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II.

Ein Sinnbild jugendlicher Lebenslust schoß der große Springbrunnen von Prankenau in das dämmernde Gewölbe der Roßkastanienbäume, welche soweit über den runden Teich hereinragten, daß nur noch ein kleines Stück blauen Himmels über der Mitte frei blieb. Seit Jahren schon hatte keines Gärtners Messer mehr dem Wachstum gewehrt. Und kaum öfter als einmal des Jahres befreite jemand den Spiegel des kristallhellen Wassers von den grünen Schlamminseln, durch deren Risse und Lücken man die rotgoldenen Fische herumschwänzeln sah. Wenn ein dürrer Ast in den dichten Kranz schöner Schilfgewächse gefallen war, so konnte es Monate dauern, bis jemand das Holz herauszog 12 und die geknickten Halme abschnitt. Und der spärliche Kiesbelag ließ allerlei aus den Wegen sprießen, was nicht hingehörte. Durch die Lücken des tiefhängenden Geästes aber sah man draußen auf dem Gebreite des sanften Berghanges, wo der Pflug immer zur rechten Zeit das Unterste zu oberst kehrte, das goldene Gewoge reifenden Kornes. Und fern, im rosigen Dufte des Sommertages, ragten über die den Fleiß preisenden Gefilde die gewaltigen Zeugen der Freiheit, die unberührten Eiszinnen der Alpen.

Auf der entgegengesetzten Seite ließen die zur Erde nieder hängenden Äste einen schmalen Ausgang frei. Da sah man einen schnurgeraden, mehrere Terrassen in Treppen überwindenden Gartenweg zum Mittelportal des Schlosses hinaufführen. Über eine dieser Treppen herunter nahten eine schlank gewachsene jüngere Dame, ein großer, eingetrockneter Herr mit weißem Schnurrbart und ein ungefähr siebenjähriges Mädchen. Am Fuß der nächsten Treppe blieb der Herr stehen und wies unter lebhafter Bewegung nach den Treppenstufen und der Terrassenmauer, in deren Ritzen ein kleiner Urwald von Farnkräutern wucherte. Das Funkeln seiner blutunterlaufenen Augen konnte man des verwaschenen Panamahutes wegen nicht sehen. Aber das energisch vorgestreckte Kinn und die nervösen Bewegungen seiner Hände ließen von weitem erkennen, daß der vereinsamte Schloßbesitzer seinem schönen Besuch eine Vorlesung über den unerschwinglichen Unterhalt 13 des einst nach fürstlichen Vorbildern angelegten Landsitzes hielt. Er mußte stark aufgetragen haben, denn die Dame lachte hellauf und bewegte dabei ihren Kopf mit einer Anmut, welche den alten Herrn reizen mußte, durch neue Lamentos die nämliche Wirkung zu erzielen.

Die kleine Antoinette war an den Teich vorausgeeilt, was die Dame bewog, einen rascheren Schritt anzuschlagen. Leicht, vornehm und entschlossen ging sie, den trippelnden Herrn hinter sich lassend. Der nahm den Hut ab, zog aus seiner zwilchenen Gartenjacke das Taschentuch und wischte sich das bronzefarbene Grenadiergesicht ab. Herr Scipio von Guldwang-Prankenau hatte als junger Offizier des 4. Schweizer­regiments Catania erstürmen helfen und vor Palermo eine ehrenvolle Narbe davongetragen. Trotz dem Einsiedlerleben der letzten Jahre hatte er jene sorgsame Selbstachtung noch nicht eingebüßt, die dem jungen Offizier anerzogen wird. Jetzt trug sie ihm neben dem Respekt auch schon ein gewisses spöttisches Lächeln seiner bäurischen Nachbarn ein. Sie wußten zu gut, daß der Alte keine Gewalt über sie hatte. Der Frau seines Neffen Fernand hingegen sagte das ergraut Kavaliermäßige sehr zu. Sie weilte gerne in Prankenau. Bis vor kurzem noch hatte das Bewußtsein, die Sonne des Martinssommers um den Onkel zu verbreiten, für sie einen Hauptreiz der Aufenthalte im Schloß ausgemacht, und deshalb wollte sie sich durchaus nicht in den Gedanken finden, 14 daß es dem alten Herrn ernst sei mit der Absicht eines Verkaufes. Gerne hätte der alte Offizier das herrschaftliche Gut seinem Neffen zu ganz besonderen Vorzugs­bedingungen abgetreten, nur um es dem Hause Guldwang zu erhalten. Aber Herr Fernand, der, ursprünglich Jurist, nun ganz den Bankgeschäften lebte und einen vielverheißenden Weg vor sich sah, würde zum Leidwesen seiner Frau den abgelegenen und kostspieligen Familiensitz auch als reines Geschenk nicht angenommen haben. Frau von Guldwang wußte, daß es daran nichts mehr zu rütteln gab, und da sie ihrem Mann von Herzen ergeben und zudem von der Richtigkeit seiner nüchternen Berechnungen vollkommen überzeugt war, beschränkte sie sich darauf, alles zu tun, um den drohenden Verkauf hinauszuschieben. Wo immer sich eine Gelegenheit bot, trat die kluge Frau zwischen den vergrämten Oheim und seine Landleute. Mit ihrer Herzensgüte entwaffnete sie die von beiden Seiten geführten Stöße. Wer in der Umgegend etwas zu bedeuten hatte, stand der Dame mißtrauisch gegenüber. Die kleinen Leute aber suchten keinen Grund, ihre Güte abzulehnen.

