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XVII.

Den Pfarrleuten zu Hilbligen gefiel Heinzens Wesen in den ersten Tagen des neuen Jahres gar nicht. Für ihn schien es keinen Unterschied zwischen Spazier- und Stubenwetter zu geben. Besann sich Franz Dengeler, ob das Verlangen eines wunderlichen Kranken nach seelsorgerlichem Trost es auch wirklich rechtfertige, daß er seinen angegriffenen Hals — der mußte doch für die Verkündigung des Wortes glatt bleiben — den Unbilden der Witterung aussetze, so war Heinz längst im froststarrenden Waldrevier draußen. Zuhause war er so wortkarg, daß man fand, er hätte seine Ferien ebensogut in Bern zubringen können.

«Es hängt, das laß ich mir nicht nehmen, mit dem geschnitzten Dings da zusammen, mit dem Vogel,» sagte Frau Röseli beim summenden Teekessel zu ihrem Mann, und der brümmelte hellen Triumphes vor sich hin: «Ja, ja, Heinerli, an deinem Herzen frißt noch was anderes als der Eifer um des Herrn Haus.» Der Frau Pfarrerin fiel auf, daß sie beim Aufräumen von Heinzens Stube fast täglich zerknitterte und verbrannte Briefpapier­fetzen fand, welche ihres Bruders Schriftzüge trugen. «Aha,» dachte sie, «der Dankesbrief an die vornehme Freundin macht dem Brüderlein Sorgen.» Weder sie, noch ihr Mann ahnte, was Heinz auf seinem Herzen forttrug, als er am Schluß der Neujahrsferien in 321 die Stadt zurückkehrte. Er nahm den Weg über die Lorhalde. Obwohl sehr kalt, strahlte der klare Wintermorgen etwas wie fernes Frühlingsahnen. Der blaßblaue Himmel war mit einer zahllosen Herde rosiger Schäfchen bedeckt. Sie empfingen ihr schillerndes Licht aus dem Glutstrom, den die schon östlich des Schreckhorns aufgehende Sonne aus ihrer Wolkenpforte über das Eismeer der Strahlegg schüttete. Das Frühlingsahnen lag nur in des Wanderers Seele; denn im weiten, Purpur hauchenden Waldgürtel von Hilbligen knisterte noch gleißender Frost. Und in dem holden Ahnen zitterte, es anfachend, das süße Gelüsten nach verbotener Frucht. Die leuchtenden Berge lockten. Dort, zu ihren Füßen lag Zwischenflüh. Durch das wilde Tal führte die Straße zum Sillernpaß. Ja, Heinz hatte manchen Brief zerrissen. Alle waren ihm zu laut geraten. Und derjenige, den er endlich doch der Post anvertraute, weil die Dankesbezeugung nicht länger unterbleiben durfte, war auf das Nichtssagendste zurück­geschnitten, was der Schreiber über sich brachte. Alles andere — ja, was denn, Heinz? — sollte der Fußreise über den Sillernpaß vorbehalten bleiben. Was denn! Zum Kuckuck! War es denn nicht ganz natürlich, die Gemeinde sich einmal anzusehen, die einem nach Jahren anvertraut werden sollte? Doch, Heinz, ganz natürlich, ganz — natürlich.

Vater Tillmann gab seinem Sohn von der Lorhalde aus ein gut Stück weit das Geleite. Als sie der 322 Waldlücke zustrebten, blieb er plötzlich stehen. Zur Linken lag dort die berühmte waldgeschützte Wässermatte von Gödis Gödel. Heute schlummerte die Kostbare unter rosig schimmernder Schneedecke. Aus dem feuerblauen Schatten des östlichen Waldsaumes flogen ein paar Raben. Die waren es aber nicht, die den Blick Hans Tillmanns auf sich zogen, sondern das in der Kälte dampfende Roßgespann und der Bauer, der sich dort mit seinen Knechten zu schaffen machte. Die Schneedecke hatten sie schon in langer Linie aufgeschürft. Der Bauer — Gödis Gödel — stand neben der dunkelbraunen Furche und verwarf, sich zu erwärmen, die kräftigen Arme. Hans Tillmann tat es auch, nicht um sich zu erwärmen, sondern um seinem Ärger Luft zu machen. «Da siehst,» sagte er zu seinem Sohne, «so sind sie — allesamt. Vor etlichen Tagen habe ich dem dort meinen Entwässerungsplan gezeigt mit Grundriß und Profilen. Ich hab’ gedacht, wenn doch unserm Bauer mein Rat nichts gilt, so sei vielleicht der andere gescheiter. Weißt, was er mir geantwortet hat? — ‹Teufelsdreck›, hat er gesagt, ‹ich bin länger da als du, weiß wohl, was das Härdli nutz ist. Mich braucht kein verdingeter Nütnutz zu brichten.› Er wollte etwas anderes sagen, Heinz.» Hans Tillmann faßte seinen Sohn fest am Arm, als suchte er an ihm eine Stütze. «Weiß schon was und muß noch froh sein, daß er’s verhalten hat. Aber ich kenne das Volk dieser Gerechten und weiß, was man schlucken muß, um seine Reputation 323 durchzuzwängen. Drum hab’ ich dem Stolzgrind gesagt: ‹Behalt den Plan bis morgen. Sinn’ drüber nach.› Drauf hat er wieder zu schimpfen angefangen und zu lamentieren über alles, was das Jahr hindurch den Bauer plagt und wie einer ja nie wisse, wo das Geld zum Nötigsten hernehmen, geschweige denn zu solchem Schwindelzeug. Und derweil hat er in allem Reden den Plan studiert und sich wohl auch die Maße gemerkt. ‹Nimm nur dein Spekulier­projektli wieder mit!› Damit hat er mir den Plan zugeschoben und mich ziehen lassen. — Jetzt probiert er’s doch. Aber, was gilt’s, er orientiert’s nach einer andern Seite. Statt den Ablauf nach dem Waldgraben zu leiten, legt er ihn gegen meines Bauers Land hin, damit er ihm hernach sagen kann: ‹Dein Schützling, der Tillmann, hat mir’s so angegeben.› — Daß ich immer noch Esels genug bin, einem Menschen ehrlich Wesen zuzutrauen!»

