötzlich fiel ihm ein, daß er die große flandrische Widderhäsin mit den gebrochen niederhängenden Ohren noch nicht gesehen. Die hatte sich in den letzten Tagen stark gemausert. Er stieg auf einen Holzklotz, öffnete das Gitter und hob behutsam den Schlupfkasten. Da schoß die Häsin heraus und schlug mit den Hinterläufen mißmutig den Boden. Und richtig! Im Schlupfkasten bewegte sich’s zitternd unter einem Häufchen Flaum. Drei, vier, sechs — sieben waren’s. Wonnige, kleine, mausgroße Häslein, die blind in dem wohligen Nestchen gramselten. Heini ließ den Kasten zufallen und war in einem Satz wieder drunten. Zur Hinter- und zur Vordertüre zugleich zog es ihn. Er mußte das frohe Ereignis eilends mitteilen, gleichgültig wem. In den Gemüsegarten rannte er, wo um diese Tageszeit sonst immer jemand war. Heute fand er dort niemand. Dafür hörte er droben im Hause Stimmen — der Vater war da. Der Vater! Etwas Unbehagliches durchzuckte des Knaben Herz. — Aber vom Schloß konnte ja noch niemand da gewesen sein. Vor lauter Eifer stolperte er auf der Treppe. Der Vater empfing ihn freundlich; aber, wie immer, schien er von Gedanken erfüllt zu sein, die ihm wenig Muße für die Kinder ließen. Seine Späße hatten immer etwas, das einen nicht so recht zum arglosen Lachen kommen ließ. «Bist lieb gewesen unterdessen?» fragte der strenge Mann, «oder muß man dich gleich wieder ein wenig nachebrätschen, he?» Er 45 freute sich dann aber doch über Heinis eifrigen Bericht aus dem Kaninchenstall. «Trage Sorge zu der Nestete,» sagte er. «die Flandrischen gelten etwas, wenn sie schön aufgefüttert sind. Das gibt dann was in den Sparhafen.»

Da die Eltern keine Lust bekundeten, herunterzukommen, mußte Heini sich damit begnügen, wenigstens der Schwester seine Häschen zeigen zu können. «Du,» sagte sie, «die sollten wir der Antoinette zeigen können, die hätte eine Freude dran!»

«Allweg,» sagte das Brüderlein, in dessen Vorstellungswelt schon bei der Entdeckung der flaumigen Herrlichkeit das Bild Antoinettes sich eingedrängt hatte, «aber weißt, es ist vielleicht besser, wir warten noch ein wenig. Wenn die Chüneli erst sehen und dann die ganze Riglete im Ställi herumhaset, wird’s noch viel lustiger.» Das mußte Röseli zugeben, und es ahnte nicht, daß nach Heinis schmerzlicher Vermutung der Aufschub um die paar Tage sich sehr wahrscheinlich zur Ewigkeit dehnen würde. Ihm war es ganz erwünscht, daß Röseli von den Eltern zu plaudern anfing und damit seine Gedanken von der grausam zerstörten Schloß­herrlichkeit abbrachte. Erfreulich klang nun allerdings, was die Schwester erlauscht hatte, auch nicht. Die Mutter, sagte sie, habe geklagt, es stehe nicht gut um ihre Gesundheit, und es wäre ihr lieb, wenn der Vater nicht so weit weg wäre oder wenigstens öfter heimkäme. Ihr sei manchmal so bange. «Ich hab’s 46 schon lang gemerkt, daß ihr etwas fehlt. Sie ist immer so müde und nimmt alle Augenblicke von den weißen Pillen, die sie im Schäftli hat.»

«Was hat der Vater dazu gesagt?»

«Eben hat er gar nichts gesagt. Zuerst hat er lange vor sich hingestaunt, und dann fing er an herumzulaufen, türein, türaus und auf der Laube auf und ab. — Aber jetzt komm, ich muß der Mutter beim Anrichten helfen.»