Dem alten Herrn wurde die Taktik seiner Nichte von Jahr zu Jahr unbequemer. Im Laufe des Winters festigte er seinen Entschluß, Prankenau zu verkaufen. Und hatte ihn das Neujahrsdiner bei seinen Verwandten in der Stadt ins Wanken gebracht, so verhärtete er sich hernach desto mehr in seinen Absichten. Zog aber mit Frühlings­erwachen auch die Anmut der 15 jungen Frau wieder in Prankenau ein, so schmolz in seinem Entschluß alles Mark, und der Bär vergaß über dem Krauen der rosigen Finger in seinem Balge das Brummen. Dorothea führte ihn, wie heute, am Seidenband ihrer Artigkeit spazieren. Und so kam’s denn, daß er ihr auch artige Dinge sagte. Als sie ihr Kind eingeholt und aus der gefährlichen Nähe des Teiches weggeschickt hatte, sagte der alte Racker zu seiner Begleiterin: « Elle sera belle, très belle, votre fille.»

Zu diesem Kompliment war er durchaus berechtigt. Antoinette war nicht ein besonders hübsches Kind, aber dem welt- und menschenkundigen Offizier konnte nicht entgehen, daß die verhältnismäßig groben Züge des Mädchens sich einst zu großer Vollkommenheit auswachsen würden. Besonders edle Linien zeigten ihre starken Augenbrauen und der verhältnismäßig große Mund, in dessen Winkeln ein Lachen beständig auf Erlösung lauerte. Dazu saß ihr ein bestechender Schalk in den blauen Augen. Das reiche schwarze Haar, die volle Gesichts­muskulatur und der aufstrebende Wuchs, der sich schon jetzt kundgab, waren das Erbe der Prankenauer-Linie, von der die stadtbernische Familie erst seit drei Generationen abgezweigt war. Gedankenlose Leute hatten Antoinettes Mutter oft weh getan mit der Bemerkung: «Schade, daß es nicht ein Knabe ist!» Von dem alten Prankenauer hatte Frau von Guldwang schon deshalb nichts derartiges zu befürchten, weil er der bestimmten Meinung war, es sei höchste 16 Zeit, daß das Geschlecht erlösche. «Wir waren für eine andere Zeit geschaffen,» pflegte er zu sagen. Zu dieser Behauptung fand er auch heute Gelegenheit. «O,» protestierte die junge Frau, «wir haben doch noch schöne, große Aufgaben.» Aber der Letzte von Prankenau blieb dabei: «Hören wir nicht auf zu existieren, so müssen wir aufhören, die zu sein, die wir bisher in Ehren gewesen sind; also finis Poloniae! In einer andern Haut kann unsereiner nicht leben.»

«Wir müssen eben von neuem geboren werden...»

Über diesen aus dem Schatz ihrer religiösen Reflexionen geschöpften Einwand seiner Nichte geriet der alte Herr in lebhafte Erregung. «Paperlappapp!» rief er und fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum, was die Dame in tiefe Verlegenheit brachte, denn in der Stille ihres Herzens fühlte sie sich berufen und verpflichtet, Onkel Scip sachte, sachte einem seligen Heimgang entgegenzuführen.

Schweigsam träppelten sie wieder den Garten hinan, er innerlich polternd, sie meditierend, ja eigentlich betend. Da zuckte in ihre Gedankengänge ein eigentümliches Geräusch. Pägg! hatte es hoch oben, aus dem Dach des Mittelbaues, gemacht. Das nahezu siebzigjährige Ohr des Offiziers ließ sich nicht täuschen. Er blieb wie angewurzelt stehen, blickte ringsherum in die Felder und sagte: « Je parie que c’était le projectile d’un fusil. — Die verfluchten Bauern!» Und den ungläubigen Blick seines Gastes erwidernd, fuhr er fort: 17 «Froh sein dürfen wir, wenn’s nur in die Häuser schlägt und nicht in unsre Köpfe. — Canaille!»

*  *  *

Zweimal schon hatten seit jenem Besuch der Frau Dorothea die Pflüge ringsum die Grasnarbe gewendet, und zum zweitenmal droschen die Bauern ihre Garben, während die Nebel zwischen den roten Waldsäumen das Werlental überspannen; aber niemand merkte etwas von einer Veränderung in Prankenau. Und doch mußte da etwas Besonderes vor sich gegangen sein. Eines Abends nämlich nahm Mutter Tillmann ihre beiden Kinder bei der Hand, schloß hinter sich die Haustüre und wanderte mit ihnen — dem Schlosse zu. Ihr Mann war seit mehreren Wochen als Bauführer bei einer großen Entsumpfung im Oberland beschäftigt und verwöhnte seine Familie nicht mit Briefen. Sonntagsbesuche machte er daheim nur, wenn er damit einen geschäftlichen Zweck verbinden konnte. Er gehörte zu den Leuten, denen der Erwerbssinn zur Religion geworden, die aus jeder der Beschaulichkeit geopferten Stunde eine Sünde machen. Jeder arbeitsfähige Mann, der nicht in Arbeit sein Leben hinbrachte, war in seinen Augen ein gemein­schädliches Subjekt, dem in einer Zwangsanstalt der Müßiggang abgewöhnt werden sollte. Frau Tillmann achtete den Fleiß ihres Mannes, aber sie litt unter seiner Verachtung aller Feiertags­bedürfnisse. Frau Verena war sich genau bewußt, daß sie mit dem 18 Gang ins Schloß in ihres Mannes Herzen einen gewaltigen Zorn entfesseln würde. Aber, sagte sie sich, läßt er mich so lange allein krebsen mit den Kindern, so will jetzt einmal ich sagen, was gehen soll, und für das Seelenheil meiner Kinder bin ich halt doch einem Andern verantwortlich. Endlich einmal ein erquickender Ton aus einer andern Welt, wo nicht die Hetzpeitsche den Takt schlägt, ist für unsereins nicht zuviel verlangt. Ist Hans wieder daheim, so haben wir Sachariä zum Längsten gehört.

