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XIV.

Es war des Staunens kein Ende, als, wiederum an einem brütenden Augusttage, Heinz Tillmann tapferen Schrittes auf das Chalet an der Spiezerbucht zugeschritten kam, wo nun die Familie Guldwang die Sommermonate zubrachte. Frau Dorothea wunderte sich des Freimutes, mit dem der junge Mann von neuem in ihren Gesichtskreis trat, nachdem der Verkauf der frühern Heimstätten die einstigen Nachbarsfamilien vollends auseinander gebracht. Blitzschnell reihten sich die Überlegungen, wie sie eben dem Bewußtsein ihrer gesell­schaftlichen Stellung entsprangen. Hatte vielleicht der Ruin des väterlichen Vermögens den Studenten, der doch von etwas leben mußte, mürbe gemacht? Wer weiß, ob Frau von Guldwang ihn empfangen hätte, wäre sie nicht bei ihrer Handarbeit 243 mit Antoinette auf offener Laube überrumpelt worden! Aber Heinz Tillmann machte durchaus nicht den Eindruck eines Hilfesuchenden. Er war gut gekleidet und trug sich sehr aufrecht. Es ließ sich kaum leugnen: das Gehen auf eigenen Füßen bekam dem jungen Recken nicht schlecht.

So war denn Frau von Guldwang eitel Huld und Höflichkeit, und es kam ihr nicht bloß von der Zungenspitze, als sie nach der Begrüßung sagte: «Herr Tillmann, das lob’ ich mir.»

Darüber wunderte sich Antoinette nicht. Warum hätte Mama ihren frühern Schützling nicht gut empfangen sollen! Wie aber sollte sie Heinzens Besuch in Einklang bringen mit dem, was er vor einem Jahre im Walde zu Prankenau ihr gesagt? — Daß sich ihre Augen in banger Erwartung weiteten, konnte Heinz nicht entgehen. Föhnheiß leuchtete das tiefe Blau ihrer Sterne. Das war — Liebe. Eine seltsame Verwirrung kam über den jungen Mann. Fast wollte es ihn reuen, daß er gekommen. Und doch! — Warum sonst wäre er denn hergereist? — Nur um der Familie Guldwang zu melden, daß er auf Geheiß seines Vaters nach Culebra verreise, um eine gut bezahlte Stelle am Bau des Panamakanals anzutreten? — Das hätte er ja in einen: Brief berichten können, wenn sie’s überhaupt wissen mußten. — Nein, jetzt wollte ihm keine Selbsttäuschung mehr gelingen. Heiße, tiefe, zwingende Liebe zu der «Unerreichbaren» hatte auch ihn gezwungen. 244 Er mußte sie noch einmal von Angesicht sehen, mit seinen Augen ihre herrliche Gestalt messen, ihr Bild sich einprägen. Und darum war er nicht unbefangen gekommen, sondern in der Erwartung, Frau Dorothea werde sich mit der ganzen Schärfe ihres Widerstandes vor Antoinette hinstellen. — Das konnte immer noch kommen, trotz ihres «das lob’ ich mir». Heinz freute sich auf diesen Widerstand, denn sein Glaube sagte ihm, daß er ihn einst besiegen werde.

«An den Panamakanal?» fragte Frau von Guldwang. «Ja, aber...?»

«Sie wundern sich darüber, daß ich jetzt schon — vor Beendigung meiner Studien hingehe — ohne Diplom.»

«Allerdings. Werden Sie denn das nachholen?»

«Ich hoffe es. Jetzt erträgt der Entschluß keinen Aufschub. Es steht leider zu befürchten, daß mein Vater, wenn er seine Freiheit wieder erlangt, aller Mittel beraubt sein wird. Darum habe ich mich auch hierin seinem Wunsche gefügt. Ich unterlasse nichts, um ihm den Glauben zu erhalten, daß er mich immer an seiner Seite finden werde.»

«Es wäre aber doch schade,» meinte Frau von Guldwang, «wenn Sie Ihre Studien nicht zum Abschluß bringen könnten.»

«Ich kann es vielleicht später nachholen, und dann wird mir die praktische Erfahrung nicht zum Schaden sein.»