Das Mittagessen verlief still. Heini war’s höchst ungemütlich, denn der Vater unterbrach sein dumpfes Schweigen fast nur, um das Söhnchen auszufragen über die Schule und sein sonstiges Tun und Treiben. Der Mutter war dabei auch nicht wohl, denn sie fürchtete, die Kinder könnten darauf verfallen, zu erzählen, was sie im Schloß erlebt hatten. Glücklicherweise geschah das nicht. Wenn Hans Tillmann nach seiner Kinder Wohlergehen fragte, so glich er nicht dem stillvergnügten Manne, der, im Garten sich feiertäglich ergehend, an den roten Backen der Pfirsiche seine Erbauung findet, sondern dem Gärtner, der ungeduldig nach dem Stand ihrer Reife sieht, bei blauem Himmel stillschweigend über die Möglichkeit von Hagelwettern flucht und auf Schutz­vorrichtungen gegen Diebe sinnt. Noch ehe Heini und Röseli eine Gelegenheit erhaschen konnten, etwas von erlebten Freuden zu verraten, hatte sich der Vater seinen Zukunftssorgen von neuem ausgeliefert. Heini wurde auf die Laube geschickt. Röseli hatte den 47 Tisch abzuräumen, wobei sie «lange Ohren» machte, so daß sie nach Beendigung der Arbeit ihrem Bruder im Spielwinkel der Laube mitteilen konnte, was über ihn beschlossen sei. Der Vater, erzählte sie, habe gesagt, einstweilen sei es ihm noch nicht möglich, der Mutter zuliebe die Arbeit auswärts aufzugeben. Er werde zwar mit dem Gemeinde­präsidenten heute noch sich besprechen, ob die geplante Entsumpfung jetzt schon in Angriff genommen werden könne. Wenn ja, so käme der Vater dann öfter heim. Trotzdem aber wolle er Heini sobald als möglich nach Bern aufs Gymnasium schicken, damit er den richtigen Rank bekäme.

Heini spitzte die Ohren. «Was sagt die Mutter dazu?»

«Nichts. Kein Sterbenswörtchen. Ich glaube, es macht ihr das Herz schwer.»

Die Aussicht, nach Bern zu kommen, überschüttete den Knaben mit einer Fülle neuer Vorstellungen, hinter denen alles zurücktrat, was ihn eben noch so stark beschäftigt hatte. Er war damit noch gar nicht zurechtgekommen, als Röseli plötzlich aufsprang und sagte: «Eh! Was wollen jetzt die? Schau, Heini, Antoinette und ihr Vater!»

Dem Brüderchen war’s gar nicht geheuer. «Geh!» sagte er, «frag’ sie!» Und während Röseli zaghaft und neugierig die Treppe hinunterstieg, duckte sich Heini und beobachtete die unerwarteten Gäste durch die ausgesägten Blumen und Sterne des Geländers. Von Antoinette 48 konnte er nur die unter dem Hut hervorquellenden schön gewellten Locken sehen. Sie waren so dunkel, daß ihn dünkte, das weiße Kleid müßte eigentlich davon schwarze Flecken bekommen. Aber es schien im Gegenteil alles an ihr nur um so weißer, reiner, duftiger. Da war wieder jenes merkwürdige Etwas, das ihn so seltsam anzog und ihm doch so unerreichbar fern war.

Herr von Guldwang sprach sehr freundlich zu Röseli. Er lud Heini und seine Schwester ein zu einem Spaziergang nach Rautenberg, einem beliebten Ausflugsziel der Stadtberner, das gerade dem Schloß gegenüber auf dem jenseitigen Höhenzuge lag. Heini hätte aufjubeln mögen. Das Neßleren-Mädi stieg in seiner Achtung. Fast liebende Verehrung empfand er für sie, weil sie ihn nicht verklagt hatte. Aber nun schämte er sich seines Versteckens und wußte nicht, wie sich daraus hervorstehlen, ohne zu verraten, daß er hier die Begegnung belauscht. Wenn sie nun gar die Treppe heraufkamen! Die Situation konnte aber mit längerem Zuwarten nur noch peinlicher werden. So sprang er denn auf, zupfte das Kleid zurecht, wischte die Knie ab und ging an die Treppe, wo ihm auch schon Antoinettes freundlicher Gruß entgegenklang. Er schämte sich zwar seiner unsaubern Kleider; aber er stieg hinunter und grüßte höflich, während Röseli zu den Eltern eilte, um ihre Erlaubnis einzuholen. Der Knabe wußte nicht recht, was er reden sollte und riß verlegen an den Knöpfen 49 seiner Weste. Hätte nicht Herr von Guldwang mit ihm zu plaudern angefangen, so wäre er wohl vor lauter Verlegenheit davongelaufen, denn Röseli verzog unendlich lange. Die legte wohl gleich ihr Sonntagskleid an.