Röseli ging seelenvergnügt neben der Mutter her. Heini dagegen hätte seinen ganzen Kaninchenstall drum gegeben, hätte er einen schicklichen Vorwand entdeckt, seiner Mutter die Gefolgschaft ins Schloß zu versagen. Hätte er nicht eine unerbittliche dreitägige Diät mit Kamillen­schwemmung zu gewärtigen gehabt, er würde noch vor dem großen Hoftor alle ihm bekannten Symptome des wütendsten Bauchgrimmens vorgetäuscht haben. Schon zu groß, um hinter den Röcken der Mutter Deckung zu suchen, schlich er scheu und «chlüpfig» zwischen ihr und der Schwester her. «Du bist jetzt auch ein dummer Bub,» schalt Frau Tillmann, «tu doch nicht, als ob man dich denen vom Schloß wollte zu fressen geben.»

Durch den mit Hirschgeweihen reich geschmückten Kreuzgang, der den Schloßbau in vier Teile schnitt, gelangten Tillmanns mit andern Leuten in einen getäferten Saal, von dessen Wänden große dunkle Bilder 19 herniederschauten. Das flackernde Licht silberner Kerzenstöcke ließ erst nach längerem Beschauen Gesichter, weiße Halskrausen und Harnische der alten Herren von Prankenau erkennen. Es hingen wohl Leuchter an der Kassettendecke; aber es hatte sie niemand angezündet. In feierlicher Stille saßen viele Leute auf den in Reihen zusammen­geschobenen Stühlen und Stabellen. An der Stirnwand des Saales lag auf einem eichenen Tisch zwischen zwei funkelnden Armleuchtern eine mächtige Bibel. Die im Dunkel liegenden Sitzplätze waren alle schon besetzt, so daß Frau Tillmann mit ihren Kindern beinah zu vorderst Platz nehmen mußte und hell beschienen war. Heini senkte den Kopf, als müßte er ihn dem Schwertstreich des Henkers hinhalten. Aber seine Blicke stahlen sich immer wieder hinauf zu einem alten, geschwärzten Jagdbilde, und das flackernde Licht der Armleuchter spielte lustig in seinen hellbraunen Locken.

So war Heini Tillmann unter den Dachknauf von Prankenau gekommen. Wie war denn das möglich geworden? — Des alten Herrn Wunderlichkeit und Eigensinn hatten sozusagen mit jedem Monat zugenommen, zugleich aber auch seine Wehrlosigkeit gegen den Charme seiner Frau Nichte, die nach und nach alles durchsetzte, was ihr gut schien. Freilich, als sie dem Oheim zum erstenmal mit der Zumutung kam, den sehr erholungs­bedürftigen Pastor Sachariae aus Barmen auf einige Tage ins Schloß zu nehmen, da hatte sich der Grimmbär mit wütender Gebärde erhoben, 20 als wollte er mit einem einzigen Tatzenhieb jeden Versuch weiterer Eroberungen auf Kosten seiner Selbständigkeit niederschlagen. Dorothea aber blieb, des Sieges ihrer Anmut sicher, vor dem Zürnenden stehn und trotzte ihm mit ihren lachenden Augen so lange, bis der aufrecht stehende Bär unter wildem Gebrumm zu hopsen und zu tanzen begann. Acht Tage später erschien der Prophet aus dem Wupperthal in der Bärenhöhle und ward — nicht gefressen. Immerhin war es um die Gastfreundschaft seltsam bestellt. Der ancien officier au service de sa Majesté le Roi des deux Siciles und der noch ältere verbi divini minister sahen sich nur bei den Mahlzeiten, und sehr bald fing es den Herrn von Guldwang zu verdrießen an, daß er sich mit dem Mann Gottes in das erquickende Geleite der schönen Frau Dorothea teilen sollte. Es hatte dies zur Folge, daß Herr Scipio entschlossener denn je vom Verkauf der Schloßdomäne brummte. Für Frau von Guldwang wurde das Problem mit jedem Tage interessanter, aber sie sah den Augenblick kommen, da sie buchstäblich entzwei gehen mußte, wobei ihre Seele dem Oheim, ihr Geist dem Herrn Sachariae anheimgefallen wäre. Solcher Katastrophe zuvorzukommen, faßte sie einen heroischen Entschluß. Sie wollte das Schloß aufs Spiel sehen, um ihres Oheims Seelenheil zu retten, wobei sie — ganz zu unterst in der verborgensten, nur noch in ahnungsvollem Purpur webenden Tiefe ihres weit voraus blickenden Herzens — dachte, wenn sie des 21 Oheims unsterbliches Teil herumgebracht hätte, so würde er in neuer Bewertung aller Dinge auch weniger Gewicht legen auf einen Verkauf von Prankenau. So ging sie denn gegen den Schloßherrn an, um ihn unter den Einfluß des geistlichen Herrn zu bringen. Dreimal erstickten ihre schleichend vorgetragenen Angriffe im Donnergepolter des grauborstigen Grenadiers. Aber ihre Wachsamkeit erhaschte endlich doch eine schwache Stunde ihres verehrten Gegners.