245 «Nun, ich muß sagen, Herr Tillmann, Ihr Vorhaben verdient allen Respekt.»

Es blieb nicht bei dieser Anerkennung. Heinz erkannte aus der ganzen Art, wie Frau Dorothea heute mit ihm umging, daß er ihre Achtung besaß. Das hatte er auch nicht anders erwartet. Was ihn aber zu beunruhigen begann, war die Gelassenheit, mit der die Dame ihm begegnete. Er wartete von Minute zu Minute auf den Schachzug, mit dem sie ihm Antoinette entziehen würde. Statt dessen zeigte Frau Dorothea immer größeres Vertrauen in ihn. Sie war sogar freigebig mit Zeugnissen der Bewunderung für seinen Fleiß, seine Sohnestreue, seine Ansichten.

Seinen Gipfel erreichte Heinzens Überraschung, als Frau Dorothea ihn bat, zum Mittagessen zu bleiben und vorschlug, er solle mit Antoinette noch eine kleine Ruderfahrt unternehmen. Er mußte sich Gewalt antun, um nicht allzu naive Freude darüber an den Tag zu legen.

Aber nun gesellte sich zu diesem Rätsel ein zweites: der fast angstvolle Ausdruck in Antoinettes Blicken. Schweigend folgte er ihr ans Ufer. Und als er ihre hohe geschmeidige Gestalt, den Rhythmus ihres leichten Ganges so ganz für sich hatte, da faßte ihn ein tiefes Weh. Aber er zwang’s nieder. Nichts sollte ihn in seinem Entschlusse schwankend machen.

«Ich denke, wir rudern?» fragte Fräulein von Guldwang, auf den kleinen Mast mit dem gerollten Segel hindeutend. Heinz zog den Baum an sich und 246 legte ihn auf die Wandhaken des Schiffscherms. Vom Segeln verstand er nichts, und sich in einem Sport zu versuchen, den er nie gelernt, sagte ihm gar nicht zu. Er bot Antoinette die Hand zum Einsteigen und folgte ihr, mit seinem schweren Tritt das Gleichgewicht des leichten Fahrzeuges auf eine harte Probe stellend. Und wie seine Hilfe beim Rüsten, so war sein Rudern: mehr Kraft und Wille als Geschicklichkeit. Hoch flogen die glitzernden Spritzer aus der durchsichtigen Flut, wenn er die Ruder eintauchte, und jeder Zug gab dem Boot einen unangenehmen Ruck.

«Warum so emsig?» sagte Antoinette. Sie saß zuhinterst im Boot und schien über die Kraft­verschwendung belustigt.

Nun mußte auch Heinz ob seinem Übereifer lachen. Er wollte sich mäßigen. Aber es gelang ihm nicht recht. Antoinette hatte den Eindruck, er wolle sich durch die Hast seiner Ruderzüge des Redens entheben.

«Nehmen Sie’s doch gemütlicher!» sagte sie. «Wohin wollen Sie denn noch vor Mittag?»

Sie lachten beide. Aber Heinz kraftete weiter.

«Passen Sie auf! — Mehr links! — Nein, nicht so! — Nach dieser Seite, meine ich.»

Das Schifflein glitt aus der Bucht in den offenen See hinaus.

«Jetzt kommen wir in den Dampferkurs,» sagte Antoinette. «Geben Sie acht! Sehn Sie, dort kommt auch schon das Mittagsschiff von Merligen her.»

247 «Sie müssen mich mit Ihren Augen leiten.» Heinz hatte das gesagt, ohne sich etwas dabei zu denken. Als aber Antoinette, leicht errötend, darauf einging, ward er inne, daß er seinen zielsichern Vorsätzen untreu geworden.

Er mußte nun den Winken ihrer Augen folgen, ihrer schönen großen Augen, die ihn zugleich anklagten und bewunderten. Heinz steuerte nach links und nach rechts in wunderlichem Zickzack; er ruderte langsamer, läßiger, wurde verwirrt und konnte doch nicht loskommen von den seltsamen Blicken seiner Steuermännin. Wunderliche Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er hörte den hämmernden Schall der Dampferschaufeln näher kommen. War er im Bann einer Verzweifelnden? — Aber es lag gar nichts von Verzweiflung in ihrem Gesichte. Eher schien sie zum Spaßen geneigt.

