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Zehntes Kapitel.
Nikhils Erzählung

XII

Ich hörte von meinem Lehrer, daß Sandip mit Harisch Kundu gemeinsame Sache gemacht hätte und daß eine große Feier stattfinden sollte zu Ehren der dämonenvernichtenden Göttin. Harisch Kundu erpreßte die Mittel dazu von seinen Pächtern. Die gelehrten Brahmanen Kaviratna und Vidjavagisch waren beauftragt, eine kunstvolle doppelsinnige Hymne zu verfassen.

Mein Lehrer hatte eben mit Sandip ein Wortgefecht darüber. »Auch bei den Göttern gibt es eine Entwicklung«, sagte Sandip. »Der Enkel muß die Götter, die sein Großvater schuf, nach seinem eignen Geschmack ummodeln, sonst bleibt er ein Atheist. Meine Sendung ist es, die alten Gottheiten der neuen Zeit anzupassen. Ich bin zum Erlöser der Götter geboren, der sie von der Knechtschaft der Vergangenheit frei macht.«

Ich habe von unsrer Kindheit an gesehen, welch ein Ideengaukler Sandip ist. Er hat kein Interesse daran, die Wahrheit zu entdecken, aber es erfreut sein Herz, wenn er an ihr seinen Witz üben kann. Wenn er unter den Wilden Afrikas geboren wäre, so hätte er eine schöne Zeit damit zugebracht, ein Argument nach dem andern zu erfinden, um zu beweisen, daß der Kannibalismus das beste Mittel ist, eine wahre Gemeinschaft zwischen Mensch und Mensch herzustellen. Aber die, die sich mit Betrug abgeben, betrügen schließlich sich selbst, und ich bin fest überzeugt, daß Sandip, jedesmal, wenn er sich einen neuen Trugschluß ausgedacht hat, sich einredet, er habe die Wahrheit gefunden, wie widerspruchsvoll auch seine Schlüsse unter sich sein mögen.

Doch ich werde mich jedenfalls nicht dazu hergeben, die Fabrikation solcher Rauschmittel in meinem Lande zu fördern. Die jungen Leute, die bereit sind, sich in den Dienst ihres Vaterlandes zu stellen, dürfen sich nicht an den Rausch gewöhnen. Wer andre durch Rauschmittel zur Vollbringung eines Werkes treibt, sündigt an ihrer Seele.

Ich sah mich genötigt, Sandip in Bimalas Gegenwart zu sagen, daß er fort müsse. Vielleicht werden beide mir falsche Beweggründe unterschieben. Aber ich muß mich frei machen, auch von der Furcht mißverstanden zu werden. Mag selbst Bimala mich mißverstehen–...

Es kommen immer mehr mohammedanische Priester von Dacca herüber. Die Muselmänner auf unserm Gebiet hatten mit der Zeit eine fast ebenso große Abneigung gegen das Töten von Kühen bekommen wie die Hindus. Aber jetzt tauchen hier und da Fälle auf, wo sie Kühe schlachten. Ich hörte zuerst davon durch ein paar von meinen mohammedanischen Pächtern, die ihrem Abscheu darüber Ausdruck gaben. Ich sah, daß wir hier in eine schwierige Lage gerieten. Bisher waren ihre religiösen Gründe nur ein Vorwand, aber dieser Vorwand wird zu wirklichem Fanatismus werden, sobald sie Widerstand finden. Darin zeigt sich gerade der Scharfsinn dieser Maßregel.

Ich ließ einige von meinen Hauptpächtern, die Hindus waren, rufen und versuchte, ihnen die Sache im rechten Lichte darzustellen. »Wir können selbst unerschütterlich an unsern Überzeugungen festhalten,« sagte ich, »aber wir haben keine Macht über die Überzeugungen anderer. Wenn auch viele unter uns der Wischnu-Religion angehören, so bringen doch die Schakti-Gläubigen unter uns nichtsdestoweniger ihre Tieropfer dar. Dagegen läßt sich nichts tun. Und ebenso müssen wir nun auch die Mohammedaner gewähren lassen. Daher bitte ich euch, haltet euch von allen Gewalttätigkeiten zurück!«

»Maharadscha,« erwiderten sie, »es ist so lange her, seit man von solchem Frevel gehört hat.«

»Das kommt daher,« sagte ich, »weil sie sich aus eignem Antrieb dessen enthielten. Laßt uns jetzt so verhalten, daß sie es von selbst wieder tun. Aber wenn wir den Frieden brechen, bringen wir sie nicht dazu.«

»Nein, Maharadscha,« drängten sie, »jene guten alten Zeiten sind vorbei. Dieser Frevel wird nicht aufhören, wenn Sie ihn nicht mit starker Hand unterdrücken.«