Hans Tillmann schlug sich bei den letzten Worten vor die Stirn und begann weiterzuschreiten.

«Vater,» sagte Heinz, «du hast in etwas recht. Aber ich glaube, auch du würdest klug tun, dich anders zu orientieren. In Gottes Namen von den Menschen ab! Es tut ja weh, wenn man einem das Gutgemeinte nicht abnehmen will; aber denk’ dran, daß einst einer über die Erde gegangen ist, der nicht nur etwas Gutgemeintes bringen wollte, sondern den Menschen das Gute hinstreckte. Und was haben sie gemacht? Angespien haben sie ihn und die Hände und Füße, die das 324 Gute trugen, haben sie ihm festgenagelt. Und solches tun wir heute noch.»

«Wir?»

«Ja, Vater, du und ich und wir alle.»

Eine Weile gingen sie schweigend auf den Karrgeleisen im knarrenden Schnee waldein. Dann blieb Hans Tillmann plötzlich stehen, reichte Heinz die Hand und sagte: «So bhüt dich Gott, Heinz. — Komm etwa wieder und vergiß mich nicht.»

«Leb’ wohl, Vater. Verlier’ den Mut nicht,» antwortete Heinz.

Oft noch wandte er sich im Weitergehen um, bis die von den hohen Buchenkronen hernieder­rieselnden Schleier gelösten Rauhreifes seinen Augen die langsam hinschreitende Gestalt des Vaters entzogen.

*  *  *

In emsigem Fleiß arbeitete sich der junge Theologe durch die zweite Hälfte des Wintersemesters. Außerhalb der Hör- und Bibliotheksäle sah ihn kaum jemand. Den Freund Bär mied er mit Überlegung. Nicht zwar, daß er befürchtet hätte, durch ihn am Studium gehindert zu werden; aber Heinz war seit der Neujahrsnacht durchaus nicht mehr geneigt, den Erwartungen, welche Mirabeau von ihm hegte, entgegen­zukommen. Das widersprach den Gefühlen und Überlegungen, mit denen er an seine Zukunft dachte, und er wußte sehr wohl, daß er, einmal in Berührung mit Bär, dessen 325 Argumente nicht leicht zu widerlegen vermochte. Er besaß eine gewisse Macht über ihn. Der Student mied aber auch jemand anders, der häufig seinen Weg kreuzte. War Lilian Merle auf Gelegenheiten des Zusammen­treffens bedacht, so wurde Heinz immer geschickter, ihnen auszuweichen. Bei alledem gewann nun zwar seines Herzens Frieden nichts, dafür destomehr seine Wissenschaft. Das Hebräisch-Examen lag hinter ihm. Die kurzen Frühjahrsferien hatte er ohne besondere Erlebnisse bei den Geschwistern zugebracht, und jetzt stand man schon im Sommersemester.

Dem freundlichen Anerbieten des Pfarrers Jeanmaire, seine kleine Gartenterrasse gelegentlich als Studierstube zu benützen, hatte Heinz Tillmann um so weniger widerstehen können, als die Luft seiner Mansardenstube oft auch gar so dumpf wurde. Und was gab es Schöneres als der trauliche Winkel, wo eine efeuübersponnene muschelartige Mauernische dicht am Hause die Terrasse gegen den Nachbargarten abschloß? Ein paar Flieder, leuchtend rote Feuerbüsche und Goldregen­bäumchen umrahmten den heimeligen Ausblick nach dem gegenüber­liegenden waldigen Aarebord, und in das melodische Rauschen des großen Wehres warf das Vogelgezwitscher lustige Triller.