Antoinette bemerkte seine Unruhe. Er blickte doch ab und zu rückwärts nach dem Dampfer. «Sie trauen mir nicht recht,» sagte sie heiter.

«Doch,» sagte er. «Blindlings.»

«Ist’s wahr?»

«Sie dürfen mir jede Probe auferlegen.»

«So versuchen Sie’s! — Legen Sie die Ruder ab und schließen Sie die Augen, bis ich Ihnen erlaube, sie wieder zu öffnen.»

Da ließ Heinz die Griffe fahren, reckte den Kopf hoch und schloß die Augen fest.

Antoinette summte ein Liedchen, als wollte sie ihn 248 in Schlaf wiegen. Weich und lieblich klang die Melodie in das leise Geplätscher der Wellchen, die wider den Bug glucksten. Es kostete Heinz schwere Überwindung, die Augen geschlossen zu halten; aber er zwang’s. In wildem Zuge reihten sich seine Gedanken und Empfindungen. Bald dünkte ihn, das Schifflein schieße pfeilschnell durch die Wogen, bald wieder fühlte er’s unbeweglich auf der Stelle schaukeln, bald schien es dem Schalle nach sich zu drehen. Die Probe wurde härter. — Trieb Antoinette Unfug mit ihm? Machte sie sich, seine Verliebtheit erratend, lustig über ihn? War er ihr zum Narren geworden? — Nein, er hatte zu tief in ihre Augen geblickt. Da sprach etwas anderes drin als Übermut. Und ihre Stimme! Die klang von Bangen und Glauben. — So — ja, so mußte Liebe in Klang aufgehen. Er wußte es ja. Was sonst hätte ihn denn hergetrieben? Er wußte es seit jenem Zusammentreffen im Walde. — Aber hatte nicht damals tiefste Seelennot aus ihr um Hilfe geschrien? — War sie nicht einsam? Und er hatte ihr nicht geholfen, hatte ihr eine unerträglich schwere Probe auferlegt. War ihm nicht damals schon der Gedanke gekommen, sie könnte darunter zusammenbrechen?

Heinz hörte den Dampfer näher und näher kommen. — Was tat sie? Er versuchte zu lächeln und verriet damit seine Angst.

«Ich habe Ihnen noch nicht erlaubt, die Augen zu öffnen. Die Probe ist noch nicht bestanden.»

249 Heinz hörte, daß Antoinette Ruder einlegte. Aber sie schwieg stille, indes er den Kopf senkte, wie einer, der den Streich des Henkers erwartet. Die Schaufeln des Dampfers hieben mit wachsender Wucht in die Wellen. Mächtig schwoll das Rauschen. Man hörte Stimmen. Ein Schatten verdunkelte den Seespiegel. Brausend und donnernd nahte etwas Ungeheuerliches. Der Nachen tanzte auf und nieder. Ein Gefühl des Schwindels ergriff den freiwillig Blinden. Stimmengewirr und Singen, Lachen und Rauschen, Brausen und Stampfen umgaben ihn. Das Schifflein schien sich in dem Getöse zu bäumen, schien Spitz voran in die Tiefe fahren zu wollen. Da flutete das Licht wieder. Der Lärm nahm ab.

«Jetzt!»

Heinz blickte geblendet auf. Hundert Schritte hinter ihnen fuhr, durch seine Rauchfahne verschleiert, der Dampfer. Sie schaukelten im smaragdgrün aufquirlenden Kielwasser. — Vor allem suchte Heinz in den Zügen seiner schönen Prüferin zu lesen. Sie leuchteten.

«Sie haben’s bestanden,» sagte sie. «Note eins. — Aber nun müssen wir wohl wenden, sonst kommen wir zu spät. Ich will wieder mit meinen Augen steuern.»

Heinz ruderte kräftig, doch gönnte er sich ab und zu eine Kurve, als wollte er das anmutige Spiel der leitenden Blicke recht auskosten.