An einem trostlosen Regentag war’s, der nicht einmal einen Gang durch den Park, geschweige denn eine Hasenpirsch gestattete. Von Einwintern war noch lange nicht die Rede. Und so klimperte die Langeweile mit den Tropfen der rostzerfressenen Dachrinnen auf allem, was Klang geben wollte. Da huschten zwei lieblich federnde Füße durch die grämlich träumenden Korridore, und bald darauf klirrte, von den mit höchster Kunst gepflegten Händen getragen, ein silbernes Plateau auf den Schreibtisch des Herrn von Prankenau. Ein sehr ungleiches Paar, standen auf dem Plateau ein lustig kicherndes Kelchglas und eine in Staub und Spinnweben erblindete Flasche. Kein Mensch hätte die Etikette zu lesen vermocht. Aber «man» wußte, wo der dunkelgoldene Vittorio vom Hause Hirzel in Palermo in Bereitschaft lag. Daneben stand eine Schale mit Bretzeln, Bretzeln, wie sie nur von den Köchinnen der alten Landsitze gebacken wurden. Welche wunderliebliche Energie spielte in den herrlichen Händen Dorotheas, 22 als sie die Flasche entkorkte! Eine Lust müßte es sein, von diesen Patschchen so eine leicht fliegende Ohrfeige zu bekommen.

Der alte Herr lachte: «Jetzt sehe ich doch, daß diese Hände auch noch was anderes können als im Betbuch blät...»

Sie hatte sich mit graziöser Drohgeberde vor ihn hingepflanzt und schob die Flasche hinter sich.

«Was soll das?» schalt sie. «Onkel Scipio, jetzt muß ich einmal ein sehr ernstes Wort mit Ihnen reden.»

« Sacre double! Wenn Sie mir den Tropfen nicht vergällen wollen, so sparen Sie Ihre Tiraden! — Fix! Geben Sie her!»

Er tat, als wollte er seine Nichte wegschieben. Sie aber legte ihm den ausholenden Arm mit kräftigem Druck auf die Lehne des Fauteuils und setzte sich, die Flasche noch weiter schiebend, halb auf den Schreibtisch. «Spaß beiseite, Onkelchen,» sagte sie, «Sie ahnen gar nicht, was für einen ausgezeichneten Mann Sie im Hause haben. Tausende kämen stundenweit gelaufen, wenn sie diese Gelegenheit hätten...»

«Wuäh — wuäh!» krächzte belustigt der Hartgesottene.

«Es wäre wirklich nicht zu verantworten, wenn Sie nicht wenigstens einmal den Versuch machten, ihn anzuhören. Sehn Sie, ich weiß schon, warum Sie nie in eine Predigt gehen. Das kommt nur daher, daß Sie niemals einen wirklich guten Prediger gehört haben.»

23 «Was? Gelbschnabel Sie! Unsere Feldprediger...»

«Eben, gerade die! Das müssen so eine Art von Profoßen...»

«Bitte!»

«Also, fertig! Sie haben überhaupt noch nie eine rechte Predigt gehört, und hier handelt es sich zudem um etwas ganz anderes. Ihr Gast ist kein zudringlicher Bußprediger, sondern ein Mann, der mit besonderer Erleuchtung Blicke in die Herrlichkeit des Jenseits getan hat. Hie und da einmal sich auf das ewige Leben besinnen, kann nichts schaden. Onkelchen, tun Sie mir den Gefallen, ihn nur ein einziges Mal anzuhören.»

«Ach was! Eben gerade das mag ich nicht leiden. Was sollte denn so einer mehr sehen vom Jenseits als andere Menschen. Was unsereiner nötig hat, wäre so alle paar Jahre einmal eine verflucht gesalzene Schweize, die den Sündendreck abfrißt wie Ätzwasser. Aber dazu müßte ein anderer her, sapristi! Und überhaupt, mir ist’s noch gar nicht um den Abmarsch zur großen Armee.»

«Onkel Scipio, um Ihre Sünden ist’s ja gar nicht zu tun. Ich meine bloß, man sollte doch die prächtige Gelegenheit nicht versäumen. Sie brauchen ja nicht einmal dabei zu sein. Aber ich möchte es nicht verantworten, daß man den vielen Leuten hier herum den großen Segen vorenthält, den...»

«Wa... wawawaß!» Des alten Herrn Augen sprühten Feuer. «Was gehn mich diese Leute an?»

24 «Ich meine nur... Sie brauchen sich in keiner Weise zu derangieren. Sie sollen mir nur erlauben, daß ich irgendwo unter Ihrem Dach einen Raum herrichte, wo...»