»Unterdrückung«, erwiderte ich, »wird nicht nur das Küheschlachten nicht verhindern können; sie kann dahin führen, daß auch Menschen hingeschlachtet werden.«

Einer von ihnen hatte eine englische Schule besucht. Er hatte gelernt, die Schlagworte des Tages nachzusprechen. »Es ist nicht nur eine Frage der Strenggläubigkeit«, wandte er ein. »Unser Land ist im wesentlichen ein ackerbautreibendes, und die Kühe sind–...«

»Die Büffel in diesem Lande«, unterbrach ich ihn, »geben auch Milch und werden zum Pflügen gebraucht. Und solange wir, ihre abgehauenen Köpfe auf den Schultern und mit ihrem Blut befleckt, in unsern Tempeln rasende Tänze aufführen, wird die Religion nur unserer spotten, wenn wir mit den Mohammedanern in ihrem Namen streiten, und bei dem Streit um die Wahrheit bleibt der Streit die einzige Wahrheit. Wenn nur die Kuh und nicht der Büffel dem Schlachtmesser heilig sein soll, so ist dies Buchstabendienst, aber nicht Religion.«

»Aber merken Sie denn nicht, Maharadscha, was die Ursache von allem ist?« fuhr der englisch geschulte Pächter fort. »Dies ist alles nur dadurch möglich geworden, daß der Mohammedaner sich sicher fühlt, selbst wenn er das Gesetz bricht. Haben Sie nicht von dem Fall Patschurs gehört?«

»Warum ist es möglich,« fragte ich, »die Mohammedaner so als Werkzeuge gegen uns zu gebrauchen? Haben wir sie nicht durch unsere eigne Unduldsamkeit dazu gemacht? Auf diese Weise straft uns jetzt die Vorsehung, denn das Maß unsrer Sünde ist voll, und sie wird nun an uns heimgesucht.«

»Nun gut, wenn dem so ist, so mag sie an uns heimgesucht werden. Aber die Rache wird kommen. Wir sehen das untergraben, was die größte Stärke unsrer Obrigkeit ausmachte, ihre Treue gegen ihre eignen Gesetze. Einst waren sie wirkliche Könige, die des Rechtes walteten; jetzt werden sie selbst Gesetzbrüchige und also nicht besser als Räuber. Die Geschichte mag anders urteilen; aber unser Herz wird sie immer so richten–...«

Die Verleumdungen gegen mich, die sich durch die Zeitungen verbreiten, machen mich berüchtigt. Ich höre, daß man auf dem Verbrennungsplatz der Tschakravartis unten am Fluß mein Bild mit aller Feierlichkeit und großer Begeisterung verbrannt hat, und daß man andre Beschimpfungen plant. Der Anlaß war, daß sie mich aufgefordert hatten, mich als Aktionär bei der Gründung einer Baumwollspinnerei zu beteiligen. Ich mußte ihnen sagen, daß ich nicht so sehr den Verlust meines eigenen Geldes fürchtete, als mich mitschuldig zu machen am Verlust so vieler armer Aktionäre.

»Sollen wir annehmen, Maharadscha,« sagten meine Besucher, »daß das Wohl des Landes Ihnen gleichgültig ist?«

»Industrie kann das Wohl des Landes fördern,« versetzte ich, »aber der bloße Wunsch, daß das Wohl des Landes gefördert werde, garantiert der Industrie noch keinen Erfolg. Selbst als wir mit kühlem Kopf daran gingen, wollte unsere Industrie nicht blühen. Haben wir irgend welchen Grund, zu glauben, daß sie es jetzt tun würde, nur weil wir toll geworden sind?«

»Warum sagen Sie nicht einfach, daß Sie Ihr Geld nicht wagen wollen?«

»Ich will mein Geld hineinstecken, wenn ich sehe, daß es Ihnen um die Industrie selbst zu tun ist. Aber wenn Sie ein Feuer angezündet haben, so ist damit noch nicht gesagt, daß Sie nun auch die Speise haben, die damit gekocht werden soll.«

 

XIII

Was ist das? Unser Unterschatzamt in Tschakna ist geplündert! Eine Geldsendung von 7500 Rupien sollte nach dem Hauptamt geschickt werden. Der dortige Schatzmeister hatte die Barschaft beim Staatsschatzamt in kleine Bankscheine eingewechselt, um sie bequemer tragen zu können, und hielt sie in Paketen bereit. Mitten in der Nacht brach eine bewaffnete Bande ins Zimmer ein und verwundete Kasim, den Wächter. Das merkwürdige bei der Sache ist, daß sie nur 6000 Rupien genommen und das übrige auf dem Boden ausgestreut haben, obgleich sie das ebenso leicht hätten mitnehmen können. Jedenfalls ist der Beutezug der Banditen zu Ende, und die Polizei beginnt ihren Beutezug. An Frieden ist jetzt nicht mehr zu denken.

