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Zwölftes Kapitel.
Nikhils Erzählung

XV

Heute reisen wir nach Kalkutta.

Wenn wir nur immer fortfahren, unsre Freuden und Leiden anzuhäufen, lasten sie schwer auf uns. Wir sollten sie von uns werfen, denn wir haben nicht hier unsre Stätte, sondern sind Pilger auf dem Pfade des Lebens. Wenn wir hier unser Haus bauen, kerkern wir unsre Seele ein, bis sie in der Kerkerluft erstickt.

Meine Vereinigung mit dir, Geliebte, war nur für die Pilgerfahrt, die hinter uns liegt; sie war gut, solange wir denselben Weg gingen, sie wird uns nur hemmen, wenn wir versuchen, sie darüber hinaus zu erhalten. Jetzt streifen wir diese Fessel ab. Wir haben die Reise nach andern Zielen angetreten, und es muß uns genug sein, wenn wir einander einen Blick zuwerfen oder im Vorübergehen die Hand des andern streifen können. Und danach? Danach gelangen wir auf die größere Heerstraße der Welt, in den endlosen Strom des Alllebens.

Wie unermeßlich viel bleibt mir noch, wenn wir geschieden sind! Geliebte! Wenn ich lausche, höre ich die Flöte spielen, ich höre den Quell ihrer Melodien hervorströmen aus der Kluft, die uns trennt. Der unsterbliche Trank der Göttin versiegt nie. Sie zerbricht nur bisweilen den Becher, aus dem wir ihn trinken, und lächelt, wenn sie uns so untröstlich sieht über den unbedeutenden Verlust. Ich will nicht stillstehen und die Scherben auflesen. Ich will vorwärtsschreiten, wenn auch mit durstendem Herzen.

Die Bara Rani kam und fragte mich: »Was bedeutet denn das, Bruder, daß diese Bücher eingepackt und kistenweise weggeschickt werden?«

»Das bedeutet nur, daß ich meine Liebe zu ihnen noch nicht habe überwinden können,« erwiderte ich.

»Ich wollte nur, daß du deine Liebe auch einigen andern Dingen noch bewahrtest! Hast du denn die Absicht, gar nicht nach Hause zurückzukommen?«

»Ich werde hin und wieder kommen, aber ich werde mich hier nicht wieder ganz einmauern.«

»O wirklich! Nun, da komm einmal in mein Zimmer und sieh, an wieviel Dingen ich mit meiner Liebe hänge!« Damit nahm sie mich bei der Hand und führte mich ab.

Im Zimmer meiner Schwägerin fand ich zahllose Koffer und Bündel fertig gepackt. Sie öffnete einen der Koffer und sagte: »Sieh, Bruder, da habe ich all meine Sachen zur Bereitung von pan Rollen aus Betelpfefferblättern mit Stücken von Betelnuß, Katschu und Gewürzen gefüllt, die als Kaumittel verwandt werden.. In dieser Flasche habe ich Katschupuder, das mit dem Pollen von Schraubenbaumblüten gewürzt ist. In den kleinen Zinndosen sind lauter verschiedene Gewürze. Auch meine Spielkarten und mein Damenbrett habe ich nicht vergessen. Wenn ihr beiden zu beschäftigt seid, so werde ich schon andre Freunde da finden, die ein Spiel mit mir machen. Erinnerst du dich noch an diesen Kamm? Es ist einer von den Swadeschi-Kämmen, die du mir mitbrachtest–...«

»Aber was bedeutet dies alles, Schwester Rani? Warum hast du denn all diese Sachen gepackt?«

»Denkst du, ich gehe nicht mit euch?«

»Aber welche Idee!«

»Hab keine Angst! Ich werde weder mit dir kokettieren noch mit der Tschota Rani streiten. Man muß doch eines Tages sterben, und man tut ebenso gut, das Ufer des heiligen Ganges aufzusuchen, bevor es zu spät ist. Der Gedanke, hier auf eurem elenden Verbrennungsplatz unter dem verkrüppelten Feigenbaum eingeäschert zu werden, ist entsetzlich, – darum habe ich mich nicht entschließen können, zu sterben und dich so lange geplagt.«

Hier sprach endlich mein Heim zu mir mit seiner wahren Stimme. Die Bara Rani war als Braut in unser Haus gekommen, als ich erst sechs Jahre alt war. Wir haben an den schläfrigen Nachmittagen zusammen in einer Ecke der Terrasse des Daches gespielt. Ich habe ihr oben vom Baum herunter grüne Mangofrüchte zugeworfen, aus denen sie köstlich unverdauliche chutnees machte, indem sie sie in dünne Scheiben zerschnitt und mit Senf, Salz und verschiedenen Kräutern würzte. Meine Aufgabe war es, ihr all die verbotenen Sachen aus der Vorratskammer zu holen, die sie für das Hochzeitsfest ihrer Puppe brauchte, denn der Strafkodex meiner Großmutter ließ nur für mich Ausnahmen zu. Und sie wählte mich immer zum Boten an ihren Bruder, wenn sie ihm etwas Besonderes abschmeicheln wollte, denn meinen ungestümen Bitten konnte er nicht widerstehen. Ich weiß noch, wie ich damals unter den strengen Maßregeln der Ärzte litt, die bei Fieberanfällen nur warmes Wasser und Kardamomlimonade gestatteten, und wie meine Schwägerin meine Entbehrungen nicht mit ansehen konnte und mir heimlich Leckerbissen brachte. Was für Schelte bekam sie eines Tages, als sie dabei ertappt wurde!