Noch viel größer aber als des Knaben Pein war die seiner Schwester, die jetzt schon vergeblich mit den Tränen kämpfte. Grob angeschnauzt hatte sie der Vater. «Was?» hatte er mit einem mißtrauisch forschenden Blick auf die Mutter gefragt. «Die vom Schloß wollen euch mitnehmen? — Das wäre mir nun das Allerneueste. Davon will ich nichts. Mit denen sollt ihr gar nichts zu tun haben. Verstehst mich?»

Röseli lehnte am Türpfosten und blickte seine Eltern scheu an. Erwartete der Vater von dem Mädchen, daß es Herrn von Guldwang solchen Bescheid bringe?

«Nun? Was fehlt noch?» fragte Tillmann ungeduldig. Seine Frau warf ihm einen bittenden Blick zu. Er verstand ihn nicht, meinte, die Mutter wolle den Kindern die Erlaubnis, mitzugehen, erwirken und brach in ein zorniges Gepolter über die aristokratischen Nachbarn aus. Als er ein wenig nachließ, wagte Frau Tillmann zu sagen: «Man sollte aber den Herrn nicht länger auf Bescheid warten lassen.»

«Der vermag’s zu warten. Er weiß ohnehin nicht, mit welchem Übermut er seine Zeit totschlagen soll.»

Als aber die Mutter sich erhob, um das weinende Kind aus seiner Not zu befreien, sprang Hans Tillmann auf, vertrat ihr den Weg und ging schweren 50 Schrittes der Treppe zu. «Laß mich!» herrschte er sie an.

Er hatte erwartet, den alten Schloßherrn zu finden. Daß statt seiner der junge Herr dastand, dämpfte ein wenig seine Aufregung; aber es kam immer noch derb genug heraus, als er sagte: «Guten Tag.» — Er wäre eher erstickt, als daß er’s über sich gebracht hätte, zu sagen: «Herr von Guldwang.» — «Sie wollten meine Kinder einladen? Das ist ja recht freundlich; aber sehen Sie, ich kann das nicht annehmen. Ich komme nur alle paar Wochen einmal einen Tag heim. Da wird niemand von mir verlangen, daß ich die Kinder dann noch mit andern Leuten spazieren schicke.»

«O das verstehe ich sehr wohl, Herr Tillmann,» sagte Herr von Guldwang. «Ich würde auch gar nicht gefragt haben, hätte ich geahnt, daß Sie heute daheim seien. Also, nichts für ungut. Ein andermal vielleicht. Adieu, Herr Tillmann.»

«Adieu,» sagte Vater Tillmann, der die unterste Treppenstufe nicht verlassen hatte. Und er wandte sich so rasch um, daß er gar nicht sah, wie liebenswürdig Antoinette sich von seinem Buben verabschiedete.

Herr von Guldwang ging schweigend mit seinem Töchterchen der Straße zu. Als er von dort auf das Känelmatt-Stöcklein mit seinem leuchtenden Blumenschmuck, den blitzblanken Fensterscheiben zurückblickte, kam ihn ein unbehagliches Gefühl an. Halb war’s Haß, halb ein Weh über die Kluft, welche immer noch 51 Menschen schied, die doch so gut den Kampf des Lebens gemeinsam bestehen, ja in Liebe verbunden sein könnten. Unübersehbar ist das Meer des Schmerzes all derer, die sich von den Begüterten abgestoßen fühlen; aber wer mißt die Tiefe des Leides eines wohlmeinenden Reichen, dem der kleine Mann, nach dem er die Hand ausstrecken möchte, trotzig den Rücken kehrt?