Manchmal klang noch etwas anderes hinein. Aus den hochliegenden Fenstern scholl in stillen Morgenstunden die weiche Stimme Lilians. In den ersten Tagen, seit Heinz die Terrasse benützte, klang das ganz 326 natürlich und ungesucht, bald nahe am Fenster, bald aus der Tiefe der Zimmer. Das Mädchen sang, während es seinen Haushaltungs­geschäften oblag, nicht anders als der Fink, der, von Ast zu Ast hüpfend, seine Lebenslust auskündet. Das währte nun schon ein paar Wochen, und Heinz nahm es hin als etwas, das zu dem kleinen idyllischen Leben dieses Winkels gehörte. Als der längste Tag vorüber war, blieben die Fensterläden tagsüber meist geschlossen. Das fliegende Orchester der Terrassenbüsche hatte den großen Urlaub angetreten. Aber die Amsel im Hause sang hinter den grünen Läden weiter, deren bewegliche Brettchen gleich nieder­geschlagenen Augenlidern in den Garten blickten. Und nun fiel auf einmal Heinz etwas auf. Es war ihm, als läge in der Wahl von Lilians Liedern die Andeutung eines Lebensprogramms. Dazu waren Töne und Worte voller Sehnsucht. Ach, daß ihm solches nie zum Bewußtsein gekommen wäre! Er wollte sich’s ausreden; aber die Stimme der Heimatlosen hallte in seinem Ohre fort, auch wenn der Gesang hinter den Läden längst verstummt war. Von Tag zu Tag schwerer begann die anklagende Stimmung des Gärtleins auf ihm zu lasten. Die einst so gemütliche Gartenfront des alten Hauses hob an, eine eindringliche Sprache mit Heinz zu führen. Es kamen stille Stunden, die ihm zuraunten: Erlöse sie, und du wirst das Glück einer Glücklich­gewordenen teilen. Heinz, überlege dir’s! Und Heinz überlegte; er wollte den Verstand zu Worte kommen lassen, 327 um nicht einer törichten Regung des Herzens seine Zukunft zu opfern. Aber wie sonderbar! Der Verstand entschied für Erhörung des Heimweh­gesanges, und das Herz, der unerbittliche, berufene Richter über die Wahrhaftigkeit, entschied dagegen und war der Stärkere. Es rief aus dunkler Tiefe: Ich gehöre einer andern. Nun war’s aus mit seiner Ruhe in dem stillen Winkel.

Eines Morgens war dem singenden Hausmütterchen ein Staubtuch vom Fenster hinunter­gefallen. Der Student hatte es nicht bemerkt. Auf einmal stand Lilian im hellen Sonnenglanz auf der Freitreppe. Freimütig wünschte sie ihm einen guten Morgen. Bestechend war ihr Bild, als sie mit schwebenden Füßen die altersgrauen Stufen herabstieg. Heinz war verwirrt. Erst als sie auf den Rasen hinaustrat und das Tuch aufhob, begriff er die Ursache des Besuches. Er stammelte etwas von schönem Sommerwetter, worauf sie in ungezwungenem Plaudern einging.

«Sie haben Reisepläne, Herr Tillmann?»

«Woraus schließen Sie das?»

«Man brachte gestern einen Eispickel und einen Rucksack für Sie.»

«Ach so? — Ja, es ist allerdings ein alter Plan. Wenn das Wetter sich bis zu den Ferien hält, so möchte ich mal ein wenig klettern gehn.»

«Über Eis und Schnee? — Darum könnte ich Sie beneiden. Haben Sie große Touren vor?»

«Das nicht gerade. Aber so ein wenig Gipfeleinsamkeit 328 schickt sich doch gut zu meinem Beruf. — Ich dachte zunächst an eine Wanderung über den Sillernpaß.»

Heinz hatte bei diesen Worten, die ihm entwischt waren, das unangenehme Gefühl einer leisen Blutwallung. Ob er wohl rot geworden? — Sofort einfallend, hatte Lilian erwidert: «Ach, über den Sillernpaß? Dann reisen wir doch zusammen. Ich gehe mit Herrn Jeanmaire zu Anfang der Ferien nach Zwischenflüh.»

«Ah,» zwang sich Heinz, möglichst gelassen zu sagen. «Sie werden Ihre Freundin, Frau Delierre, besuchen.»

«Jawohl.»

Nun wußte Heinz, daß er andere Wege einschlagen würde. Und Lilian sollte es gleich von Anfang an wissen.

«So lieb mir Ihre Gesellschaft wäre,» sagte er, «werden wir doch wohl getrennte Wege gehn. Ich gedenke von hier aus alles zu Fuß zu machen, in wachsenden Trainier­märschen. Und, um mit einem Ihrer Lieblings­dichter zu reden: ‹Lasse gern die andern breite, lichte, volle Straßen wandern.›»

«Woher wissen Sie denn, daß das ein Lieblingslied von mir ist?»

Heinz zeigte nach den Fenstern hinauf. «Das haben die mir verraten.»

«Ist doch ein herrliches Lied. Finden Sie nicht auch?»

329 «Es ist ein schönes, stimmungsvolles Lied,» sagte Heinz spröde, «aber keineswegs mein Fall.» Und auf die staunenden Blicke Lilians hin ergriff er die Gelegenheit, um ihr scharf hinzuzeichnen, daß seine Lebensziele auf einer andern Linie lagen als das Sehnen ihrer Lieder. «Die tiefste Versenkung in Gott taugt nichts, wenn sie nicht dazu führt, daß man sich seinem Volke hingibt. So wenig, wie ich das Recht habe, mein irdisch Hab und Gut mir allein zunutze zu machen, so wenig habe ich das Recht, was ich an Herz und Geist besitze, meinen Mitmenschen vorzuenthalten.»

«Sie tun aber dem Dichter unrecht,» wandte Lilian ein. «Hardenberg hat doch nur Hingabe an Gott im Auge, wenn er sagt: ‹Wenn ich Ihn nur habe, wenn Er mein nur ist!›»

Mit gewallter Härte erwiderte Heinz: «Gott hingeben können wir uns doch nur, indem wir den Menschen uns in Liebe opfern. ‹Was ihr einem dieser Geringsten tut, das habt ihr mir getan.› Oder wollen Sie lieber Schafe und Rinder auf einem Altar verbrennen? — Mit frommer Beschaulichkeit bahnen wir dem Reiche Gottes den Weg nicht. Solange es noch einen Darbenden auf Erden gibt, ist es mit dem harmlosen Genießen im Angesicht Gottes aus.»