Und als wir dann größer wurden, waren die Leiden und Freuden, die uns miteinander verbanden, ernsterer Art. Wie wir mitunter in Streit gerieten! Bisweilen, wenn eigennützige Interessen uns trennten, stieg Mißtrauen und Eifersucht auf und brachte einen Riß in unsre Freundschaft; und als die Tschota Rani zwischen uns trat, sah es so aus, als ob dieser Riß nie wieder heilen würde. Aber es zeigte sich immer, daß die heilenden Kräfte am Grunde stärker waren als die Wunden an der Oberfläche.

So ist von Kindheit an bis heute eine innige Freundschaft zwischen uns emporgewachsen, deren dichtbelaubte Zweige sich über jedes Zimmer, jede Veranda, jede Terrasse dieses großen Hauses breiten. Als ich sah, wie die Bara Rani sich bereit machte, mit all ihrer Habe dies unser Haus zu verlassen, da fühlte ich, wie es an allen Banden, die uns zusammenhielten, bis in die äußersten Enden schmerzhaft zerrte.

Ich wußte wohl den Grund, warum sie sich entschlossen hatte, dem Unbekannten zuzutreiben und alle jene Bande zu zerschneiden, die sie mit den täglichen Gewohnheiten an das Haus knüpften, das sie nie einen Tag verlassen, nachdem sie es mit neun Jahren zuerst betreten hatte. Und doch wollte sie diesen wahren Grund nicht über ihre Lippen kommen lassen, sondern verbarg ihn lieber hinter andern, nichtigen Vorwänden.

Ich war der einzige, der ihr von allen Verwandten auf der Welt geblieben war, und die arme unglückliche, verwitwete und kinderlose Frau hegte diese Verwandtschaft mit aller Zärtlichkeit, die sie in ihrem Herzen aufgespeichert hatte. Wie tief sie unsre beabsichtigte Trennung empfunden hatte, fühlte ich erst, als ich zwischen ihren umhergestreuten Koffern und Bündeln stand.

Ich erkannte mit einem Blick, daß die kleinen Zwistigkeiten wegen Geldangelegenheiten, die sie oft mit Bimala hatte, nicht niederm Eigennutz entsprangen, sondern sie fühlte, daß diese andere Frau, die von Gott weiß woher kam, ihre Ansprüche an den einzigen Verwandten, der ihr geblieben war, zurückdrängte und das Band zwischen ihm und ihr lockerte! Sie war bei jedem Schritt verletzt worden und hatte doch kein Recht, sich zu beklagen.

Und Bimala? Auch sie fühlte, daß die Ansprüche der Bara Rani an mich sich nicht nur auf unsre Verwandtschaft gründeten, sondern ihren tieferen Grund hatten, und sie war eifersüchtig auf dies Verhältnis zwischen uns, das in unsre Kindheit zurückreichte.

Nun schlug mein Herz heftig gegen die Tür meiner Brust. Ich sank auf einen der Koffer nieder und sagte: »Ach, Schwester Rani, wie glücklich wäre ich, wenn die alten Zeiten, wo wir uns zuerst in diesem unserm alten Hause sahen, wiederkehren wollten!«

»Nein, lieber Bruder,« erwiderte sie mit einem Seufzer, »ich möchte mein Leben nicht noch einmal leben, – nicht als Frau! Laß das, was ich zu tragen gehabt habe, nur mit dieser einen Existenz zu Ende sein! Ich könnte es nicht noch einmal ertragen.«

Ich sagte zu ihr: »Die Freiheit, zu der wir durch Leid gelangen, ist größer als das Leid.«

»Das mag bei euch Männern so sein. Die Freiheit ist für euch. Aber wir Frauen möchten andere fesseln oder möchten noch lieber selbst von ihnen gefesselt werden. Nein, nein, Bruder, du wirst dich aus unsern Netzen nicht losmachen können. Wenn du denn deine Flügel ausbreiten und wegfliegen mußt, so mußt du mich mit dir nehmen; wir wollen nicht zurückbleiben. Darum habe ich all dies schwere Gepäck zusammengetragen. Man darf euch Männer nicht mit zu leichter Ladung laufen lassen.«

»Ich fühle das Gewicht deiner Worte,« sagte ich lachend, »und wenn wir Männer nicht über die Lasten, die ihr uns auferlegt, klagen, so geschieht es, weil ihr Frauen uns so freigebig belohnt für das, was ihr uns zu tragen gebt.«

»Ihr tragt es,« sagte sie, »weil die Last aus so vielen kleinen Dingen besteht. Immer, wenn ihr eins davon zurückweisen wollt, so führt es zu seinen Gunsten an, daß es so leicht ist. Und so drücken wir euch mit all den leichten Dingen zu Boden–... Wann reisen wir ab?«

»Der Zug fährt heute abend um halb zwölf. Wir haben reichlich Zeit.«

»Nun sei ein einziges Mal in deinem Leben artig und höre auf das, was ich sage! Schlaf dich heute nachmittag ordentlich aus! Du weißt, du kannst im Zuge nie schlafen. Du bist so herunter, daß du jeden Augenblick zusammenklappen kannst. Komm, nimm erst dein Bad.«

Als wir nach meinem Zimmer gingen, kam Khema, das Mädchen, herauf. Sie zupfte verlegen an ihrem Schleier und sagte in leisem, entschuldigendem Ton, daß der Polizei-Inspektor mit einem Gefangenen gekommen sei und den Maharadscha zu sprechen wünsche.