«Eigentlich möchte ich doch wissen,» sagte Antoinette, «was Sie sich vorhin dachten, als wir den 250 Dampfer kreuzten. War Ihnen nicht unbehaglich dabei?»

«Ich wußte doch, daß ich mich auf Sie verlassen könne.»

«Kam Ihnen auch nicht einen Augenblick der Gedanke, ich könnte Sie mit mir ins Verderben reißen?»

Heinz lachte gezwungen auf: «Dafür kenne ich Sie zu gut. Sie gehören nicht zu denen, die das Leben von sich werfen. Und hätten Sie durch Ungeschick­lichkeit das Unglück heraufbeschworen, nun...»

Antoinette war zufrieden. Sie wußte, was ihr wichtig war. Daß sie Heinz mit jedem kleinsten Schritte weiterer Annäherung Qualen bereiten würde, las sie in seinen Zügen. Redlich versuchten beide durch harmloses Plaudern von See und Bergen und Wetter sich aus dem Geschlinge ihrer tieferen Empfindungen loszuwickeln.

Antoinette verriet sich noch einmal. Während sie das Boot ankettete und Heinz, die steif gewordenen Beine wachstampfend, sich mit derben Händen den Rock zurechtzog, sagte sie: «Also bleiben Sie dabei, die neunundneunzig in der Wüste zu lassen?»

Fast mit der Härte seines Vaters antwortete er: «Ja.»

Schweigsam stiegen sie das Bord hinan. Als sie sich dem Hause näherten, blieb Antoinette einen Augenblick stehen, spähte dem Weg entlang, als suchte sie etwas. Dann schritt sie rasch auf einen Rosenstamm 251 zu, brach eine kaum geöffnete Knospe und steckte sie mit nervös bewegten Händen Heinz ins Knopfloch. «Wenn aber der liebe Gott eine solche Sohnestreue nicht lohnt,» sagte sie, «dann verstehe ich wahrlich nichts mehr.»

Frau Dorothea empfing die beiden mit unverminderter Liebens­würdigkeit. Und die Arglosigkeit, mit der sie bis zum Abschied mit ihrem Gast und Schützling über dessen Pläne und Aussichten sprach, brachte Heinz in immer tiefere Verwirrung. Allmählich ergriff ihn ein seltsames Bangen. — War sein Glaube an das Schwinden der Unerreichbarkeit doch ein Wahn? — Wenn ihn nicht seine Sinne betrogen, so las er beim Abschied am Gartentor in Antoinettes Augen dasselbe Bangen. — Ihr Mund zuckte schmerzlich, da sie ihm die Hand reichte. Als Frau von Guldwang ihre guten Wünsche beendigt und ihr letztes «Gott behüte Sie» gesprochen — nicht ohne Rührung — war Antoinette schon wieder an der Treppe zur Veranda, von wo sie dem Scheidenden noch einen Blick zuwarf.

Frau Dorothea fand ihre Tochter nicht in der Veranda, wo sonst die beiden Damen ihren Nachmittag zubrachten, und sie wartete umsonst darauf, daß Antoinette kam, um, wie gewohnt, des Tages Erlebnisse mit ihr zu besprechen. Da dämmerte ihr etwas auf, und dieses Aufdämmern warf einen klärenden Schein rückwärts auf allerlei kleine Wahrnehmungen der vergangenen Jahre. Frau Dorothea entdeckte etwas Romantisches, 252 das sich in ihrer nächsten Nähe abspielte, und lächelte in sich hinein, wie man über eine gelesene Geschichte lachen kann, die einen erquickt, weil man so sicher ist vor ihrer Wirklichkeit. Sie hatte sich offenbar nicht getäuscht.

Als Antoinette kam, um den Nachmittagstee aufzugießen, hatte sie verweinte Augen. Sie fühlte, wie der Mutter neugierige Blicke sie in jeder Bewegung verfolgten, und wäre gerne geflohen. Aber das ging nicht wohl an. So setzte sie sich hin und suchte durch Vertiefung in ihre Handarbeit Mamas Wissensdrang zum Erlahmen zu bringen. Für einige Minuten hielt das vor. Dann war’s mit der Geduld schon aus, und Frau Dorothea sagte mit sehr lustigen Augen: «Toinon?»