Als ich nach Hause kam, war die Nachricht mir schon vorausgeeilt. »Das ist ja schrecklich, Bruder«, rief die Bara Rani. »Was sollen wir nur tun?«

Ich nahm die Sache leicht, um sie zu beruhigen.

»Etwas ist uns geblieben«, sagte ich lächelnd. »Wir werden schon irgendwie durchkommen.«

»Scherze nicht darüber, lieber Bruder. Warum sind sie alle so böse auf dich? Kannst du ihnen denn nicht den Willen tun? Warum bringst du einen jeden gegen dich auf?«

»Ich kann das Land nicht zugrunde gehen lassen, um sie zufrieden zu stellen.«

»Wie entsetzlich war doch die Sache, die sie da auf dem Verbrennungsplatz angestellt haben! Es ist eine Schande, daß man dich so behandelt. Die Tschota Rani ist dank ihrer englischen Bildung über alle Furcht erhaben, aber ich hatte nicht eher Ruhe, als bis ich nach dem Priester geschickt hatte, daß er das Unheil abwendete. Tu's mir zuliebe und reise nach Kalkutta, mein Liebling. Ich zittere, wenn ich denke, was sie dir antun können, wenn du noch länger hier bleibst.«

Die aufrichtige Besorgtheit meiner Schwägerin rührte mich tief.

»Und Bruder,« fuhr sie fort, »habe ich dich nicht gewarnt, du solltest lieber nicht soviel Geld in deinem Zimmer aufbewahren? Sie können jeden Tag Wind davon bekommen. Es ist nicht wegen des Geldes – aber wer weiß–...«

Um sie zu beruhigen, versprach ich, das Geld sofort nach dem Schatzamt zu bringen und es dann mit der nächsten Gelegenheit nach Kalkutta zu schicken. Wir gingen zusammen nach meinem Schlafzimmer. Die Tür zum Ankleidezimmer war geschlossen. Als ich klopfte, rief Bimala drinnen: »Ich ziehe mich an.«

»Nun, wie kommt es denn, daß die Tschota Rani sich so früh am Tage anzieht?« rief meine Schwägerin. »Da ist wohl wieder eine ihrer Bande Mataram-Versammlungen.« »Räuberkönigin,« rief sie Bimala scherzend zu, »zählst du da drinnen deine Beute?«

»Ich sehe nachher nach dem Geld«, sagte ich und ging hinaus nach meinem Geschäftszimmer.

Ich fand den Polizeiinspektor auf mich warten. »Haben Sie irgendeine Spur von den Banditen?« fragte ich.

»Ich habe einen Verdacht.«

»Auf wen?«

»Auf Kasim, den Wächter.«

»Kasim? Aber wurde der nicht verwundet?«

»Nicht der Rede wert. Eine Fleischwunde am Bein, die er sich wahrscheinlich selbst beigebracht hat.«

»Aber ich kann mich nicht entschließen, das von ihm zu glauben. Er ist ein so treuer Diener.«

»Sie mögen ihn für treu gehalten haben, aber das hindert nicht, daß er ein Dieb ist. Habe ich nicht erlebt, wie Menschen, denen man zwanzig Jahre lang getraut hatte, plötzlich–...«

»Selbst wenn es so wäre, so könnte ich ihn doch nicht ins Gefängnis schicken. Aber warum sollte er den übrigen Teil des Geldes haben umherliegen lassen?«

»Um den Verdacht von sich abzulenken. Was Sie auch sagen mögen, Maharadscha, er ist ein alter Praktikus in solchen Schlichen. Er ist zwar zu seiner Dienstzeit immer am Platz, aber ich bin sicher, daß er bei allen Räubereien in der Nachbarschaft die Hand im Spiele hat.«

Und nun zählte mir der Inspektor die verschiedenen Methoden auf, wodurch es möglich sei, an einem Raubanfall zwanzig bis dreißig Meilen weit fort teilzunehmen und doch zur rechten Zeit wieder im Dienst zu sein.

»Haben Sie Kasim mitgebracht?« fragte ich.

»Nein,« war die Antwort, »er ist in Untersuchungshaft. Die Polizei ist jetzt verpflichtet, die Untersuchung einzuleiten.«

»Ich möchte ihn sehen«, sagte ich.

Als ich in seine Zelle kam, fiel er mir weinend zu Füßen.