»Ist der Maharadscha ein Dieb oder ein Räuber,« fuhr die Bara Rani auf, »daß die Polizei beständig hinter ihm her sein muß? Geh und sag' dem Inspektor, daß der Maharadscha beim Baden ist!«

»Laß mich nur mal sehen, was los ist,« bat ich. »Es kann etwas Dringendes sein.«

»Nein, nein,« beharrte meine Schwägerin. »Unsre Tschota Rani hat gestern abend eine Unmenge Kuchen gebacken. Ich werde dem Inspektor ein paar schicken, damit er ruhig bleibt, bis du fertig bist.« Damit schob sie mich in mein Zimmer und schloß die Tür hinter mir zu.

Ich hatte nicht die Kraft, mich solcher Tyrannei zu widersetzen, – sie ist so selten in dieser Welt. Mochte der Inspektor sich die Zeit mit Kuchenessen vertreiben. Was machte es, wenn die Pflicht einmal ruhte?

Die Polizei war diese letzten Tage eifrig am Werke gewesen, bald diesen, bald jenen zu verhaften. Jeden Tag wurde irgendein Unschuldiger zur Erheiterung der Angestellten in mein Geschäftszimmer geführt. Ich vermutete, daß sie jetzt wieder so ein unglückliches Opfer herangeschleppt hatten. Aber warum sollte der Inspektor allein sich an Kuchen gütlich tun? Das war nicht in der Ordnung. Ich stieß heftig gegen die Tür.

»Wenn du toll werden willst, gieß dir schnell etwas Wasser über den Kopf – das wird dich abkühlen,« sagte meine Schwägerin vom Korridor aus.

»Schicke Kuchen für zwei hinunter«, rief ich. »Der, den man als Dieb eingebracht hat, verdient sie vielleicht noch mehr. Laß ihm eine tüchtige Portion geben!«

Ich beeilte mich mit meinem Bad. Als ich herauskam, saß Bimala draußen vor der Tür auf dem Boden Auf dem nackten Boden sitzen ist ein Zeichen von Trauer und, von da aus übertragen, auch von Zerknirschung.. War es möglich, daß dies meine alte stolze, verwöhnte Bimala war?

Welche Gunst konnte sie erbitten wollen, als sie da so vor meiner Tür saß? Als ich stutzte und stehenblieb, stand sie auf und sagte leise mit niedergeschlagenen Augen: »Ich möchte dich sprechen.«

»So komm herein«, sagte ich.

»Aber hast du gerade etwas Besonderes vor?«

»Ja, aber das macht nichts. Ich möchte hören–...«

»Nein, besorge das erst! Wir sprechen dann heute mittag, wenn du gegessen hast.«

Ich ging in mein Zimmer, wo der Polizei-Inspektor seinen Teller ganz leer gegessen hatte. Aber sein Begleiter war noch mit Essen beschäftigt.

»Halloh!« rief ich überrascht aus. »Du, Amulja?«

»Ja, ich«, sagte Amulja, den Mund voll Kuchen. »Das war ein richtiger Festschmaus. Und wenn's Ihnen recht ist, nehme ich den Rest mit.« Damit band er die übrigen Kuchen in sein Taschentuch.

»Was bedeutet dies?« fragte ich, mit einem erstaunten Blick auf den Inspektor.

Der Mann lachte. »Wir sind in bezug auf den Dieb noch ebenso klug,« sagte er, »inzwischen wird das Geheimnis des Diebstahls immer dunkler.« Damit zog er ein eingewickeltes Bündel hervor, das sich, als er es aufband, als ein Päckchen Banknoten entpuppte. »Hier, Maharadscha,« sagte der Inspektor, »sind Ihre sechstausend Rupien.«

»Wo hat man sie gefunden?«

»In Amulja Babus Händen. Er kam gestern abend zu Ihrem Verwalter in Tschakna und sagte ihm, daß das Geld sich gefunden habe. Der Verwalter war anscheinend in noch größerer Bestürzung über die Wiedererlangung des Geldes, als er über den Raub gewesen war. Er fürchtete, man könne ihn im Verdacht haben, erst die Banknoten beiseite gebracht und nun, aus Angst, daß es herauskäme, sich dies Ammenmärchen ausgedacht zu haben. Er bat Amulja, noch etwas zu warten, er wolle ihm eine Erfrischung bringen, und kam geradeswegs zum Polizeiamt. Ich brach sofort auf, nahm Amulja mit mir und habe den ganzen Morgen versucht, etwas aus ihm herauszubringen. Er will nicht sagen, wo er das Geld bekommen hat. Ich warnte ihn, er würde solange in Haft bleiben, bis er es sagte. In dem Fall, meinte er, würde er lügen müssen. Gut, sagte ich, das solle er nur tun. Dann sagte er aus, er habe das Geld unter einem Busch gefunden. Ich machte darauf ihn aufmerksam, daß das Lügen so leicht nicht sei. Unter welchem Busch er es denn gefunden habe? Und an welchem Ort? Was hatte er da zu tun? – Über das alles würde er seine Aussagen machen müssen. »Seien Sie unbesorgt,« sagte er, »ich habe ja noch Zeit genug, mir das alles auszudenken.«

»Aber, Inspektor,« sagte ich, »warum belästigen Sie einen achtbaren jungen Menschen wie Amulja Babu?«

»Ich habe nicht den Wunsch, ihn zu belästigen«, sagte der Inspektor. »Er ist nicht nur aus guter Familie, sondern noch dazu der Sohn meines Schulfreundes, Nibaran Babu. Ich will Ihnen genau sagen, Maharadscha, wie die Sache liegt. Amulja kennt den Dieb, aber will ihn schützen, indem er den Verdacht auf sich lenkt. Solche Bravourstückchen sehen ihm gerade ähnlich. Ich will Ihnen mal was sagen, junger Mann,« wandte er sich an Amulja, »ich war auch einmal achtzehn und Student in Ripon College. Ich wäre beinahe ins Gefängnis gekommen, weil ich versuchte, einen Droschkenkutscher gegen einen Polizisten in Schutz zu nehmen. Ich kam mit genauer Not davon.«

»Maharadscha,« fuhr er dann zu mir gewandt fort, »der wirkliche Dieb wird nun wahrscheinlich entkommen, aber ich glaube, ich weiß, wer hinter der ganzen Sache steckt.«

»Wer denn?« fragte ich.