«Wohl gar noch in meinem Salon, daß es drei Tage lang nach Halblein und Kuhmist duftet! Nein, meine Liebe. Und daß man hernach im Lande herum die Köpfe zusammensteckt und sich zuwispert: der alte Scip ist unter die mômiers gegangen. Er will wohl himmeln, he? Non non, ma chère!»

Er wollte sich erheben; aber Dorothea schob ihn sanft in den Lehnstuhl zurück und sagte: «Also, ich will Sie nicht länger quälen.» Nun schenkte sie ein Glas voll des herrlichen Weines, nippte daran und hielt es ihm mit einem entzückenden Lächeln hin, indem sie sich auf die Armlehne seines Fauteuils setzte und den linken Arm um seinen Nacken legte, genau so, wie wenn man einem lieben Kranken einen Labetrunk reichen will. Aber sie wartete umsonst auf das gutmütige Lächeln des alten Kindes, mit dem er sonst ihre Schmeicheleien erwiderte. Und ihr Duft schien das Dunstgebräu von kaltem Knaster und Eau de Cologne, das seine Kleider atmeten, diesmal nicht überwinden zu können.

«Onkelchen, nicht wahr!» schmeichelte sie ganz nahe an seinem Ohr. Das Glas in der Hand, fragte er barsch, als ob er nicht verstünde, was sie wolle: «Was?»

«Onkelchen! Den süßesten Kuß bekommen Sie von Dorothea, wenn Sie ihr erlauben, ein paar Leute ins 25 Schloß zu laden...» Ganz nahe fühlte der alte Herr ihren Hauch. Da raunte in ihm etwas: Wenn du etwa glaubst, dein Onkel sei ramollo, so irrst du dich, Kleine. Mit einem Schluck war das Glas leer. Er machte sich von ihr los, stand auf und ging zur Türe. Dort wandte er sich noch einmal um und rief: «Geht ins Ofenhaus oder in die Remise!» Und hinter ihm fiel die eichene Türe ins Schloß.

Einen Augenblick war Frau Dorothea betroffen und ärgerlich. Sie schämte sich der verschwendeten Zärtlichkeit, empfand einen stillen Zorn über die Ablehnung seitens des alten Kavaliers und überlegte, ob sie nicht stracks nach Bern verreisen wolle. Dann aber meldete sich in ihr das bescheidene Triümphlein. Es roch ein klein wenig nach Romantik und Glaubens­verfolgung. So eine Versammlung im rauchgeschwärzten Ofenhaus! Das wurde ungeheuer stimmungsvoll. — Und was den verschmähten Kuß betraf... der alte Herr war ja doch so ein bißchen... na! Weg damit! Und Frau Dorothea flog, ein wenig parfümierte Puritanerin, zu dem Propheten.

Herr Guldwang von Prankenau war übler dran als seine Nichte. Der Schimpf, den er ihr angetan, wurmte ihn, denn im Grunde seines Herzens war sie ihm lieb. Es war ihm, als hätte er mit eigener Hand den Sonnenschein aus seinem Hause verscheucht. Gar zu sehr wollte er doch auch nicht das alte Kind spielen, sonst würde er den Schaden durch verdoppelte Artigkeit 26 wieder gut gemacht haben. Als er unbemerkt seine Stube wieder gewonnen hatte, schob er sich einen tiefgründigen Lehnstuhl ans Feuer, wobei er nicht vergaß, die angestochene Flasche und das Glas auf das Kamingesimse zu retten. Aufgeregt paffte er aus seiner Meerschaumpfeife und spuckte von Zeit zu Zeit sehr wenig chic in die zischende Glut. Er ließ in seiner Erinnerung alles Revue passieren, was an Frauen je sein Herz berührt hatte. Zum Teufelholen war’s eigentlich. In Neapel, ja da konnte man sich eine Zeitlang köstlich amüsieren. Gemütlich lebte sich’s und verdammt sorglos, bis auf einmal Seine Majestät jenen deutlichen Wink ergehen ließ: entweder sollen die Herren heiraten oder... Und da stand man vor einer ganz verzwickten Situation. So eine Napolitanerin. Glutäugig, melodiös und weiß der Kuckuck was alles. Aber Hausfrau... nein, das nicht. Also ward der Dienst quittiert, denn eine Schweizerin in die Garnison zu bringen, ging auch nicht. Daheim konnte er sich jahrelang nicht mehr zurechtfinden, und endlich kam ein mariage de raison zustande mit unendlich viel haushälterischem Sinn und Verstand, aber eigentlich erbärmlich wenig Poesie. Es dauerte nur wenige Jahre, gerade lange genug, um aus dem tollen Scip einen Spießbürger zu machen, dem der Mut zu einer neuen Heirat fehlte. Er hätte auch weit und breit kein weibliches Wesen gekannt, mit dem er sein Leben gerne geteilt hätte. Jetzt endlich — schien ihm die Sonne sozusagen noch in den 27 Sarg hinein. Hätte er gewußt, daß es solche Weiber auf der Welt gibt, die Füße würde er sich danach wundgelaufen haben. O sie war charmant, die Dorothea mit all ihren lebenslustigen und selbst mit ihren frommen Faxen, denen er sich auf die Dauer wohl kaum ganz entziehen konnte.