»Ich schwöre Ihnen bei Gott,« rief er, »daß ich es nicht getan habe.«

»Ich zweifle nicht an dir, Kasim«, beruhigte ich ihn. »Fürchte nichts. Man kann dir nichts tun, wenn du unschuldig bist.«

Kasim war jedoch nicht imstande, einen zusammenhängenden Bericht von dem Vorfall zu geben. Er übertrieb augenscheinlich. Vier- bis fünfhundert Mann, große Gewehre, zahllose Schwerter spielten eine Rolle in seiner Erzählung. Daran war entweder sein aufgeregter Zustand schuld, oder der Wunsch, sich zu rechtfertigen, weil er sich so leicht hatte besiegen lassen. Er behauptete, daß Harisch Kundu dahinterstecke; er war sogar sicher, die Stimme Ekrams, seines Hauptpächters gehört zu haben.

»Nun höre einmal, Kasim,« mußte ich ihn warnen, »zieh du nicht mit solchen Geschichten andere Leute in den Handel! Du hast nicht Harisch Kundu oder irgend jemand anders anzuklagen.«

 

XIV

Als ich nach Hause ging, bat ich meinen Lehrer, mit zu mir herüberzukommen. Er schüttelte ernst den Kopf. »Ich sehe nicht, wie dies gut enden soll«, sagte er. »Die Leute ersticken ihr Gewissen und setzen das Vaterland an seine Stelle. Alle Sünden des Landes werden jetzt in ihrer ganzen nackten Häßlichkeit hervorbrechen.«

»Wer, meinen Sie, könnte–...«

»Frage mich nicht! Aber die Sünde nimmt überhand. Schicke sie alle fort, auf jeden Fall fort von hier!«

»Ich habe ihnen noch einen Tag gelassen. Sie werden übermorgen fortgehen.«

»Und noch eins. Bringe Bimala nach Kalkutta! Sie bekommt hier ein zu einseitiges Bild von der Welt draußen, sie kann die Menschen und Dinge nicht in ihren richtigen Verhältnissen sehen. Zeige ihr die Welt – die Menschen und ihre Arbeit, – gib ihr einen weiten Blick!«

»Das eben gedachte ich auch zu tun.«

»Nun, so schiebe es nicht auf! Ich sage dir, Nikhil, alle Rassen der Welt müssen mit vereinten Kräften an der Geschichte der Menschheit bauen, und solange sie noch ihr Gewissen um der Politik willen verkaufen und ihr Vaterland zum Götzenbild machen, haben sie ihr Ziel noch nicht erkannt. Ich weiß, daß Europa dies im Grunde nicht zugibt, aber in diesem Punkte hat es kein Recht, unsern Lehrmeister zu spielen. Die Menschen, die für die Wahrheit sterben, sind unsterblich; und wenn ein ganzes Volk für die Wahrheit stirbt, so wird es auch in der Geschichte der Menschheit Unsterblichkeit erringen. Möge hier in unserm Indien unter dem Hohngelächter der Hölle das Gefühl für diese Wahrheit lebendig werden! Welch furchtbare Sündenseuche ist aus fremden Ländern in unser Land geschleppt–...«

Der ganze Tag verging in der Unruhe, die die Untersuchung brachte. Ich war ganz erschöpft, als ich mich abends zur Ruhe begab. Ich war noch nicht dazugekommen, das Geld meiner Schwägerin nach dem Schatzamt zu schicken, und verschob es bis zum nächsten Morgen.

Mitten in der Nacht wachte ich auf. Das Zimmer war dunkel. Ich glaubte, irgendwo ein Stöhnen zu hören. Jemand mußte aufgeschrien haben. Tränenschweres Schluchzen erklang wie Windstöße durch die Regennacht. Mir war es, als ob der Schrei mitten aus meinem Zimmer gekommen wäre. Doch ich war allein. Bimala hatte seit einigen Tagen ihr Bett in einem andern Zimmer neben dem meinen. Ich stand auf, und als ich hinausging, fand ich sie auf dem Balkon ausgestreckt mit dem Gesicht auf dem nackten Boden.

Was ich jetzt erlebte, läßt sich nicht mit Worten sagen. Nur er weiß es, der im Herzen der Welt sitzt und all ihr Weh in seinem eignen Herzen fühlt. Der Himmel ist stumm, die Sterne schweigen, still liegt die Nacht da, und inmitten von all diesem lautlosen Schweigen der eine verzweifelte Schrei!

Wir geben solchem Leid Namen, gute oder schlechte, je nachdem wie es die Wissenschaft einreiht, aber hat diese Todesangst, die aus einem zerrissenen Herzen aufsteigt und sich in das bodenlose Dunkel ergießt, überhaupt einen Namen? Als ich in jener Nacht unter dem schweigenden Sternenhimmel auf jene Gestalt herabsah, erbebte meine Seele in heiliger Scheu, und ich sagte zu mir selbst: »Wer bin ich, daß ich sie richten sollte?« O Leben, o Tod, o Gott des ewigen Seins, ich beuge mein Haupt in Schweigen dem Geheimnis, das in dir ist.