»Jener Verwalter, im Einverständnis mit dem Wächter Kasim.«

Als der Inspektor endlich fortgegangen war, nachdem er mir seine Hypothese lang und breit auseinandergesetzt hatte, sagte ich zu Amulja: »Wenn du mir sagst, wer das Geld genommen hat, verspreche ich dir, daß niemandem ein Leid geschehen soll.«

»Ich habe es getan«, sagte er.

»Aber wie ist es möglich? Wie war denn das mit der ganzen Schar bewaffneter Männer?–...«

»Das war ich, ganz allein!«

Was Amulja mir nun erzählte, war in der Tat eine seltsame Geschichte. Der Verwalter war gerade mit seinem Abendbrot fertig und dabei, sich auf der Veranda den Mund zu spülen. Es war ziemlich dunkel. Amulja hatte in jeder Tasche einen Revolver, von denen einer mit Platzpatronen, der andre mit Kugeln geladen war. Vor dem Gesicht hatte er eine Maske. Er hielt dem Verwalter plötzlich eine Blendlaterne vors Gesicht und gab einen blinden Schuß ab. Der Mann fiel in Ohnmacht. Ein paar von den Wächtern, die dienstfrei waren, kamen herzugelaufen, aber sobald Amulja auch auf sie einen blinden Schuß abgab, verloren sie keine Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Dann kam Kasim, der Dienst hatte, mit einem dicken Knüppel herbeigestürzt. Diesmal feuerte Amulja einen scharfen Schuß ab, wobei er nach Kasims Beinen zielte, und als dieser fühlte, daß er getroffen war, brach er zusammen und fiel zu Boden. Amulja zwang dann den zitternden Verwalter, der inzwischen zur Besinnung gekommen war, den Geldschrank zu öffnen und ihm 6000 Rupien einzuhändigen. Darauf nahm er eins von den Dienstpferden, galoppierte ein paar Meilen, ließ dann das Pferd frei laufen und kam ruhig zu Fuß hierher zurück.

»Was veranlaßte dich zu diesem Streich, Amulja?« fragte ich.

»Ich hatte einen sehr gewichtigen Grund, Maharadscha«, erwiderte er.

»Aber warum versuchtest du denn, das Geld zurückzugeben?«

»Rufen Sie sie, auf deren Befehl ich es tat! In ihrer Gegenwart werde ich alles bekennen.«

»Und wer ist ›sie‹?«

»Meine Schwester, die Tschota Rani!«

Ich ließ Bimala rufen. Sie kam zögernd, barfuß, den Kopf in einen weißen Schal gehüllt. Ich hatte meine Bima nie so gesehen. Es war, als ob sie sich in Morgenlicht gehüllt hätte.

Amulja warf sich vor ihr nieder und berührte ehrfurchtsvoll ihre Füße. Als er sich dann erhob, sagte er: »Ihr Befehl ist ausgeführt, Schwester. Das Geld ist zurückgegeben.«

»Du hast mich gerettet, mein kleiner Bruder«, sagte Bima.

»Ich habe immer Ihr Bild vor Augen gehabt und keine einzige Lüge gesagt«, fuhr Amulja fort. »Mein Losungswort Bande Mataram habe ich zu Ihren Füßen auf immer von mir geworfen. Ich habe auch schon meine Belohnung bekommen, Ihren prasad, sobald ich in den Palast kam.«

Bima sah ihn bei seinen letzten Worten verständnislos an. Amulja zog sein Taschentuch hervor, band es auf und zeigte ihr die Kuchen. »Ich habe sie nicht alle gegessen«, sagte er. »Diese habe ich noch aufbewahrt, damit Sie sie mir selbst vorlegen.«

Ich sah, daß ich hier überflüssig war und ging aus dem Zimmer. Ich konnte predigen, soviel ich wollte, so sagte ich mir, zum Lohn für meine Mühe verbrannte man mein Bild. Es war mir noch nicht gelungen, eine einzige Seele vom Pfade des Verderbens zurückzubringen. Wer die Gabe hat, kann es durch einen bloßen Wink. Meine Worte haben nicht diese unauslöschliche Wirkung. Ich bin keine Flamme, sondern nur eine schwarze, ausgebrannte Kohle. Ich kann keine Lampe anzünden. Mein Leben zeigt es, – meine Lampen bleiben alle unangezündet.

 

XVI

Ich kehrte langsam nach den innern Gemächern zurück. Unwillkürlich lenkte ich meine Schritte nach dem Zimmer der Bara Rani. Ich hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, zu fühlen, daß dies mein Leben imstande gewesen war, auf einer andern Lebensharfe eine Saite anzuschlagen, die mir mit vollem, warmem Ton antwortete. Man kann die Erfüllung seines Daseins nicht in sich selber finden, man muß sie draußen suchen.