Antoinette fühlte, wie die mütterliche Neugier ihr unter die langen Wimpern schlich und wandte sich leicht ab.

« Voyons!» setzte Frau Dorothea von neuem an. «Man sollte wirklich glauben, dieser départ ginge dir sehr nahe, Kind!»

Antoinette hüllte sich in Schweigen.

«Hm?» mahnte nach einem Weilchen die Mutter. Der Trotz reizte sie. Es lag ihr schon auf den Lippen, durch einen willkürlich gesteigerten Ausbruch des Erstaunens ihre Tochter in jähe Ernüchterung zu stürzen, und wäre sie ihrem natürlichen Empfinden gefolgt, so hätte Antoinette ein für allemal erfahren, daß man 253 nach den Begriffen ihrer Mutter in herablassender Freundschaft sehr verschwenderisch sein durfte, daß es aber ein grausamer Wahn wäre, zu glauben, eine Guldwang dürfe über ihr Herz frei verfügen. Aber Frau Dorothea war viel zu besonnen. Das Feuer durfte nicht zum heimlich tiefer fressenden Brande werden; es sollte sich auslodern und verfliegen. — Amerika ist weit, schmunzelte sie in sich hinein. Mütterlich zärtlich begann sie zu trösten: «Ach, der gute Kerl! Weißt du, Toinon, er dauert mich ja auch furchtbar. Man könnte wirklich oft irre werden, wenn man sieht, was solch ein braver Mensch durchzumachen hat. Aber glaub’ mir, Kind, es ist besser, er kommt nun eine Zeitlang ganz von seinem Vater weg. Wenn irgendwo, so darf man doch hier sicher sein, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.»

Frau Dorothea ermaß nicht, wie weit diese Wahrheit über die Wurfweite ihrer Berechnung hinausreichte; daß aber ihr überlegtes Einlenken sein naheliegendes Ziel erreichte, konnte sie bald wahrnehmen. Antoinette ging auf die unerwartete Zärtlichkeit ein, und den ganzen Abend hielt eine Stimmung an, die wohltat wie ein warmer Gewitterregen.

Erst verwundert über das verständnisvolle Eingehen der Mutter auf ihre Gefühle, gewöhnte sich Antoinette bald daran und fand es schließlich ganz natürlich. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie in den vergangenen Jahren so mißtrauisch gewesen gegen ihre Mutter, die offenbar 254 ihrem Herzen viel näher gestanden habe, als sie geahnt. Antoinette tat Buße und suchte durch liebevolles Benehmen gut zu machen, was sie verdorben. Mutter und Tochter kam es vor, als hätten sie noch nie einen so freundlichen Sommer verlebt. Auch Herr Fernand kam unter diesen Eindruck, wenn er, müde von des Berufes Lasten, in Spiez weilte. «Siehst du,» sagte er gelegentlich zu seiner Frau, «man fühlt eigentlich erst jetzt, wie viel Schatten der Besitz von Prankenau auf unser Leben geworfen hat.» Dazu schlicht und offen ja zu sagen, brachte nun zwar Frau Dorothea noch nicht fertig, denn der Rückblick auf die feudale Herrlichkeit tat ihr immer noch weh, aber ihre gute Laune konnte und wollte sie ihrem Manne nicht verhehlen. Eines Tages sahen sie auf der Straße eine arme Taglöhners­familie den Ertrag ihres Äckerleins heimführen. Der Mann zog in den «Landen» des Karrens, die Frau neben ihm an einem Strick, und auf dem Füderlein saß glückselig ihr kleines Kind. Frau Dorothea zwickte ihren Eheherrn in den Arm, um ihn auf das Bild aufmerksam zu machen. «Genau wie wir!» raunte sie ihm zu. Der Vergleich war fast gottes­lästerlich. Und doch — wenn man das Inwendige der Familie Guldwang hätte in Strichen und Farben malen sollen, so wären die beiden Bilder gar so weit nicht auseinander geblieben. Antoinette saß auf ihrem Karren, und wenn sie auch nicht jauchzen mochte wie das Taglöhnerkind, so sah sie doch ihr Elternpaar einträchtig in den 255 «Landen», und hätte es für Sünde gehalten, nicht dankbar dafür zu sein.