«Sie schauen mich an, als wollten Sie mich eines selbstsüchtigen Lebens anklagen,» sagte Lilian lächelnd.

«Ob meine Worte für Sie einen Vorwurf bedeuten, Fräulein, können nur Sie entscheiden. Mir liegt bloß 330 daran, Sie nicht im Unklaren zu lassen über meine Ziele.»

«Die sind mir interessant,» versicherte Lilian, sich der Treppe zuwendend. «Ich hoffe, wir werden bald Gelegenheit haben, weiter darüber zu reden.»

Nun war auch dieser Vogel zum Schweigen gebracht, ohne daß jemand sich ihm zum Bau eines Nestes anerboten hätte. Lilian fand die harmlose Stimmung zum Singen nicht mehr. Heinz aber fühlte, daß er das Gegenteil von dem erreicht hatte, was seine Absicht gewesen. Die Schroffheit seiner Enthüllungen hatte Lilian zum Nachdenken gebracht, statt sie abzuschrecken. Ihr Einlenken ließ ihn eher ahnen, daß weitere Diskussionen sie einander nur noch näher bringen würden. So entschloß er sich nach wenigen Tagen, während der Sommerferien seine Zelte abzubrechen und auf das Wintersemester an eine andere Universität zu ziehen.

*  *  *

Heinz Tillmann war, seinem Vorsatz getreu, auf Schusters Rappen den Bergen zugewandert. Den Seen entlang war er über Maienschachen hinaus gekommen. Das Wetter war nicht immer blank gewesen, aber just so, wie’s Einer braucht, den der Trutz landein treibt. Eine Strecke weit waren die Bremsen dracksbös, als ließe der Teufel ihnen nur noch fünf Minuten Lebenszeit. Dann gab’s einen Regenguß, so dicht wie aus einer Schaumkelle. Trotzdem liefen des Wanderers 331 Blicke hellauf den Bergwänden entlang und freuten sich jeder blauen Schlucht, jedes träumenden Tannenheeres, jeder wegsperrenden Fluh. Mochte es in jedem Windstoß, in jedes Wildbachs Brauselied raunen: Heinz Tillmann, was suchst du?! Ob dem Gesäusel kehrte er wahrlich nicht um. Wenn’s dem lieben Gott nicht recht war, so standen ihm ja Wasserströme, altersmürbe Grattürme, Lawinen und Wetterstrahlen genug zu Gebote, um ihm den Weg zu verlegen. Nun lag da vor ihm, wie ein wiederkäuender Stier, der Bolgen quer über das Tal. Steil dehnte sich seine Flanke in der Mittagssonne. Der Balg des trotzigen Hüters, ein weitläufiger Fichtenwald, wartete und schwieg. Nein, auch der summte die Frage, die den Ferienwanderer Tag und Nacht verfolgte.

«Zum Kuckuck! Warum soll ich, Heinz Tillmann, angehender verbi divini minister, nicht über diesen Bergbuckel, einen Blick tun in das Land, das mir Gott der Herr geben will, damit ich es baue zu seiner Ehre?»

Die Schatten der Wettertannen zeigten nach dem Ziel seines Ganges, so daß er das Hochtal im Vollglan der Abendsonne zu sehen bekam. Wo der Weg über die jenseitige Kante zu fallen begann, gaben ihm die Tannenspitzen den Ausblick nicht frei. Drum bog er ab und klomm auf einen Felsenvorsprung. Da lag nun die ganze Herrlichkeit vor ihm ausgebreitet. In schwindelnder Tiefe, mit wenigen Bauernhäuschen übersäet, dehnte sich im weichen Schatten des Bolzen der 332 flache Talboden. Zur Rechten fing die ungeheure, rote Bruchfläche der Achsenwand das Sonnenlicht und warf es als weichen Ton in die Bläue des Abgrundes. Ihr gegenüber öffnete sich zur Linken das einsame Gandeggtal, dessen herwärtige Flanke im tiefen Schatten lag. Ihre gezackten Schlagschatten schoben sich langsam an den gegenüber­liegenden Hängen über die nach oben spitz verlaufenden, von zahlreichen Runsen zerrissenen Wälder empor in das grausig zerklüftete, rot glühende Fluhgewirr des Dossen, aus dessen Kaminen schmal­geschmolzene Lawinenzüge niederhingen. Dem Dossen gegenüber türmte sich, in scharfem Scheidegrat aufwachsend, der Gertenstock, dessen Firnschneide, wie von der Erde getrennt, aus einem breiten, rötlichen Nebelkragen in den blauen Himmel schnitt. Der schäumende Gletscherbach, der zwischen diesem Berg und der Achsenwand von rechts in den Talboden stürmte, lag schon im Schatten. Dem Wanderer grad gegenüber, tief eingeschnitten zwischen Dossen und Gertenstock, zog sich das wildromantische Ruhsetal in zahllosen Stufen hinauf bis in die tief verhangenen Klüfte des Sillernpasses. Aus dem purpurnen Schoße dieses Tales herunter ließ eine in Zickzack gelegte Kette weißschäumender Wasserfälle den Lauf der Ruhse erraten. Im Halbdunkel dieser urmächtigen Talrinne war eine Gruppe heller Punkte just noch zu erkennen. Das mußte das Pfarrdorf Zwischenflüh sein. Erquickend weich und doch majestätischer Gewalt voll klang das in den Abendwinden 333 auf- und abschwellende Rauschen der tausend Wildbäche, die in den zahllosen Kerben dieser gewaltatmenden Felsenwildnis rumorten.