Als ich an das Zimmer meiner Schwägerin kam, trat sie heraus und sagte: »Ich fürchtete, du würdest dich schon wieder so lange aufhalten. Doch ich habe dein Mittagessen schon bestellt, sobald ich dich kommen hörte. Es wird sogleich gebracht.«

»Inzwischen will ich dein Geld aus meinem Schrank holen, damit ich es bereit habe.«

Als wir nach meinem Zimmer gingen, fragte sie mich, ob der Polizei-Inspektor irgendwelche Nachricht über den Raubüberfall gebracht hätte. Ich hatte keine rechte Neigung, ihr eingehend zu berichten, wie das Geld zurückgebracht worden sei, und antwortete ausweichend: »Ja, sie machen viel Wesens von der Geschichte.«

Als ich in mein Ankleidezimmer kam und mein Schlüsselbund herausnahm, war der Schlüssel zum Geldschrank nicht an dem Ring. Wie konnte ich nur so blödsinnig zerstreut sein! Erst heute morgen hatte ich alle möglichen Koffer und Schränke geöffnet und gar nicht bemerkt, daß dieser Schlüssel fehlte.

»Was ist denn mit deinem Schlüssel passiert?« fragte meine Schwägerin.

Ich konnte es ihr nicht sagen und fuhr fort, eine Tasche um die andere zu durchsuchen. Immer wieder suchte ich an denselben Stellen. Es wurde uns beiden klar, daß der Schlüssel nicht verlegt sein könne. Jemand mußte ihn vom Ring abgenommen haben. Wer konnte das sein? Wer hatte denn sonst noch in dies Zimmer kommen können?

»Sorge dich nicht weiter darum«, sagte sie zu mir. »Iß erst zu Mittag! Die Tschota Rani muß ihn selbst an sich genommen haben, als sie sah, wie zerstreut du immer bist.«

Ich war innerlich jedoch sehr unruhig. Bima hatte nie einen von meinen Schlüsseln genommen, ohne es mir zu sagen. Beim Mittagessen war sie nicht zugegen; sie war damit beschäftigt, Amulja in ihrem Zimmer zu bewirten. Meine Schwägerin wollte sie rufen lassen, aber ich bat sie, es nicht zu tun.

Ich war gerade mit dem Essen fertig, als Bima hereinkam. Ich hätte lieber nicht über die Sache mit dem Schlüssel gesprochen, solange die Bara Rani dabei war, aber sobald sie Bima sah, fragte sie: »Weißt du, mein Liebling, wo der Schlüssel zu dem Geldschrank ist?«

»Ich habe ihn«, war die Antwort.

»Habe ich's nicht gesagt?« rief meine Schwägerin triumphierend. »Unsre Tschota Rani tut so, als ob diese Räubereien sie ganz kalt lassen, aber heimlich trifft sie doch ihre Vorsichtsmaßregeln.«

Der Ausdruck in Bimas Gesicht ließ mich nichts Gutes ahnen. »Laßt den Schlüssel jetzt«, sagte ich. »Ich nehme das Geld heute abend heraus.«

»Nun schiebst du es wieder auf«, sagte die Bara Rani. »Warum willst du es nicht gleich jetzt, wo du daran denkst, herausnehmen und zum Schatzamt schicken?«

»Ich habe es schon herausgenommen«, sagte Bima.

Ich stutzte.

»Wo hast du es denn?« fragte meine Schwägerin.

»Ich habe es ausgegeben.«

»Nun höre einer! Wofür hast du all das Geld ausgegeben?«

Bima antwortete nicht. Ich fragte nicht weiter. Die Bara Rani schien etwas bemerken zu wollen, aber sie besann sich anders. »Nun, dann ist ja alles in Ordnung«, sagte sie mit einem Blick auf mich. »Das machte ich genau so mit meines Mannes Kleingeld. Ich wußte, es hatte keinen Sinn, es ihm zu lassen, – seine neunundneunzig Schmarotzer hätten es ihm doch abgenommen. Du bist auch nicht viel anders, Bruder. Wieviel Mittel ihr Männer habt, um Geld loszuwerden! Wir können es euch nur retten dadurch, daß wir es euch stehlen. Nun komm aber! Fort mit dir, zu Bett!«

Die Bara Rani führte mich in mein Zimmer, aber ich wußte kaum, wohin ich ging. Sie setzte sich an mein Bett, nachdem ich mich darauf ausgestreckt hatte, und lächelte Bima zu. »Gib mir einen von deinen pans, liebe Tschotie«, sagte sie. »Was, du hast keine? Du bist mir eine schöne Hausfrau! Dann laß ein paar aus meinem Zimmer holen!«

»Aber hast du denn schon zu Mittag gegessen?« fragte ich besorgt.

»O, schon längst«, erwiderte sie. Das war augenscheinlich geflunkert.

Sie blieb neben meinem Bett sitzen und plauderte über alles Mögliche. Das Mädchen kam und sagte Bima, daß ihr Mittagessen serviert sei und kalt würde, aber sie schien es nicht zu hören. »Was, du hast noch nicht gegessen? Was machst du für Geschichten! Es ist schon furchtbar spät.« Damit führte die Bara Rani Bima mit sich fort.

Ich konnte erraten, daß zwischen diesen 6000 Rupien und dem Diebstahl der andern ein Zusammenhang bestand. Aber ich bin nicht neugierig, zu wissen, welcher Art er ist. Ich werde nie danach fragen.

Die Vorsehung formt unser Leben im groben, sie will, daß wir selbst die letzte Hand anlegen und ihm seine endgültige Gestalt nach unserm Sinn geben. Ich habe mich immer bemüht, bei der Gestaltung meines Lebens den vom Schöpfer vorgezeichneten Linien zu folgen und ihm einen tiefen Sinn zu geben. In diesem Bestreben habe ich mein ganzes Leben verbracht. Wie ernstlich ich mich bemüht habe, meine Begierden im Zaum zu halten und jede Selbstsucht in mir zu unterdrücken, weiß nur Er, der in unser Herz sieht.