Der Winter und der Rückzug in die Stadt änderten nichts an dem erquickenden Einvernehmen. Erst die Weihnachtsferien trübten den glatten Spiegel des Stilllebens ein wenig. Marcel Delierre tauchte wieder auf und ward der tägliche Gast des Hauses. Er war ein mustergültiger Kavalier auf jedem Parkett, und Antoinette hätte sich ihm nicht leicht entziehen können, ohne ihm unrecht zu tun. Jedes Ausweichen und Ablehnen nahm er als reizende Kaprice hin. Dieses beharrliche Werben entging der jungen Welt nicht, und bald galt es als selbst­verständlich, daß die zwei zusammen­gehörten.

Es gab freilich stille Nachtstunden, in denen Antoinette die Unwahrheiten des gesell­schaftlichen Lebens deutlich vor die Seele traten. Dann flohen ihre Gedanken über den Ozean. Tiefes Weh packte sie, und sie wünschte, daß die Ferien bald zu Ende gingen, damit das Leben wieder in ruhigen Fluß käme. Sie gingen endlich auch zu Ende; aber das änderte nichts. Delierre erschien trotz dem eisernen Fleiß, mit dem er sein letztes Semester durcharbeitete, zu jedem Ball in Bern, und Antoinette erkannte, daß sie einem Entschlusse nicht lange mehr würde ausweichen können.

256 Der Schnellzug Bern-Interlaken verließ eben die dunkle Bahnhofhalle von Thun. Der Wirrwarr der ein- und aussteigenden Menschen hatte sich gelegt, und man erkannte in der wiederkehrenden Helle, wer um einen her saß. In einem Coupé zweiter Klasse hatten auf der Seeseite Frau von Guldwang und ihre Tochter die Fensterplätze inne. Neben Antoinette saß ihr Vater, neben Frau Dorothea dessen Associé, Herr d’Or. Die Finanzmänner benutzten den strahlenden Maientag zu einer Besichtigung der Bauten im Ruhsetal, wo ein Elektrizitäts­werk angelegt wurde. Am gegenüber­liegenden Fenster saß ein Mann allein. Trotzdem der Zug sonst stark besetzt war, blieben die drei übrigen Plätze des Abteils leer. Ob der einsame Mann schon von Bern an dort gesessen, hatten die Mitreisenden nicht beachtet, da bis Thun der Wagen überfüllt gewesen war. Jetzt fiel er auf. Herr Fernand fühlte sich von seiner Tochter sachte getreten, und wie er sie mit den Augen fragte, was das zu bedeuten hätte, ward er ebenso stillschweigend nach dem einsam Sitzenden hingewiesen. Der saß nach dem Fenster gedreht. Aber aus der Haltung seines auf starkem Nacken und breiten Schultern sitzenden Borstenkopfes ließ sich erraten, daß er aufmerksam horchte. Sein Gesicht bekamen die Mitreisenden nicht zu sehen, kaum daß ab und zu der sproßende Vollbart ein wenig aus dem Schattenriß des Kopfes heraustrat. Herr von Guldwang hatte den Mann schon lange beobachtet, ließ sich aber auch jetzt 257 gar nichts anmerken, nachdem ihm die beunruhigenden Blicke seiner Tochter Gewißheit verschafft, daß er sich nicht getäuscht habe.

In Spiez stiegen die Herren Ueltschi und Ryter mit qualmenden Zigarren ein. Höflich grüßten sie nach links, wandten sich, Platz suchend, nach rechts, wo der einsame Passagier sich umgedreht hatte und, in die Ecke rückend, die Eintretenden zum Sitzen einlud. Sein Gruß wurde durch ein flüchtiges Berühren der Hüte erwidert. Dann eilten die zwei Oberländer Herren weiter.