«Wahrlich, hier hört man den Odem des lebendigen Gottes», sagte sich Heinz. «Wer da nicht aufgeht in der Verkündigung seiner Herrlichkeit, verdient nicht, Mensch zu heißen.» Kindlich fromme Freude kam über ihn. War nicht schon das übergenug, um sich nach einer so trüben Kindheit mit lautem Jubelruf den kommenden Jahren entgegen­zuwerfen? — Und doch war es nicht alles, was ihm entgegenlachte. Noch mehr, noch mehr! Hier warfen des Leibes trunkne Augen ihren ersten Blick in das gelobte Land. Aber sein Herz eilte voraus in das Himmelsland einer Weibesseele, nach der es in allen Fasern dürstete. War sie nicht die Perle in diesem Meere von Gottes­offenbarung?

Schweigend stand hinter dem Wanderer das Heer der Tannen, als vor ihm Wolken, Firn und Felsen im Scheideblick der Sonne aufloderten.

Stürmenden Schrittes mußte Heinz seinen Weg fortsetzen. Heute noch, heute noch in das beseligende Licht der Augen, die er suchte! Er sprang auf, wandte sich um und erblickte — die stumme Schar der Tannen — und sann — und erwachte. Da war ihm, als legte sich der Arm seiner Mutter um seinen Hals und als blickte er in ihre fragenden Augen. Gesenkten Hauptes lenkte er seine Schritte wieder gegen die scheidende Sonne. In Maienschachen wollte er sich noch einmal 334 zur Ruhe legen, noch einmal nachdenken, ehe er seinen Wanderstab nach dem Willen seines Herzens weitersetzte.

Als die Hähne krähten, schlummerte das Tal noch in seinen blauen Schatten. Aber auf den höchsten Kämmen lag rosiger Morgenglanz, und der Himmel wölbte sich wolkenlos. Auf! — Bald marschierte Heinz Tillmann zuversichtlichen Schrittes dem Bolzen zu. Potz tausend, so hatte er sich in der Frische des Morgens ausgelacht, du willst ein Gottesbote und Heilsverkünder sein und fürchtest dich vor den Augen eines Weibes? Wie willst du denn durch das Leben kommen? Alles ist Euer.

Bald schon erreichte er die jenseitige Kante der mächtigen Talsperre. Aber heute blieb er nicht stehen. In rüstigem Ausbreiten nur verglich er den Morgen mit dem Abend, und noch herrlicher erschien ihm das Reich seiner Zukunft. Auf allem lachte der glare Sonnenschein. Aus den blauen Einbuchtungen blitzten die silbernen Bäche, und zwischen den hohen Felstürmen zu beiden Seiten des Haupttales zeichneten sich blinkende Firnkämme ab. Die tiefe Talsohle durchwandernd, besah sich nun Heinz das, was ihn einst näher angehen würde, die Menschen und ihre Behausungen. Die Häuser waren lieblich und trugen allerhand leuchtenden Blumenschmuck. Kaum eines, in dessen sauberer Traulichkeit man nicht gern sich niedergelassen hätte. Aber die Wohnlichkeit vermochte doch das Auge dessen nicht zu täuschen, der 335 lange genug zwischen den großen Bauernhöfen des Flachlandes gelebt hatte. Die mit einer dünnen Zeile von Saubohnenstauden eingehegten Kartoffel­äckerlein, nicht größer als ein Stubenboden, die dürftigen Getreide­plätzlein, jeder Weg, jeder Hag, jeder Brunnen, alles zeugte unwiderlegbar von harter, zäher Arbeit, von geringem Ertrag und ständiger Bedrohung. Trümmer von Brücken, Ruinen von Hütten verrieten die blinde Grausamkeit der hier herrschenden Gewalten. Im Schirm einer überhängenden Felsmasse hielten Zigeuner Rast. Das malerische Gesindel schien Heinz vorzüglich in die Gegend zu passen. Ein paar hundert Schritte weiter begegnete er dem talwärts rasselnden Postwagen. Wanderfaule Touristen hielten ihn besetzt. Dann kam ein wunderlieblich Bild: ein Mädchen schritt, ob allem Gehen strickend, eine mächtige Hutte auf dem kleinen Rücken, hinter drei glöckelnden Ziegen über eine Holzbrücke, gegen deren leichte Tragbalken die brausende Ruhse silbernen Gischt warf. Das Kind blickte heiter und erwiderte sittsam des fremden Wanderers Gruß.

Nach einer Schlucht, deren Grund das Sonnenlicht nur zu sehen bekam, wenn die Sonne im Zenith stand, weitete sich das Tal zu Weiden. Zur Linken lagen sie fett und krautig; jenseits aber hatte eine Lawine ihren öden Schuttkegel in roher Breite bis an den tosenden Fluß vorgeschoben.

Wieviel Gewalttat, wieviel Wunden und grausame Schürfung barg doch, von nahe besehen, das gotterfüllte 336 Landschaftsbild, das gestern und heute morgen noch Heinzens Augen trunken gemacht! Warum nur blieben die Menschen in solch unwirtlichem Lande? Warum zogen sie nicht weiter, wie die Zigeuner? Waren sie etwa durch Stärkere von den fetten Tristen des Unterlandes bergan gedrängt worden auf das karge Erbteil der Verschupften? In Heinz erwachte Liebe zu dem verstoßenen Völklein. Das also, sagte er sich, wird meine Herde sein. Ja, ich will ihnen dienen, will sie an die Güte und Gerechtigkeit dessen erinnern, der sich Lob zurichtet aus den Verheerungen der rohen Gewalt. — Oder werden am Ende sie mich glauben und hoffen lehren?