Aber die Schwierigkeit ist, daß unser Leben nicht uns allein gehört. Wir können es nicht formen, ohne die Hilfe unsrer Umgebung. Daher war es immer mein Traum, Bima dafür zu gewinnen, daß sie mir bei dieser Arbeit helfe. Ich liebte sie von ganzer Seele; daher glaubte ich fest, es müsse mir gelingen.

Dann machte ich die Entdeckung, daß ich nicht zu den Menschen gehöre, die so ganz einfach und natürlich ihre Umgebung zu dieser Arbeit an ihrem Selbst heranziehen können. Ich habe den Lebensfunken erhalten, aber ich kann ihn nicht weitergeben. Die, denen ich mein Alles gegeben habe, haben es genommen, ohne mich selbst mitzunehmen.

Ich werde wirklich schwer geprüft. Immer, wenn ich am meisten eines helfenden Gefährten bedarf, werde ich auf mich selbst zurückgewiesen. Dennoch gelobe ich aufs neue, durchzuhalten in dieser Prüfungszeit.

So will ich denn allein meinen Dornenpfad gehen, bis die Reise dieses Lebens zu Ende ist–...

Mir ist der Gedanke gekommen, daß ich doch immer etwas Neigung zur Tyrannei gehabt habe. Es war ein gewisser Despotismus in meinem Verlangen, meine Beziehungen zu Bimala in eine feste, klar umrissene und vollkommene Form zu bringen. Aber des Menschen Leben ist nicht dazu bestimmt, in eine feste Form gepreßt zu werden. Und wenn wir versuchen, dem Guten auf solche Weise Gestalt zu geben, als wäre es bloßer Stoff, so rächt es sich furchtbar, dadurch, daß es das Leben verliert.

Erst jetzt ist es mir klargeworden, daß es diese unbewußte Tyrannei gewesen sein muß, die uns allmählich voneinander entfernte. Als Bimalas Leben nicht zu seiner wahren Höhe aufsteigen konnte, da ich es von oben niederdrückte, mußte es sich dadurch einen Abfluß suchen, daß es seine Ufer am Grunde unterhöhlte. Sie mußte diese 6000 Rupien stehlen, weil sie mir gegenüber nicht offen sein konnte, weil sie fühlte, daß ich für gewisse Dinge kein Verständnis hatte noch haben wollte.

Menschen wie ich, die von einer Idee beherrscht werden, sind mit denen im Einklang, die ihren Überzeugungen zustimmen können; aber die andern können nur mit uns fertig werden, wenn sie uns betrügen. Unser hartnäckiger Eigensinn ist es, der selbst die Offensten und Geradesten auf krumme Wege treibt. Bei dem Versuch, uns eine Gefährtin nach unserm Sinn zu formen, verderben wir das Weib.

Könnte ich nicht noch einmal von vorn anfangen? Ja, dann würde ich den Pfad der Einfalt gehen. Ich würde nicht versuchen, die Gefährtin meines Lebens mit meinen Ideen zu binden, sondern die fröhliche Flöte meiner Liebe spielen und fragen: Liebst du mich? Dann wachse nur, dir selber treu, im Licht deiner Liebe! Laß Gottes Plan, der in dir lebendig ist, triumphieren und laß meine Pläne beschämt umkehren!

Aber kann selbst die große Heilmutter Natur die Wunde heilen, die all das Mißverstehen dieser letzten Zeit uns schlug? Die schützende Hülle, unter der allein die stillen Kräfte der Natur wirken können, ist auseinander gerissen. Wunden müssen verbunden werden – können wir unsre Wunde nicht mit unsrer Liebe verbinden, so daß ein Tag kommt, wo ihre Narbe nicht mehr sichtbar sein wird? Ist es nicht zu spät? Wir haben so viel Zeit verloren mit Mißverstehen; wir haben die ganze Zeit bis jetzt gebraucht, um endlich zu verstehen, – wie lange Zeit werden wir brauchen, um wieder gutzumachen? Und wenn die Wunde wirklich heilt, – kann die Zerstörung, die sie verursacht hat, je wieder gutgemacht werden?

Ich hörte ein leises Geräusch an der Tür. Als ich mich umwandte, sah ich Bimala durch die offene Tür verschwinden. Sie mußte an der Schwelle gewartet haben, unschlüssig, ob sie hereinkommen sollte, und schließlich hatte sie sich entschlossen, umzukehren. Ich sprang auf und stürzte zur Tür und rief: »Bima!«

Sie stand still, doch wandte sie sich nicht um. Ich trat zu ihr, nahm sie bei der Hand und führte sie in unser Zimmer zurück. Sie warf sich mit dem Gesicht aufs Kissen und schluchzte unaufhaltsam. Ich sagte nichts, sondern setzte mich nur still zu ihr und hielt ihre Hand.

Als der leidenschaftliche Ausbruch ihres Schmerzes sich gelegt hatte, richtete sie sich auf. Ich wollte sie an meine Brust ziehen, aber sie schob meine Arme zurück und kniete vor mir nieder, indem sie wiederholt meine Füße ehrfurchtsvoll mit ihrer Stirn berührte. Ich zog hastig meine Füße zurück, aber sie umklammerte sie mit ihren Armen und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Nein, nein, nein, du darfst deine Füße nicht wegziehen! Laß mich meine Ehrfurcht verrichten!«

Da ließ ich sie gewähren.