Einen Augenblick schwankte ich, ob ich umkehren sollte. Aber ich konnte es nicht. Ich kniete neben Bimala nieder und legte meine Hand auf ihren Kopf. Bei der ersten Berührung war es, als ob ihr ganzer Körper erstarrte, aber im nächsten Augenblick löste sich die Starrheit, und die Tränen brachen hervor. Ich strich sanft mit den Fingern über ihre Stirn. Plötzlich tasteten ihre Hände nach meinen Füßen, sie zog sie zu sich heran und preßte sie mit solcher Gewalt gegen ihre Brust, daß ich dachte, ihr Herz würde brechen.

 

Bimalas Erzählung

 

XVIII

Amulja sollte heute morgen von Kalkutta zurückkehren. Ich hatte die Dienstboten beauftragt, mich sofort zu benachrichtigen, wenn er ankäme, aber ich hatte nirgends Ruhe. Endlich ging ich hinaus, um draußen im Wohnzimmer auf ihn zu warten.

Als ich ihn ausschickte, um die Schmucksachen zu verkaufen, muß ich nur an mich gedacht haben. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß ein so junger Bursche, wenn er versuchte, solche wertvollen Juwelen zu verkaufen, leicht in Verdacht geraten könnte. So hilflos sind wir Frauen, daß wir, sobald Gefahr droht, die Last auf andre abschieben müssen. Wenn wir ins Verderben geraten, so ziehen wir die, die uns umgeben, mit hinab.

Ich hatte stolz gesagt, ich wolle Amulja retten, – als ob ein Ertrinkender andre retten könnte! Statt ihn zu retten, habe ich ihn in sein Verhängnis geschickt. Mein lieber Bruder, eine solche Schwester bin ich dir gewesen, daß der Tod an jenem Brudertag gelächelt haben muß, als ich dir meinen Segen gab, – ich, die unter der Last ihrer eigenen Schuld zusammenbricht!

Ich fühle heute, daß der Mensch mitunter von dem Bösen wie von einer Seuche befallen wird. Irgendein Keim fällt irgendwo hinein, und noch in derselben Nacht naht mit großen Schritten der Tod.

Warum entfernt man solchen Kranken nicht von den übrigen Menschen? Ich habe an mir selber erfahren, wie entsetzlich die Ansteckung ist, – wie eine glühende Fackel, die nach allen Seiten auszüngelt, um die Welt in Flammen zu setzen.

Es schlug neun. Ich konnte den Gedanken nicht loswerden, daß Amulja in Gefahr sei, daß er der Polizei in die Hände gefallen sei. Es herrscht gewiß große Aufregung auf dem Polizeiamt: Wem gehören die Schmucksachen? Wie hat er sie bekommen? Und schließlich werde ich öffentlich vor aller Welt auf diese Fragen Antwort geben müssen.

Was für eine Antwort soll das sein? Endlich ist dein Tag gekommen, Bara Rani, nachdem ich dich so lange verachtet habe. Dir wird deine Rache werden, wenn das Publikum mich mit verächtlichen Blicken mustert. O Gott, rette mich nur diesmal, und ich will all meinen Stolz meiner Schwägerin zu Füßen werfen!

Ich konnte es nicht länger ertragen. Ich ging geradewegs zu der Bara Rani. Sie war auf der Veranda und würzte ihre Betelblätter. Thako war bei ihr.

Beim Anblick Thakos wich ich einen Augenblick zurück, aber dann bezwang ich mich, neigte mich tief vor meiner älteren Schwägerin und berührte ehrfurchtsvoll ihre Füße.

»Du meine Güte, Tschota Rani,« rief sie aus, »was kommt dir denn in den Sinn? Warum plötzlich diese Ehrfurcht?«

»Es ist mein Geburtstag heute, Schwester«, sagte ich. »Ich habe dich oft gekränkt. Gib mir heute deinen Segen, daß ich es nie wieder tun möge! Mein Wille ist so schwach.« Ich neigte mich noch einmal und ging eilig fort, aber sie rief mich zurück.

»Du hast mir nie gesagt, daß heute dein Geburtstag ist, liebe Tschotie! Komm doch heute nachmittag zum Tee zu mir. Das mußt du auf jeden Fall tun!«

O Gott, laß es heute wirklich meinen Geburtstag sein! Kann ich nicht noch einmal geboren werden? Reinige mich, mein Gott, und läutre mich und versuche es noch einmal mit mir!