Wahrlich, es war eines Dieners der frohen Botschaft würdig, was Heinz bewegte, als er die breitere Talstufe erklomm, auf welcher plötzlich, an sanftem Hange das Dörflein Zwischenflüh sichtbar wurde. Das spitze Türmlein der Kirche überragte kaum die Firsten der Dorfgasse. Auf einmal ward Heinz wieder enger um das Herz. Soll ich Kopf hoch, Blick gradaus, im Sturmschritt hindurch marschieren, stracks nach der Sillern?

Da waren schon die ersten Häuser, dunkel gebeizte Wände mit vielen kleinen Fensterchen. Breite, mit Steinen beschwerte Schindeldächer, über denen sich Frühling und Herbst beinahe die Hand reichten. Aus stattlicher Holzfassade sprang über einer steinernen Freitreppe ein Wirtshausschild mit aufgemaltem Bären in 337 die Dorfgasse. Schräg gegenüber stand auf engem Kirchhof das — Gotteshäuslein. Heinz vermochte beinahe die Dachrinne mit der Hand zu fassen. Neugierig spähte er durch einen Fensterflügel in das Halbdunkel seiner künftigen Wirkungsstätte, als er seinen Namen rufen hörte. — Alles Blut schoß ihm zum Herzen. Er fühlte sein törichtes Erröten, als er sich umwandte und Antoinette Delierre vor sich stehen sah. Freundliches Erstaunen lag auf ihrem Gesicht. Zu jener Zeit stellte man sich das wandernde «Wort Gottes vom Lande» und seine Jünger noch in staubiger Rohrhose und abgeschossenem Schoßrocke vor, mit Kalbfelltasche und unbeschorenem Haupthaar. Da war nun freilich der «Amerikaner» anders angetan. Er ging, der einzige an der ganzen Universität, in Kniehosen und knapp sitzenden Gamaschen. Sein Haar war kurz geschoren, das Gesicht sauber rasiert, kurz, er durfte sich auch an vornehmeren Tischen sehen lassen als hier im «Bären», wo Antoinette vorläufig ihr Sommerquartier bezogen hatte.

Heinz fand auch sie ein wenig verändert. Sie war etwas schlanker geworden, ihre elfenbeinerne Haut trug die Spuren des belebenden Berghauches. Das schicke Sportkostüm, welches sie täglich trug, um ihrem Manne auf den Gängen seines Berufes jeden Augenblick nachsteigen zu können, stand ihr zum Entzücken.

«Sie denken wohl, wir muten Ihnen eine bescheidene Kanzel zu,» sagte Frau Delierre; «aber ich kann Ihnen 338 sagen, das Kirchlein wird für Sie Nebensache sein. Sie werden das Evangelium unter freiem Himmel, freilich oft in Sturm und Schneegestöber, auszukünden haben. Sehen Sie, Herr Tillmann, dort draußen, an den Hängen der Horlaui, liegt unser Arbeiterlager.»

«Das sind doch wohl meist Italiener, Katholiken?» wandte Heinz ein.

«Es sind viele Italiener dabei, aber auch Einheimische. Die Italiener machen uns keine Sorgen, aber die unsrigen sind verseucht. — Ah, ich sehe, das Wort mißfällt Ihnen, Herr Tillmann — oder darf ich Sie noch Heinz nennen? — Aber glauben Sie mir, es hat seine Berechtigung, das häßliche Wort. Denken Sie ja nicht, daß ich kein Herz für die Arbeiter habe. Im Gegenteil, gerade deshalb liegt uns ja so sehr daran, daß Sie hierher kommen. — Aber nun wollen wir in den ‹Bären› gehen. Sie sind gewiß sehr hungrig. Wie weit sind Sie denn heute schon gegangen?»

«Ich komme von Maienschachen und will heute noch zum Sillernhospiz hinauf.»

«Ach, schon wieder weiter? — Wirklich? Das wird Marcel leid tun; er kommt nicht zu Tisch. Es lohnt sich nicht, vom Galmersee, wo sie jetzt einen Stollen sprengen, herunterzukommen. — Sie essen natürlich mit mir. Wenn Sie um 4 Uhr aufbrechen, kommen Sie noch tags auf die Paßhöhe. Ich werde Sie ein Stück weit begleiten, denn wir haben uns viel zu erzählen, Heinz.»

339 Ein Aufflammen in ihres Gastes Augen brachte plötzlich Antoinette zum Schweigen. Sie machte sich um die Ordnung in dem kleinen Separat-Eßzimmer, das der Bärenwirt dem Oberingenieur eingeräumt hatte, zu schaffen. Dann trat sie wieder zu Heinz: «Ist es Ihnen recht, wenn ich unsern alten Pfarrer mit zu Tisch bitte? — Er kann Sie dann gleich ein wenig über Ihre künftigen Pfarrkinder aufklären.»

Es gelang Heinz nicht völlig, seine Enttäuschung zu verbergen; aber er zwang sich zu einem verbindlichen Lächeln und sagte: «Sie denken weit voraus, Frau Delierre. Aber selbst­verständlich freut es mich, den alten Herrn kennen zu lernen.»