 

Bimalas Erzählung

 

XXIII

Auf, meine Seele! Jetzt ist die Zeit gekommen, dich dahin einzuschiffen, wo der Strom der Liebe einmündet in das große Meer der Anbetung. In diesem reinen Blau versinkt und verschwindet die ganze Last seines Schlammes.

Jetzt fürchte ich nichts mehr, – weder mich selbst, noch irgend jemand anders. Ich bin durch Feuer hindurchgegangen. Was entzündlich war, ist zu Asche verbrannt, was geblieben ist, ist unsterblich. Ich habe meine Seele dem zu Füßen gelegt, der all meine Sünde in den Abgrund seines eigenen Schmerzes versenkt hat.

Heute abend reisen wir nach Kalkutta. Meine innern Unruhen ließen mich bis jetzt nicht dazu kommen, nach meinen Sachen zu sehen. Jetzt will ich sie ordnen und einpacken.

Nach einer Weile merkte ich, daß mein Gatte auch gekommen war und beim Packen half.

»Das geht aber nicht«, sagte ich. »Hast du mir nicht versprochen, zu schlafen?«

»Das habe ich wohl versprochen,« erwiderte er, »aber der Schlaf hat mir nicht versprochen, zu kommen und ist nirgends zu finden.«

»Nein, nein,« wiederholte ich, »das geht nicht. Leg dich wenigstens ein Weilchen hin!«

»Aber wie kannst du allein dies noch alles schaffen?«

»Natürlich kann ich das.«

»Nun, du magst dich rühmen, ohne mich fertig werden zu können. Aber offen gesagt, ich kann nicht ohne dich fertig werden. Selbst der Schlaf wollte zu mir allein nicht in unser Zimmer kommen.« Damit machte er sich wieder an die Arbeit.

Aber es kam eine Unterbrechung in Gestalt eines Dieners, der meldete, daß Sandip Babu da sei und bäte, vorgelassen zu werden. Ich wagte nicht zu fragen, wen er zu sprechen wünsche. Es war, als ob das Licht des Himmels plötzlich zurückwiche wie die Blätter einer Mimose.

»Komm, Bima!« sagte mein Gatte. »Laß uns hören, was Sandip uns zu sagen hat! Da er zurückgekommen ist, nachdem er sich schon verabschiedet hatte, muß er uns etwas Besonderes zu sagen haben.«

Ich ging nur mit, weil es noch schwieriger gewesen wäre, zurückzubleiben. Sandip starrte ein Bild an, das an der Wand hing. Als wir eintraten, sagte er: »Ihr fragt euch gewiß, warum der Bursche noch einmal wiedergekommen ist. Aber ihr wißt, der Geist ist nicht gebannt, bis alle feierlichen Bräuche erfüllt sind.« Mit diesen Worten zog er etwas aus seiner Tasche, das er in sein Taschentuch gebunden hatte, legte es auf den Tisch und löste den Knoten auf. Es waren jene Goldstücke.

»Versteh mich nicht falsch, Nikhil,« sagte er. »Du mußt dir nicht einbilden, daß ich, von deinem Umgang angesteckt, plötzlich ehrlich geworden bin; ich bin nicht der Mann, der mit schlotternden Knieen reuig zurückkehrt, um unrechtmäßig erworbenes Geld wiederzubringen. Aber–...«

Er stockte. Nach einer Pause wandte er sich zu Nikhil, aber seine Worte waren an mich gerichtet:

»Ja, Bienenkönigin, endlich hat der Geist der Reue Einlaß gefunden in meinem bisher ungestört ruhigen Gewissen. Da ich jede Nacht, sobald der erste Schlaf vorüber ist, mit ihm zu kämpfen habe, kann ich ihn nicht für ein bloßes Hirngespinst halten. Es gibt vor ihm kein Entrinnen, selbst für mich nicht, bis die Schuld bezahlt ist. In die Hände jenes Geistes lege ich daher, was ich zurückbringe. Göttin! Ihnen allein auf der Welt kann ich nichts wegnehmen. Sie lassen mich nicht los, bis ich ganz entblößt bin. Nehmen Sie auch dies zurück!«

Damit zog er den Schmuckkasten unter seinem Mantel hervor und setzte ihn hin, und dann verließ er uns mit hastigen Schritten.

»Höre, Sandip,« rief mein Gatte ihm nach.

»Ich habe keine Zeit, Nikhil,« sagte Sandip, an der Tür stehenbleibend. »Man sagt mir, daß die Muselmänner mich für einen unschätzbaren Edelstein halten, und hinter mir her sind, um mich zu rauben und auf ihrem Friedhof zu vergraben. Aber ich fühle, daß ich noch weiterleben muß. Ich habe noch gerade 25 Minuten, um den Zug nach Norden zu bekommen. Daher muß ich für jetzt Schluß machen; wir werden unsre Unterredung bei der nächsten passenden Gelegenheit zu Ende führen. Wenn du meinen Rat hören willst, so zögre du auch nicht, von hier fortzukommen! Ich grüße Sie, Bienenkönigin, Königin der blutenden Herzen, Königin der Vernichtung!«

Er stürzte hinaus. Ich stand unbeweglich; nie vorher war mir so klar geworden, wie wertlos, wie armselig dies Gold und diese Juwelen sind. Noch kurz vorher war ich geschäftig gewesen, mir zu überlegen, was ich mitnehmen und wie ich es einpacken wollte. Jetzt fühlte ich, daß es überhaupt nicht nötig war, irgendetwas mitzunehmen. Aufbrechen und fortreisen so schnell wie möglich, darauf kam es an.