«Solch einen Papa möcht’ ich aber nicht haben,» sagte Antoinette, als sie ihren Vater so ernst nach der Känelmatt hinaufblicken sah. Sie bekam lange keine Antwort. Erst als sie schon gegen Schöchwyler hinunterkamen, sagte er, wie aus einem Traume heraus: «Es ist schade um den prächtigen Jungen.»

Bald nachdem er Antoinettes Vater seine Kinder verweigert hatte, verließ Hans Tillmann das Haus, ging nach Rafeldingen hinüber, zum Bäuert­präsidenten, und kam erst zum Nachtessen heim. Heiter gelaunt sah er auch jetzt nicht aus; aber er schien doch befriedigt von seiner Verhandlung mit den Rafeldingern, welche ihm die Ausführung eines umfangreichen Wasserfassungs- und Drainierungs­werkes anvertraut hatten. «Nun wirst du mich öfter daheim haben als bisher,» sagte er zu seiner Frau, «und wenn wir im Oberhasle fertig sind, so kann ich dann meinen Werkplatz hier aufschlagen und einmal etwas auf eigene Rechnung unternehmen.»

Diese Aussicht erfüllte Frau Tillmann mit einer solchen Freude, daß sie sich mit einem lauten «Gott 52 sei Dank» ihrem Manne flugs auf die Knie setzte, die Arme um seinen Nacken schlang und ihn auf beide Wangen küßte. So etwas — nämlich daß er’s geschehen ließ — war lange nicht mehr vorgekommen, trotzdem Verena Tillmann noch keineswegs verblüht, sondern eine recht anmutige Frau war. Gutmütig lächelnd, schalt Hans sie einen alten Ganggel und küßte sie wahrhaftig wieder. Verena legte ihr Haupt auf seine Schulter und spielte wie ein Kind mit dem stattlichen krausen Vollbart ihres Gatten. In der Seligkeit des Augenblicks wollten ihr Tränen in die Augen kommen. Sie kämpfte dagegen, schwieg und würgte. Durch die Fenster drang ein weicher herbstlicher Abendschein in die trauliche Stube, und es blieb lange so still, als ob kein lebendes Wesen da drin wäre.

«Was hast du?» fragte Hans plötzlich. Er hatte ein paar Tränen auf sein Kleid tropfen verspürt.

Mit erstickter Stimme sagte sie: «Ich weiß nicht. Mir ist so eigen...» Und nun löste sie sich von ihm, trat ans Fenster und blickte sinnend in den herrlichen Abend hinaus.

«Laß das Flennen!» schalt Hans ohne Härte. «Das taugt nichts. Schau, Vreneli, man muß nicht immer ans Auseinandergehen denken, wenn man sich doch endlich einmal hat. Komm, wir wollen ein paar Schritte tun.»

Sie stiegen miteinander vor das Haus hinunter, wo die Kinder ihren kleinen gärtnerischen Pflichten oblagen, saßen ein Weilchen auf der Bank unterm 53 Weichselspalier und spazierten dann, als die Sonne hinter dem Walm versank, wegab gegen die Straße, um dort noch einen Sonnenblick zu erhaschen. Frau Verena war jetzt wieder wohl zumute, und sie konnte sich der Freude auf kommende Tage hingeben.

Da lehnte, seine Pfeife rauchend, der Nachbar Vögeli, Bäuert­gemeinde­schreiber und mehr Gschäftlimacher als Bauer, über seinen Gartenzaun und wünschte den beiden einen guten Abend. Als sie weitergehen wollten, sagte Vögeli: «Ja, du, was ich noch sagen wollte: es wäre mir anständig, wenn dein Bub mir das Gwehrli bald wieder brächte.» Hans Tillmann blickte höchst erstaunt auf, während der andere listig mit den Augen zwinkerte. «Ja ja,» sagte er, «die Bürschlein haben scheint’s Unfug getrieben und sind dann erwischt worden.»