In der halben Stunde, aus die man sich trennte, kam Heinz die Gemütsverwirrung, in die er geraten, zum Bewußtsein, und er dankte Gott trotz aller Enttäuschung für Antoinettes rettenden Einfall.

Als sie dann zu dritt am Tische saßen, wurden Antoinette und Heinz es bald inne, daß der Hüter, den sie sich in lobenswerter Selbst­überwindung verordnet hatten, kein scheidendes Element war. Im Gegenteil. Der zahnlose alte Herr aß so entsetzlich langsam und umständlich, daß sich zwischen den beiden andern Tischgenossen ganz von selbst ein verständnis­inniges Lächeln über den Graukopf hinweg einstellte, in welchem Antoinettes Liebreiz zu voller Entfaltung kam. Mühsam kauend, richtete der Pfarrer Frage um Frage an den jungen Gast. Von der Gemeinde Zwischenflüh war nicht 340 die Rede. Der alte Herr war so heißhungrig nach Neuigkeiten und Aufschlüssen aus der Stadt, daß Heinz ihm nicht genugtun konnte. Man trank vom besten Tropfen des «Bären», und der alte Herr ward zusehends gesprächiger. Seine in der Bergeinsamkeit konservierte Art zu denken und zu reden, mochte denselben Jahrgang haben wie der köstliche Wein, den noch der Großvater des Wirts über den Sillernpaß gesäumert hatte. Natürlich ward auch die soziale Frage gestreift, die damals, von Stöcker beleuchtet, die Theologen lebhaft zu beschäftigen begann. «Wenn ich die Zeitung läse,» sagte der Pfarrer mit spaßhaft beabsichtigter Feierlichkeit, «so kommt mir vor, die Herren im Lande drunte sähe vor lauter Bäume den Wald nicht. Und doch ischt die Frage seit mehr denn drei Jahrtausende gelöst. Wenn man nur dem alte Weise Gehör schänke wollte! Sein Rat findet sich aufgezeichnet im fünfte Bueche des Moses, dasälbst im fünfund­zwanzgischte Kapitel und lautet allda im vierte Värse: ‹Du sollscht dem Ochse, där da drischet, das Maul nicht verbinde.› — Haha — hahaha — hahahaha.» Einen solchen Lacherfolg hatte der alte Herr noch nie erzielt. Als ob etwas in ihnen geborsten wäre, stimmten die beiden Hörer in sein selbst­zufriedenes Lachen ein. — Nein, wie sie ihm dankbar waren für diese Erlösung! — Und sie lachten und lachten, bis aus ihren schönen Augen die Tränen rollten und die Mägen sie schmerzten. Warum denn? Ja, wer ihnen das hätte sagen können!

341 Den schwarzen Kaffee nahmen sie im «Garten» ein, das heißt an einem rohgezimmerten Tische auf einem vom Hühnervölklein des Wirtes übel versperzten Wieslein zwischen drei mächtigen Wettertannen, hinter deren einer ein Haufen leerer Konserven­büchsen lag. Aber Zierpflanzen und Kieswege vermißte man hier so wenig wie befrackte Kellner. Auch hier stellten sich Gelegenheiten zur Entspannung in unverhältnis­mäßigem Lachen ein. Am schlimmsten wurde es, als der Pfarrer eine Ausdauer an den Tag legte, die alle Erwartungen längst überstiegen hatte. Dabei schien er auch gegen die gröbsten Winke zum Aufbruch gefeit. Es ging schon gegen 4 Uhr, als Antoinette zu Heinz sagte: «Ich will Sie nicht wegscheuchen, aber wenn Sie noch tags aufs Hospiz kommen wollen, so sollten Sie ans Aufbrechen denken.» Der Pfarrer zog eine sehr hübsche altmodische Uhr aus der Westentasche, die er an einer langen goldenen Kette trug, und warf einen erstaunten Blick auf Antoinette. Diese kam einem Einwand zuvor mit der fadenscheinigen Erklärung: «Ich meine nur, falls Herr Tillmann den Umweg über die Gertenlimmi nehmen wollte...»

«Jaso,» sagte der Pfarrer, «dann freilich wäre es höchste Zeit.»

Als er Abschied nahm, fiel den Zurückbleibenden plötzlich auf, daß in des alten Herrn Augen etwas lag, das mit der eben noch laut gewordenen guten Laune in seltsamem Widerspruche stand. Sie begleiteten ihn 342 bis auf die Dorfstraße. Zurückkehrend, sagte Antoinette, noch halb lachend, halb sich schämend: «Wir haben uns eigentlich dem alten Herrn gegenüber recht unartig aufgeführt.»

«Ach ja, ’s ist wahr,» meinte Heinz, «aber es ist uns zu verzeihen.»

«Wollen wir aufbrechen? Wir können’s dann etwas gemütlicher nehmen. Aber wenn Sie über die Gertenlimmi gehen wollen, so müssen Sie einen Führer mitnehmen, denn es gibt da ein Stück trügerischen Gletschers.»

Heinz überlegte einen Augenblick, dann sagte er entschlossen: «Für diesmal ziehe ich die Straße vor.»

Antoinette schien sehr zufrieden. «Besser plaudern läßt sich’s hier schon,» sagte sie, «wir sind ja noch gar nicht auf unsre Rechnung gekommen.» Sie machten sich marschfertig, und als sie sich vor dem Hause wieder trafen, griff Heinz mit erheucheltem Ernst zurück: «Im Grunde genommen weiß ich nicht, was ich nun hinter Ihrem Vorschlag, mich einst um die Pfarre Zwischenflüh zu bewerben, suchen soll. Wenn ich diesen alten Herrn betrachte...»