Ich ging wieder ins Wohnzimmer, wo ich Sandip fand. Es war, als ob ein Gefühl von Ekel mir das Blut vergiftete. Das Gesicht, das ich im Morgenlicht vor mir sah, hatte nichts von dem Zauberglanz des Genius.

»Verlassen Sie das Zimmer!« stieß ich hervor.

Sandip lächelte. »Da Amulja nicht hier ist,« bemerkte er, »sollte ich meinen, ich sei jetzt an der Reihe, ein tête-à-tête mit Ihnen zu haben.«

Jetzt rächte sich meine Schuld. Wie konnte ich ihm das Recht wieder nehmen, das ich ihm selbst gegeben hatte? »Ich möchte allein sein«, wiederholte ich.

»Königin,« sagte er, »die Gegenwart eines andern hindert nicht, daß Sie allein sind. Verwechseln Sie mich nicht mit jedem Beliebigen! Ich, Sandip, bin immer allein, selbst wenn ich von Tausenden umgeben bin.«

»Bitte, kommen Sie zu einer andern Zeit! Heute morgen–...«

»Warten Sie auf Amulja?«

Ich wandte mich zornig ab und wollte aus dem Zimmer gehen, als Sandip aus den Falten seines Mantels meinen Schmuckkasten hervorzog und ihn heftig auf den Marmortisch setzte. Ich war aufs höchste bestürzt. »Ist denn Amulja nicht fort?« rief ich aus.

»Fort, wohin?«

»Nach Kalkutta?«

»Nein«, frohlockte Sandip.

O, so hatte mein Segen doch gewirkt. Er war gerettet. Mag nun Gottes Strafe mich, die Diebin, treffen, wenn nur Amulja gerettet ist!

Der Wechsel im Ausdruck meines Gesichts reizte Sandip. »So erfreut, Königin?« fragte er höhnisch. »Sind diese Schmucksachen so kostbar? Wie konnten Sie sich denn dazu entschließen, sie der Göttin zu opfern? Denn Sie haben sie ihr tatsächlich geopfert. Wollten Sie Ihre Gabe nun zurücknehmen?«

Der Stolz stirbt schwer und erhebt noch bis zum letzten Augenblick immer wieder seine Krallen. Ich fühlte, ich mußte Sandip zeigen, daß der Verlust der Schmucksachen mir vollständig gleichgültig war. »Wenn sie Ihre Begierde erregt haben,« sagte ich, »so können Sie sie nehmen.«

»Meine Begierde umfaßt heute den Reichtum ganz Bengalens«, erwiderte Sandip. »Gibt es eine größere Kraft als die Begierde? Sie ist das Roß der Großen dieser Erde, wie der Elefant Airavat das Roß Indras. Diese Juwelen gehören also mir?«

Als Sandip den Kasten nahm und wieder unter seinen Mantel barg, stürzte Amulja herein. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, seine Lippen waren trocken, sein Haar wirr; es war, als ob die Blüte seiner Jugend in einem einzigen Tage verwelkt sei. Sein Anblick schnitt mir durch die Seele.

»Meinen Kasten!« rief er und stürzte geradewegs auf Sandip zu, ohne mich anzusehen. »Haben Sie den Schmuckkasten aus meinem Koffer genommen?«

»Deinen Schmuckkasten?« fragte Sandip spöttisch.

»Es war mein Koffer!«

Sandip lachte auf. »Deine Unterscheidung zwischen mein und dein wird etwas schwach, Amulja«, rief er. »Doch ich sehe, du wirst trotzdem als frommer Priester sterben.«

Amulja sank auf den Stuhl und barg das Gesicht in den Händen. Ich trat zu ihm und legte meine Hand auf seinen Kopf. »Was fehlt dir, Amulja?« fragte ich.

Er sprang auf. »O Schwester Rani,« rief er, »ich wollte Ihnen so gern selbst die Juwelen zurückgeben. Das wußte Sandip Babu, und nun ist er mir zuvorgekommen.«

»Was liegt mir an den Juwelen?« sagte ich. »Laß ihn sie nehmen! Das macht nichts.«

»Nehmen?« fragte er ganz verständnislos.