Als sich Herr von Guldwang von seinem Nachmittags­schläfchen erhob, trommelten die Dachrinnen immer noch. Gähnend warf er einen Blick in den Hof und erwachte darob vollends. Was trieben denn die da unten? Die Köchin, die Kammerjungfer der jungen Frau, die alte Christine und wohl noch andere Weibsleute schleppten alles mögliche aus dem Wasch- und Ofenhaus, ja sie rollten sogar die großen Bauchbütten in den Hof hinaus. Ei, das ging ja kreuzfidel zu, eine wahre Gugelfuhr. Wurde da nicht das Neßleren-Mädi, das Faktotum, welches seit des letzten Gärtners Entlassung das Regiment in Hof und Garten führte, mit des Lehenmanns Kobi handgemein! Und der Trappi mußte ihr Handlangern wie im Taglohn. Ja, ja — hm hm, gelt Kobeli, so sind sie. Sogar die Hunde hatten ihren Spaß daran, wedelten und bellten wie besessen vor Freude, daß endlich etwas los sei.

Herr Scipio ahnte etwas und ergrimmte in seinem Herzen. Stracks nach dem Ofenhaus lief er. Da stand, ein befehlender major domus, den Kopf in ein rotes Tuch gebunden und in eine Ärmelschürze gehüllt, Frau Dorothea auf den Steinfliesen des ausgeräumten Waschhauses. 28 Der Schloßherr zerkrümelte auf seinen tabakbraunen Zähnen einen einbalsamierten Kasernenfluch. Ein triumphierender Blick aus den hellen Augen seiner Nichte traf den von seinen Hunden Umwedelten.

«Was gibt’s denn da?»

«Ich habe mir erlaubt, von Ihrer gütigen Erlaubnis Gebrauch zu machen, Onkel.»

Da rang sich ein knurrender Laut aus des alten Herrn Kehle. Er schleuderte einen grimmigen Blick auf Frau Dorothea und wandte sich unwirsch zum Gehen, fühlte aber alsbald die zarte Hand seiner Nichte am Ärmel.

«Onkelchen!» bat sie.

Nun kehrte er sich wieder ihr zu: «Nu ja, Himmel­sakerment. Ich will das nicht!» Und mit einem ganz besonders vorwurfsvollen Blick fügte er bei: «So bin ich doch nicht. Das könnten Sie nun nachgerade wissen.»

«Und ich weiß es auch,» sagte sie begütigend. «Ich wollte nur wirklich nicht etwas durchsetzen, was Ihnen unangenehm ist.»

«Kommen Sie mit!» befahl Herr von Guldwang und schritt ihr voran dem Schloß zu. Er führte sie in den großen Speisesaal und erklärte ihr, wie der schöne Raum am zweckmäßigsten in eine Kapelle umgewandelt würde. «So können Sie’s dann auch einmal machen, wenn ich die Augen schl...» Er brach ab. Frau Dorothea aber hatte genug gehört und zog ihre Schlüsse inbezug auf den Verkauf von Prankenau. Aber sie 29 wollte es dem Oheim nicht antun, ihn empfinden zu lassen, daß er sich verschnappt habe. Ein klein wenig tat’s ihr leid um die Romantik des Ofenhauses; aber nun war es doch am Platz, sich ihres Sieges zu freuen, und sie dankte für denselben, das Kopftuch abnehmend, unter den Augen der gesamten, höchst korrekten Ahnengalerie derer von Prankenau mit einem zarten Kuß auf die schmunzelnden Runzeln des Herrn Scipio.

So war die Abendversammlung zustande gekommen. Niemand von den erwartungsvoll harrenden Teilnehmern wußte etwas von diesem Vorspiel. Desto feierlicher war’s.

Jetzt hörte man Stimmen im Korridor, die sich rasch der Türe näherten. Die Türfalle knackste. Warum nur Heini sich wieder an die Mutter hängte, als fürchtete er, ein Gespenst eintreten zu sehen? Ja, wer mit seinen Ohren gehört hätte, wie das machte: Pigg! Pägg! Pägg!

Statt eines Gespenstes trat die junge Frau ein, wie man allgemein Dorothea benannte, und hinter ihr her der «Profässer aus dem Deutschen». Er trat zwischen die schönen Leuchter an den Tisch, schlug aber die große Bibel nicht auf, sondern zog ein Testamentchen aus der Tasche, neigte sich seitlich gegen den einen Leuchter und blätterte kurzsichtig in dem Büchelchen. Die junge Frau setzte sich an das Klavier, zündete die Kerzen an und schlug ein Gesangbuch auf.

Das alles hatte Heinis Aufmerksamkeit derart in Anspruch genommen, daß er wie aus dem Traum erschrak, 30 als plötzlich ein wunderfeines Mägdlein dicht neben ihm saß und tat, als hätten sie immer zusammengehört. Antoinette lächelte ob des Buben scheuen Blicken und betrachtete ihn mit Wohlgefallen, denn Heini war ein Knabe, um den Frau Verena Tillmann von mancher Mutter beneidet wurde.