Die kurze Begegnung hatte Antoinette und ihrem Vater vollends Gewißheit gebracht. Die seltsame Veränderung im Gesichte Hans Tillmanns machte auf beide einen peinlichen Eindruck. Woran lag es nur? Blasser als früher sah er aus. Haupthaar und Bart waren kurz und mit vielen grauen Stoppeln durchsetzt. Wegen des kurzen Bartes erkannte man die Gesichtsbildung etwas deutlicher. Aber es war etwas Erloschenes, künstlich Gebleichtes in den Zügen. Antoinette mußte an Pflanzen denken, die lange unter einem Stein hinkümmern. Daß aber in dem ergrauten Kopf das alte Feuer noch keineswegs erloschen war, das hatte der kurze Augenblick verraten, in dem Tillmann sich nach seinen Geschäfts­freunden umgewandt.

Die Unterhaltung der kleinen Reisegesellschaft war vollständig verstummt. Um ihr wieder aufzuhelfen, fing der Associé des Herrn von Guldwang, durch den Blick 258 auf den gegenüber­liegenden Wendelinsberg angeregt, an, von den zweifelhaften Aussichten der «Oberländischen Kur­etablissements» zu reden. «Das ist auch ein Merliger Stücklein,» sagte er mit der Seelenruhe des Unbeteiligten. «Man rollt einen Käselaib um den andern in den See, um die Untergegangenen herauszuholen, haha — hahaha. — Ja, ja, diese Unternehm...» Herr d’Or fühlte sich plötzlich an seinen Gichtfüßen sehr empfindlich berührt. Und da der Druck, der von der Fußspitze seines Kompagnons herrührte, kräftig anhielt, warf er diesem einen sehr unfreundlichen Blick zu. Jetzt begriff er.

Der Bahnhof von Interlaken brachte diesmal nicht nur ungeduldigen Touristen Erlösung. Die überragende Gestalt Hans Tillmanns stand wie ein Pfahl in dem quirlenden Getümmel der Aussteigenden. Er schien nach jemandem auszuspähen und blieb in sichtlicher Enttäuschung stehen, bis sich die Menge vollständig verlaufen hatte. Dann ging er, immer um sich blickend, auf den Platz hinaus und verschwand.

Erst als der Brienzersee-Dampfer die Aare verließ und die Fahrgäste sich an ihren Plätzen festgelegt hatten, erhielt Herr d’Or Aufschluß über den Zweck jenes Fußtrittes. «Ich fürchte,» so schloß Herr Fernand seine Aufklärung, «dieser Tillmann sei noch nicht am Ende seiner schlimmen Erfahrungen. Wenn es nicht seinem wackern Sohn gelingt, ihn herauszureißen, so geht’s sicher noch weiter bergab mit ihm.»

259 «Und dieser Sohn steht zu ihm?»

«Er bringt ihm jedes Opfer. Sogar das Opfer seines Berufs hat er ihm gebracht.»

«Der arme Kerl.»

«Ja, ich fürchte, daß er’s nie zu was Rechtem bringen wird. Aber wer weiß! — Geht’s dir nicht auch so: Manchmal frag’ ich mich im Stillen, was wir denn eigentlich von unsern mühsam errungenen Erfolgen haben. Vielleicht schließt einer, der unten durch muß und sich zuletzt sagen darf, daß er für andere sich hingegeben, doch besser ab als wir. Liebe eines Kindes, die so wenig verdient ist, kann nicht unbelohnt bleiben.»

«Du hast recht. Wer sich sagen darf, daß er seiner Eltern Freude gewesen...»

Herr d’Or blickte in völliger Geistes­abwesenheit auf Antoinette, während er diese Worte, die ihn in eine ferne Vergangenheit führten, aussprach. Antoinette wußte sich den sonderbaren Blick nicht zu erklären. Glaubte Herr d’Or, ihr eine Wegleitung geben zu müssen? Das war sonst gar nicht seine Gewohnheit. Aber gerade deshalb machte die hingeworfene Äußerung um so tiefern Eindruck auf sie. Sie ging von den Herren weg und ließ, am Heck des Dampfers stehend, das Träumen über sich kommen. Der leise Ärger ob der hintendrein hinkenden Aufmunterung des Herrn d’Or war bald verflogen. — Wenn er sich nur nicht später, nachdem sie ihr Opfer gebracht haben würde, noch einbildete, ihm verdanke Papa etwas davon!


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