»Die Juwelen sind mein«, sagte Sandip. »Es sind die Insignien, die meine Königin mir verliehen hat.«

»Nein, nein, nein!« rief Amulja leidenschaftlich. »Niemals, Schwester Rani! Ich habe sie Ihnen zurückgebracht. Sie dürfen sie niemandem anders geben.«

»Ich nehme deine Gabe an, mein kleiner Bruder«, sagte ich. »Aber laß den, der Verlangen danach hat, seine Begierde befriedigen!«

Amulja funkelte Sandip Babu an wie ein Raubtier und stieß heiser hervor: »Hören Sie, Sandip Babu, Sie wissen, daß selbst der Galgen mich nicht schreckt. Wenn Sie sich unterstehen, diesen Schmuckkasten wegzunehmen–...«

Sandip lachte gezwungen und sagte: »Du solltest mittlerweile wissen, Amulja, daß ich nicht der Mann bin, der sich vor dir fürchtet.«

»Bienenkönigin,« fuhr er dann zu mir gewandt fort, »ich bin heute nicht hierher gekommen, um Ihnen die Schmucksachen zu nehmen, sondern um sie Ihnen zu geben. Sie hätten unrecht getan, wenn Sie meine Gabe aus Amuljas Händen angenommen hätten. Um dies zu verhindern, mußte ich mich erst ihres Besitzes versichern. Nun nehmen Sie hier diese meine Juwelen als eine Gabe von mir. Da sind sie! Verschwören Sie sich mit diesem Burschen, soviel Sie wollen! Ich muß fort. Sie haben alle diese Tage Ihre besonderen Gespräche gehabt, von denen ich nichts wissen sollte. Wenn jetzt besondere Ereignisse kommen sollten, so geben Sie mir nicht die Schuld!«

»Amulja,« fuhr er fort, »ich habe deine Koffer und Sachen nach deiner Wohnung bringen lassen. Ich will nichts mehr in meinem Zimmer haben, was dir gehört.« Nach diesem letzten Pfeilschuß eilte Sandip hinaus und warf die Tür hinter sich zu.

 

XIX

»Ich habe keine Ruhe gehabt, Amulja, sagte ich, »seit ich dich wegschickte, um die Schmucksachen zu verkaufen.«

»Warum, Schwester Rani?«

»Ich fürchtete, du könntest damit in Gefahr geraten, man könnte dich für einen Dieb halten. Ich möchte lieber die 6000 Rupien gar nicht haben. Jetzt mußt du noch etwas anderes mir zuliebe tun, du mußt gleich nach Hause gehen zu deiner Mutter.«

Amulja zog ein kleines Päckchen hervor und sagte: »Aber Schwester, ich habe die 6000.«

»Wo hast du sie her?«

»Ich versuchte alles mögliche, um Gold zu bekommen,« fuhr er fort, ohne meine Frage zu beantworten, »aber es gelang mir nicht. So mußte ich das Geld in Banknoten bringen.«

»Sag' mir aufrichtig, Amulja, schwöre mir, wo hast du das Geld her?«

»Das will ich Ihnen nicht sagen.«

Es wurde mir dunkel vor den Augen. »Was hast du Schreckliches getan?« rief ich. »Ist es denn–...«

»Ich weiß, Sie werden sagen, daß ich auf ungerechte Weise zu diesem Gelde kam. Gut, ich gebe es zu. Aber ich habe den vollen Preis für meine Schuld bezahlt. Daher ist das Geld jetzt mein.«

Ich wollte nicht mehr wissen. Das Blut erstarrte mir in den Adern.

»Schaffe es fort, Amulja«, flehte ich. »Bringe es wieder dahin, wo du es hergenommen hast!«

»Das würde in der Tat schwer sein!«

»Es ist nicht schwer, lieber Bruder. Es war ein verhängnisvoller Augenblick, als du mich zuerst sahst. Selbst Sandip hat dir nicht so viel schaden können wie ich.«

Bei Sandips Namen fuhr er auf wie von einer Viper gestochen.

»Sandip!« rief er. »Durch Sie habe ich erst erkannt, was für ein Mensch er ist. Wissen Sie, Schwester, daß er keinen Heller von dem Gold, das er Ihnen abnahm, ausgegeben hat? Er schloß sich, nachdem er von Ihnen gegangen war, in seinem Zimmer ein und weidete sich an dem Anblick des Goldes, das er vor sich auf dem Fußboden ausbreitete. ›Dies ist nicht Gold,‹ rief er aus, ›dies sind die Blütenblätter der göttlichen Lotusblume der Macht; es sind Kristall gewordene Melodien aus den Flöten, die im Paradiese des Reichtums erklingen! Ich kann es nicht übers Herz bringen, sie zu wechseln, denn es ist, als sehnten sie sich, die Erfüllung ihres Daseins zu finden als Schmuck um den Hals der Schönheit. Amulja, mein Junge, blick' sie nicht mit deinem leiblichen Auge an, sie sind das Lächeln Lakschmis, der bezaubernde Strahlenkranz von Indras Gattin. Nein, nein, ich kann sie nicht dem Tölpel von Verwalter überlassen. Ich bin sicher, Amulja, er hat uns belogen. Die Polizei ist dem Manne, der das Boot versenkte, gar nicht auf der Spur. Der Verwalter will nur etwas für sich dabei herausschlagen. Wir müssen versuchen, die verhängnisvollen Briefe von ihm wiederzubekommen.‹