Nun las der Pastor einen Liedervers vor und Frau Dorothea schlug ein paar Akkorde an. Da hielt Antoinette ihrem Nachbarn ganz zutraulich das aufgeschlagene Gesangbuch hin. Heini überlief es heiß und kalt. Jetzt sollte er gar noch mit dem Schloßfräulein aus einem Buche singen. Unwillkürlich lehnte er sich wieder gegen die Mutter, erhielt aber durch einen ziemlich spitzen Ellbogen mehr als deutliche Verhaltungs­maßregeln. Mit dem Singen war’s freilich sonderbar bestellt. Heini, der kaum einen Ton herausbrachte, hörte nur Antoinette; alle andern vergaßen das Singen über den kräftigen Stimmen der Frau von Guldwang und des Pastors. Einzig Frau Schraner, in der Umgegend bekannt unter dem Namen Neßlerenmädi, hatte sich mitreißen lassen und setzte ungefähr in der dritten Zeile ein. Aber schon nach der ersten Strophe erhielt sie von der Köchin einen Box: «Hör’ lieber zu, Mädi!» Mädis Augen sprühten Nesselhärchen; aber in der Dunkelheit verfehlten sie ihr Ziel, und da der Box die Sangesfreudigkeit des weiblichen Gartenvogts erstickt hatte, blieb die Stimmung ungestört.

Hätte Heini Tillmann zwischen seinen Schulkameraden 31 gesessen, so wäre ihn in einemfort das Lachen angekommen. Der Mann da vorne machte ja gar nicht wie die Pfarrer sonst machten. Wenn er betete, faltete er nicht einmal die Hände. Er hielt sie vor sich hin mit den innern Flächen nach oben, gerade wie wenn man etwa einen Hut hinhält, um ein Almosen aufzufangen. Und eigentlich beten, was man sonst beten heißt, tat er auch nicht. Er redete mit dem lieben Gott, als ob der leibhaftig vor ihm stünde. Zuerst lachte Heini nicht, weil ihm die Kameradschaft dazu fehlte; bald aber war ihm überhaupt nicht mehr ums Lachen. Noch warf er links und rechts einen schüchtern forschenden Blick, und als er sah, daß die Leute keinen Wank mehr taten, sondern Augen machten, als sähen sie, Gott weiß was, ergab er sich und fing auch an zu hören; aber er begriff herzwenig. Der Mann sprach von der Stadt Gottes, vom himmlischen Jerusalem. Ganz wunderliche Dinge erzählte er. Ein jedes Tor an dieser Stadt, sagte er, sei von einer einzigen Perle gemacht und die Gassen seien von lauterem Gold und durchsichtig wie Glas. Heini Tillmann versuchte, sich solch eine Riesenperle vorzustellen und dann ein Tor, das aus einer einzigen Perle bestünde. Er zwängte und zwängte an seiner Phantasie; aber immer wollte etwas nicht komplett werden, und die Perlen, welche die Schloßfrau in den Ohrläppchen trug, erleichterten ihm die Sache gar nicht. Und wollte er sich die goldenen Gassen vorstellen, so kam er nicht von den Goldstücken 32 los, die er etwa gesehen. Einmal hatte der Vater ein ganzes Häuflein auf dem Tisch gehabt. Etwa einen Tisch oder einen Fußboden voll Goldstücke, das ließ sich noch denken, aber ein ganzes Haus oder gar eine Gasse! Heini fing an zu rechnen, wie viele Zwanzigfränkler daheim auf den Stubenboden gingen und — ui! — was man da draus kaufen könnte. Da müßte er flugs ein eigenes Flobertgewehr haben und brauchte nicht mehr den Vögeli-Ruedi um das seine zu bitten. Potz Miesch! Da würden die Ziegel auf dem hohen Schloßdach stäuben. Heini hatte ganz vergessen, daß er unter diesem Dach saß. Und auf einmal schwieg der Pfarrer. Heini erschrak. Hatte der Pfarrer etwas gemerkt?

Antoinette hielt ihm wieder das Buch vor, während ihre Mutter sich ans Klavier setzte, und sagte: «Du mußt auch singen.» Heini ward es heiß im Kopf. Er tat, als wollte er singen; aber es kam kein Ton aus seiner Kehle. Wie hätte er’s auch wagen dürfen! Es wäre Sünd und schade gewesen, zu stören, was sein Ohr genoß. Wie die sangen! Die Schloßfrau und der Pfarrer und das schöne Mädchen. Sie sangen ein Lied, das er so schnell nicht vergessen würde:

Ich bin zufrieden.
Daß ich die Stadt gesehn,
Und ohn’ Ermüden
Will ich ihr näher gehn
Und ihre hellen, gold’nen Gassen
Lebenslang nicht aus den Augen lassen.

33 Hernach stand man auf, und weil nicht alle auf einmal zur Türe hinaus konnten, blieb Heini eine ganze Weile neben dem Mädchen stehen, das so freundlich mit ihm gewesen. Da kam auch die Schloßfrau herzu, sprach ein paar Worte mit der Mutter und faßte mit ihrer feinen Hand Heini unters Kinn. «Wie heißest du, Kleiner?» fragte sie, und als er geantwortet, fuhr sie mit einem zärtlichen Blick auf ihre Tochter fort: «Komm doch auch mal am Tag herüber mit deiner Schwester. Ihr könnt dann zusammen spielen. Willst du?» Heini war die Einladung gar nicht willkommen. Er am hellichten Tag im Schloßgarten — das wollte ihm nicht in den Sinn. Aber, was konnte er anders als ja sagen?