«Sie werden mir doch nicht zutrauen, daß ich Sie auf Lebenszeit hierher verbannen möchte! Wir selbst werden ja, sobald die großen Bauten vollendet sind, auch weiterziehen. Ich meinte bloß, so ein oder zwei Jahre, die ersten im Pfarramt, würden Sie gewiß ganz gern in der Bergluft zubringen. — Wissen Sie, im 343 Vertrauen gesagt, dieser Pfarrer ist, wie man mir erzählte, durch eine Art Strafversetzung hierher verschlagen worden. Er hat bessere Tage gesehen. Haben Sie nicht seine hübschen Sachen beachtet, die Uhr, die Kette, überhaupt! Geben Sie zu: so stellt man sich einen Gebirgspfarrer nicht vor.»

«Sehr richtig.»

«Er soll in jüngern Jahren der Romantik zu viel Raum gelassen haben, der arme Mensch.»

Nun gingen sie eine Weile stumm nebeneinander her.

«Nein, sehen Sie,» fing Antoinette wieder an, «Sie müssen mich verstehen. Es ist ja wunderschön hier, und ich habe kein Recht zu klagen. Wie manche Frau möchte mich beneiden, weil ich so vom Klatsch unberührt meiner Familie leben kann. Im Sommer ist’s gar nicht so eintönig. Aber, was ich bitter vermisse, ist jegliche geistige Anregung, ein Mensch, mit dem man ein wenig über den Alltag hinaussteigen kann. Marcel wäre sicher ganz empfänglich für die Dinge, die Sie interessieren — wenn er nur jemanden hätte, der es ihm nach Männerart nahebrächte. Er fragt sicher nur nicht danach, weil er niemanden um sich hat, der es ihm interessant machen kann. Er geht so in seiner Arbeit auf, daß er für alles andere nichts übrig hat. Zudem ist er abends so müde, daß ihm ein irgendwie anstrengendes Gespräch gar nicht zuzumuten ist. In die altbackenen Predigten unseres Pfarrers mag ich ihn nicht nötigen. Er soll mir nicht vortäuschen müssen, daß ihm diese etwas sagen. Aber 344 unsre Sonntage werden manchmal — ich sage es offen — entsetzlich langweilig. Lange habe ich’s versucht, Marcel für andere Dinge zu interessieren; aber ich merkte doch immer, daß er nicht dabei war. — Sehen Sie, um seinetwillen müssen Sie kommen, sonst geht er mir innerlich zugrunde.»

«Was sagte er denn zum Beispiel zu dem Geschenk, das Sie mir machten? Ich meine zu Ihrer Idee?»

«Sehen Sie, gerade das war so etwas. Ich habe versucht, ihm meine Idee beizubringen. Erst wollte er durchaus, daß ich ein Bild vom guten Hirten kaufe. Einen ganzen Stoß ließ ich mir vorlegen. Aber ich bitte Sie, alle diese sentimental frisierten Heilande, die um des schönen Faltenwurfs willen in ein orientalisches Hirtenhemd gesteckt sind? So kam ich endlich auf die Skulptur. Nun wollte er dem Schnitzler den Thorwaldsen-Christus als Modell vorsetzen, und als ich mich dagegen wehrte und sagte: ‹Nein, Abplanalp, einen derben Schweizerhirten sollen Sie mir machen, so und so,› da wurde Marcel ärgerlich. ‹Wozu denn überhaupt der ganze Heilands-Krimskrams?› sagte er. ‹Da hättest du ja einfach am Höheweg in Interlaken eine Jagdgruppe kaufen können.›»

«Er sieht eben die Sache nüchterner an. Vielleicht haben Sie mein Tun zu hoch eingeschätzt.»

«O keineswegs. Und Marcel denkt sehr hoch von Ihnen. Glauben Sie mir nur, er bewundert Sie in 345 Ihrem Verhalten, schon weil seine Natur ihm selber solche Hingabe unendlich erschweren würde.»

«Wir wollen nicht über ihn urteilen. Er ist eben ein einseitiger, dafür aber auch ganzer Mann.»

«O ja, das ist er; aber das sollte ihn doch nicht hindern...»

Ein von der östlichen Berglehne herunter klingender Hornstoß lenkte plötzlich der beiden Wanderer Aufmerksamkeit nach der Gegend des hoch in die Felsen gebetteten Galmersees. Und gleich darauf rollte der Donner eines Sprengschusses in endlosen Echowellen talauf und ab.

«Marcels Gruß,» sagte Heinz, während seine ehrlich erschrockenen Blicke Antoinettes fallende Lider trafen. Da packte den Wanderer ein heißes Erbarmen mit der gequält vor ihm Stehenden. Beide fühlten, daß sie nicht mehr weiterreden konnten. Endlich raffte Heinz sich auf, ergriff Antoinettes Hand kräftig und sagte: «Leben Sie wohl und grüßen Sie Ihren Mann von mir.»

Dann rannte er die Bergstraße hinan, ohne sich umzusehen. Er wollte und konnte nicht sehen, was er zu sehen fürchtete. Aber, was kommen mußte, sagte ihm sein Herz unerbittlich. Die ganze Nacht hindurch sah er die ihm so liebe Gestalt einsam in sich ringend das Tal hinunter­schreiten.


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