»Ich fragte ihn, wie wir das anfangen sollten; er gebot mir, Drohungen oder Gewalt anzuwenden. Ich war bereit, wenn er das Geld zurückgeben wollte. Das könnten wir später erwägen, war die Antwort. Ich will Ihnen die Einzelheiten ersparen, Schwester, wie ich es endlich fertig brachte, den Menschen so zu ängstigen, daß er die Briefe herausgab, die ich verbrannte, es ist eine lange Geschichte. Am selben Abend noch kam ich zu Sandip und sagte: ›Jetzt sind wir in Sicherheit. Geben Sie mir das Gold, daß ich es morgen meiner Schwester, der Maharani zurückgebe!‹ Er aber rief: ›Was ist das für eine Narrheit von dir? Du wirst bald vor dem Sari deiner geliebten Schwester vom ganzen Vaterlande nichts mehr sehen. Sag' Bande Mataram und banne den bösen Geist!‹

»Sie kennen die Gewalt von Sandips Zauber, Schwester Rani. Das Gold blieb in seinen Händen. Und ich verbrachte die lange dunkle Nacht auf den Badestufen des Sees und murmelte: Bande Mataram.

»Als Sie mir dann Ihre Juwelen zum Verkauf übergaben, ging ich noch einmal zu Sandip. Ich konnte merken, daß er böse auf mich war. Aber er versuchte, es nicht zu zeigen. ›Wenn du sie noch in irgendeinem Koffer von mir aufbewahrt findest, magst du sie nehmen‹, sagte er und warf mir die Schlüssel zu. Sie waren nirgends zu sehen. ›Sagen Sie mir, wo sie sind‹, sagte ich. ›Ich werde es tun, wenn du von deiner Narrheit geheilt bist, jetzt nicht‹, erwiderte er.

»Als ich sah, daß er sich nicht bewegen ließ, mußte ich auf andre Mittel sinnen. Ich versuchte das Gold gegen die 6000 Rupien in Banknoten von ihm einzutauschen. ›Du sollst sie haben‹, sagte er und verschwand in seinem Schlafzimmer, während ich draußen wartete. Dort erbrach er meinen Koffer und ging durch eine andre Tür mit Ihrem Schmuckkasten geradewegs zu Ihnen. Er wollte nicht, daß ich ihn Ihnen brächte, und nun wagt er, ihn seine Gabe zu nennen. Wie kann ich sagen, wieviel er mir geraubt hat! Niemals werde ich ihm verzeihen!

»Aber eins ist gewiß, Schwester, die Macht, die er über mich hatte, ist gänzlich gebrochen. Und Sie sind es, die sie gebrochen hat!«

»Lieber Bruder,« sagte ich, »wenn das wahr ist, so habe ich nicht umsonst gelebt. Aber es bleibt noch mehr zu tun, Amulja. Es ist nicht genug, daß der Zauber gebrochen ist. Seine häßlichen Spuren müssen getilgt werden. Zögre nicht länger, geh' sogleich und bringe das Geld dahin zurück, wo du es hergenommen hast! Kannst du es nicht tun, mein Liebling?«

»Mit Ihrem Segen ist alles möglich, Schwester Rani!«

»Bedenke, daß es sich nicht um deine, sondern auch um meine Sühne handelt. Ich bin eine Frau; die Außenwelt ist mir verschlossen, sonst ginge ich selbst. Daß ich die Last meiner Sünde auf dich wälzen muß, ist meine härteste Strafe.«

»Sagen Sie das nicht, Schwester! Der Weg, den ich ging, war nicht Ihr Weg. Er lockte mich wegen seiner Gefahren und Schwierigkeiten. Jetzt, da Ihr Weg mich ruft, mag er tausendmal schwieriger und gefährlicher sein, Ihr Segen wird mir zum Ziel helfen. Es ist also Ihr Befehl, daß dies Geld wieder an seinen Platz gebracht werde?«

»Nicht mein Befehl, mein Bruder, sondern ein Befehl von oben.«

»Davon weiß ich nichts. Für mich genügt es, wenn der Befehl von Ihren Lippen kommt. Und, Schwester, ich hatte doch eine Einladung von Ihnen? Um die darf ich nicht kommen. Sie müssen mir, bevor ich gehe, Ihr prasad Speise, die durch die Berührung eines verehrten Menschen geweiht ist. geben. Dann werde ich, wenn es irgend möglich ist, noch vor Abend meinen Auftrag erfüllen.«

Die Tränen traten mir in die Augen, als ich mit einem Versuch zu lächeln sagte: »So sei es.«


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