Als sie das große Hoftor hinter sich hatten, fingen die Frauen an, ihre Meinungen über des Pastors Ansprache auszutauschen. Einige wollten sich den schönen Eindruck, den sie empfangen hatten, nicht verschwatzen lassen und gingen raschen Schrittes ihren Heimstätten zu, um sich in der dumpfen Finsternis der niedrigen Schlafstuben noch möglichst ausgiebig dem Bild von der himmlischen Stadt, die keine Leuchte hat und doch lauter Licht ist, hinzugeben. Aber kaum lagen sie ausgestreckt, so war auch schon der Schlaf da, der tagsüber am murmelnden Bach gekauert und aus dem Schatten der Erlen dem rastlosen Schaffen der Landleute zugesehen. Der litt es nicht, daß ihr Geistesauge in die Wonne des mühelosen ewigen Lebens hinüberblicke. 34 Er legte seine Hand auf ihr Gesicht und hieß Leib und Seele verstummen, damit sie andern Tages neue Kraft an den Kampf um ihr Brot wenden könnten.

Auch Frau Tillmann würde ihre Eindrücke schweigsam im Tabernakel ihres Herzens heimgetragen haben, hätte nicht die Känelmatt-Bäuerin, Frau Verena Grundbacher, besser bekannt unter dem Namen Matt-Vreni, ihren Widerspruch herausgefordert. Matt-Vreni meinte: «Ein schönes Wort hätte er schon, dieser Pfarrer; wenn er nur die Gschrift ließe, wie sie ist! Was brauchen sie auch immer daran herumzunüderen, bis niemand mehr drüber kommt, was man glauben soll! Wenn’s doch einmal geschrieben steht, das ewige Jerusalem sei eine Stadt, so wird’s däich wohl eine Stadt sein und nicht nur so Geistigs. Und wegen den goldenen Gassen: Gold ist einmal Gold. Gott wird wohl wissen, warum er es dem Johannes so eingegeben hat. Aber eben, es braucht nur den armen Sündern etwas Schönes verheißen zu sein, so ist’s den großen Herren schon nimmer recht, und sie haben nicht Ruhe, bis sie es vernütiget haben.»

«Selb ist schon so,» wandte nun Bill-Änni vom Lindenboden ein, «aber weißt, Vreni, öppis muß doch dran sein mit dem Geistigen. Man darf ja nicht dran denken, was es gäbe, wenn ds Ernstem so eine Stadt vom Himmel herunterkäme. So ein Gebäu will doch Grund und Boden haben. Wenn man’s gesehen hat, wie’s da die Jahre in Kilchwerlen gegangen ist, wo 35 sie bloß ein kleines Häuslein haben um einen halben Schuh herumlüpfen wollen wegen den Kosten. Da sind auch die Pfisiguggere drum herum gestanden mit Brillen auf der Nase, und haben geraten, so und so müsse es gehen, bis auf einmal alles an einem Haufen lag. Da haben sie dann gehabt für zwänzg. Nein, was von dieser Welt ist, ist nun einmal nicht für die Ewigkeit gemacht.»

Frau Tillmann blieb auf einmal stehen und sagte zu ihren Kindern: «Seht, wie das schön ist!» Sie deutete auf die andere Seite des Tales, wo der langgestreckte mächtige Rumpf des Amselberges sich vor der sanft am Himmel verschwimmenden Lichtflut der Stadt abzeichnete. Um so tiefer war das Dunkel, welches herwärts auf allem ruhte. Aber in unermeßlicher Tiefe und Herrlichkeit flimmerte über der ganzen weiten Welt das Sternenheer des Herbsthimmels. Den Kindern kam es merkwürdig vor, daß die Mutter auf einmal eine besondere Freude an diesen Dingen bekundete. Sie, die jeden Abend noch lange aufblieb, wenn Röseli und Heini schon im tiefsten Schlafe lagen, konnte ja so etwas täglich bewundern. Mit Frau Tillmann waren auch die andern Frauen stehen geblieben, denn eigentlich hatten die erbaulichen Gespräche ihr gegolten, von der man ein sicheres Urteil über die Bibelstunde erwartete.

Bill-Änni, unwillig über die Ablenkung, sagte: «das ist d’Stadtheiteri», worauf Frau Tillmann plötzlich ihre 36 beiden Kinder fester bei der Hand faßte und mitten durch die andern Heimkehrenden hindurch einen sehr energischen Schritt anschlug. Daß eine der Nachbarinnen halblaut die übrigen fragte: «Was hat jetzt die?» hörte sie zwar nicht; aber der hämische Ton in dem Gutenacht, das sie ihr nachriefen, entging Frau Tillmann kaum. Sie verlangsamte ihren Schritt erst, als sie um das Kehrhüsi gegen die Känelmatt eingebogen hatte.

Die Mutter blieb schweigsam. Lange noch, nachdem die Kinder zu Bett gegangen waren, saß sie über der Bibel und sann ungestört den zukünftigen Dingen nach.

Drüben, im Schlosse, saß der alte Herr am Kaminfeuer. Die Lampe hatte er durch einen Lichtschirm, auf dem in transparenter Malerei der Vesuv seine glühenden Lavaströme ausschüttete, abgeblendet. Er träumte in die Glut des Kamins, das ihm heute abend — wie Klänge aus einer andern Welt — das Lied von den goldenen Gassen, den süßesten Lippen entschwebt, aus dem Saal in seine Einsamkeit heraufgeleitet hatte. Und auch er sann darüber nach, was die goldenen Gassen bedeuten könnten.


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