Mein Gatte trat zu mir und faßte meine Hand. »Es wird spät,« sagte er, »wir haben nicht mehr viel Zeit, unsre Reisevorbereitungen zu beenden.«

In diesem Augenblick kam Tschandranath Babu plötzlich herein. Als er uns beisammen fand, wich er erst zurück, doch dann sagte er: »Verzeihen Sie, Mütterchen, wenn ich störe! Nikhil, die Muselmänner haben sich erhoben. Sie plündern Harisch Kundus Schatzhaus. Das ist noch nicht so schlimm. Aber entsetzlich ist es, wie sie den Frauen des Hauses Gewalt antun.«

»Ich komme,« sagte mein Gatte.

»Was kannst du da tun?« sagte ich und hielt bittend seine Hand fest. »Ach Herr,« wandte ich mich an seinen Lehrer, »wollen Sie ihm nicht sagen, daß er nicht hingeht?«

»Es gibt nichts Dringenderes zu tun, Mütterchen,« erwiderte er.

»Ängstige dich nicht, Bima,« rief mein Gatte mir im Fortgehen zu.

Als ich ans Fenster trat, sah ich ihn zu Pferde fortgaloppieren, ohne irgendwelche Waffe in der Hand.

Gleich darauf kam die Bara Rani hereingestürzt. »Was hast du getan, liebe Tschotie?« rief sie. »Wie konntest du ihn fortlassen?«

»Ruf sofort den Dewan Eingeborener Angestellter eines großen bengalischen Haushaltes, der den Verkehr mit den Eingeborenen vermittelt.,« sagte sie zu einem Diener.

Die Ranis zeigen sich sonst nicht dem Dewan, aber in dem Augenblick waren der Bara Rani alle äußeren Formen gleichgültig.

»Schick dem Maharadscha sofort einen reitenden Boten nach und laß ihn zurückrufen,« sagte sie, sobald der Dewan erschien.

»Wir haben ihn alle beschworen, nicht hinzureiten,« sagte der Dewan, »aber er wollte nicht umkehren.«

»Laß ihm sagen, daß die Bara Rani krank ist, daß sie auf dem Sterbebett liegt!« rief meine Schwägerin verzweifelt.

Als der Dewan hinausgegangen war, wandte sie sich wütend gegen mich. »O du Hexe, du Ungetüm, konntest du nicht selbst sterben, statt ihn in den Tod zu schicken!–...«

Es begann zu dunkeln. Die Sonne ging hinter dem gefiederten Laubwerk des blühenden Sadschnabaums unter. Ich sehe noch heute jede leise Schattierung jenes Sonnenuntergangs vor mir. Zwei Wolkenmassen zu beiden Seiten der sinkenden Sonnenscheibe gaben ihr das Aussehen eines gewaltigen Vogels, der seine feurig gefiederten Schwingen weit ausbreitete. Es war mir, als ob dieser verhängnisvolle Tag sich aufmachte zu seinem Fluge über den Ozean der Nacht.

Es wurde dunkler und dunkler. Aus der Ferne wogte Waffenlärm heran und wich dann wieder in das Dunkel zurück, wie die Flammen eines brennenden Dorfes fern am Horizont aufzucken und wieder verschwinden.

Die Abendglocken erklangen von unserm Tempel. Ich wußte, die Bara Rani saß jetzt da, die Hände in stillem Gebet gefaltet. Aber ich konnte keinen Schritt vom Fenster weichen.

Die Straßen, das Dorf dahinter und die noch entfernteren Baumreihen verschwammen immer mehr im Dunkel. Der See in unserm Park blickte mit trübem Glanz zum Himmel auf, wie das Auge eines Blinden. Zur Linken schien der Turm seinen Hals auszurecken, um etwas, was in der Ferne geschah, zu erspähen.

Die Geräusche der Nacht nehmen alle Arten von Verkleidungen an. Ein Zweig knackt, und man glaubt, ein Verfolgter renne um sein Leben. Eine Tür schlägt zu, und es ist einem, als ob das Herz der Welt in jähem Schreck pochte.

Lichter flackerten plötzlich unter dem Schatten der fernen Bäume auf und verschwanden wieder. Ab und zu erklirrten Hufe, doch es waren nur Reiter, die aus den Palasttoren ritten.

Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, daß, wenn ich nur sterben könnte, alles gut sein würde. Solange ich lebte, griffen meine Sünden immer weiter um sich und säten nach allen Seiten Zerstörung aus. Ich erinnerte mich an die Pistole in meiner Truhe. Aber meine Füße wollten nicht vom Fenster weg und sie holen. Wartete ich denn nicht auf mein Schicksal?

Die Nachtwache kündete feierlich die zehnte Stunde. Bald darauf tauchten in der Ferne eine ganze Reihe Lichter auf, und eine große Schar von Leuten wand sich wie eine große Schlange auf den dunklen Wegen den Palasttoren zu.

Der Dewan stürzte ans Tor. In demselben Augenblick galoppierte ein Reiter herein. »Wie steht es, Dschata?« fragte der Dewan.

»Nicht gut,« war die Antwort.

Ich hörte diese Worte ganz deutlich von meinem Fenster aus. Aber dann wurde etwas geflüstert, was ich nicht verstehen konnte.

Dann kam eine Sänfte, der eine Bahre folgte. Der Doktor ging neben der Sänfte.

»Was meinen Sie, Doktor?« fragte der Dewan.

»Ich kann noch nichts sagen,« erwiderte der Doktor. »Die Wunde am Kopf ist ernst.«

»Und Amulja Babu?«

»Mit ihm ist es aus. Eine Kugel hat ihn ins Herz getroffen.«

 

Gedruckt im Herbst 1921
von der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig

 


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