Nach wenigen Sätzen wußte Tillmann alles. Sein heiß aufwallender Zorn trieb ihn nach Hause. Aber Verena schlang ihren Arm enger um ihn und bat um Gnade für Heini. Sie fand sogar den Mut, ihrem Manne zu sagen: «Weißt, Hänsel, so ganz unschuldig bist du an der Geschichte nicht. Du hast dich vor dem Buben zu wenig in acht genommen, wenn du über den Dachknauf schimpftest.»

«Eben drum. Das muß jetzt gründlich zurechtgerückt sein.»

«Aber nicht hauen! — Denk doch auch, was du aus den Herzen der Kinder machst, wenn du den Buben jedesmal prügelst, so oft du heimkommst.»

54 Das Wort traf Hans Tillmann hart, und es kostete ihn Überwindung, sich der bessern Einsicht zu fügen. Allein, er war jetzt einmal in der Laune, das Zusammensein mit seiner Frau auszukosten, und wollte sich’s ersparen, ihre Stimmung aufs neue wieder herstellen zu müssen.

Heini lähmte der Schreck, als die Türe seiner Schlafkammer aufsprang und die gewaltige Gestalt des Vaters die Fußdielen vor seinem Bette ächzen machte. Sogleich ahnte er, daß seine Streiche verraten seien, und er duckte sich in Erwartung einer grausamen Züchtigung an die Wand. Den Möbelklopfer suchte er zwar umsonst in des Vaters Hand; aber er wußte, daß der Erzürnte imstande war, ohne Besinnen nach dem erstbesten Gegenstand zu greifen, um ihn damit zu schlagen. Schwarze Angst blickte Tillmann aus den weitgeöffneten Augen seines Knaben entgegen, der sich aufrecht an die Wand lehnte und das Bettzeug an sich riß, um sich zu bedecken. Heini vergaß zu atmen, als er die Frage beantworten sollte: «Bub, was hast du mit Vögelis Gewehr getrieben? Wo hast’s?»

Jetzt griff die unerbittliche Hand nach ihm. Sie faßte seinen Haarschopf so fest, daß ihn dünkte, die Kopfhaut müßte sich loslösen. Der Vater zog ihn zu sich heran und sagte: «Weißt, Bub, du brauchst mir nicht zu versprechen, daß du’s nie wieder tun willst, wie du’s im Brauch hast, wenn du die Rute riechst. Es ist nicht nötig, denn ehe noch das Gewehrchen wieder in Vögelis Hand ist, bist du in Bern beim 55 Vetter Ernst. Der wird dich kuranzen, daß dir der Unfug vergeht. Bei uns erträgt sich’s nicht, daß man Vater und Mutter Verdruß macht. Eltern, die sich nicht überarbeiten müssen, um zu ihrer Sache zu kommen, mögen’s drauf ankommen lassen; aber wir...»

Er ließ den Strubel fahren. Heini verkroch sich und atmete erst wieder auf, als der Vater, sich umwendend, sagte: «Du weißt, was du zu tun hast. — Gut Nacht.»

Die Türe fiel ins Schloß. Eine Weile starrte Heini in die verdämmernde Stube, verwundert über das Ausbleiben der Züchtigung. Dann fiel ihm das Wort vom Verdrußmachen auf die Seele. «Habe ich der Mutter Verdruß gemacht?» — Heini lehnte sich auf gegen den Vorwurf; aber er war ehrlich genug, um sich einzugestehen, daß sein heutiges Tun der Mutter bitteres Leid hätte bereiten können, daß sie für ihn hätte büßen müssen. Gott sei Dank war es nicht soweit gekommen. Zum erstenmal ward dem Knaben bewußt, daß sein Vater nicht aus Laune alles so ernst nahm. Er kämpfte offenbar um etwas, das ihm sehr wichtig war. Über diesen Gedanken befiel der Schlaf den von Eindrücken erschöpften Knaben.


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