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Siebentes Kapitel.
Sandips Erzählung

VIII

Wir sind Männer, wir sind Könige, und unser Tribut muß uns werden. Solange wir auf der Erde sind, haben wir sie geplündert; und je mehr wir verlangten, je mehr hat sie uns gewährt. Von Urzeiten her haben wir Männer Früchte gepflückt, Bäume abgehauen, den Boden umgegraben, Säugetiere, Vögel und Fische getötet. Vom Meeresboden, aus den Tiefen der Erde, ja aus dem Rachen des Todes haben wir errafft, was wir nur erraffen konnten; keinen Verschluß in der Vorratskammer der Natur haben wir respektiert und unerbrochen gelassen.

Die einzige Lust dieser Erde ist, das Begehren derer zu erfüllen, die Männer sind. Die endlosen Opfer, die sie ihnen gebracht hat, sind es, die sie fruchtbar und schön und vollkommen gemacht haben. Ohne diese Opfer würde sie in der Wildnis verloren sein, sie würde sich selbst nicht kennen, die Türen ihres Herzens würden sich nie geöffnet, ihre Diamanten und Perlen nie das Licht erblickt haben.

So haben die Männer auch, nur dadurch, daß sie immer wieder forderten, alle latenten Möglichkeiten der Frauen erschlossen. In dem Maße, wie sie sich uns hingaben, haben sie immer ihre wahre Größe erlangt. Weil sie alle Diamanten ihres Glücks und alle Perlen ihres Leides in unser königliches Schatzhaus bringen mußten, haben sie ihren wahren Reichtum gefunden. So bedeutet für die Männer »annehmen« in Wahrheit »geben«, und für die Frauen heißt »geben« in Wahrheit »gewinnen«.

Was ich jedoch von Bimala verlangt habe, ist wirklich sehr viel! Zuerst hatte ich Bedenken, denn es ist ja nun einmal eine Eigenschaft des menschlichen Geistes, in zwecklosem Streit mit sich selbst zu sein. Ich fürchtete, ich hätte ihr eine zu schwere Aufgabe auferlegt. Mein erster Impuls war, sie zurückzurufen und ihr zu sagen, ich wollte lieber nicht ihr Leben elend machen, dadurch, daß ich sie in alle diese Sorgen hineinzöge. Ich vergaß in dem Augenblick, daß der Mann die Frau ja nicht schonen darf, wenn er ihr Dasein fruchtbar machen will, daß es seine Aufgabe ist, die Ruhe und Passivität ihres Wesens zu stören und dadurch, daß er den unermeßlichen Abgrund des Leidens in ihr aufwühlt, der ganzen Welt Segen zu bringen. Darum ist des Mannes Hand so stark und sein Griff so fest.

Bimala hatte sich von ganzem Herzen danach gesehnt, daß ich, Sandip, ein großes Opfer von ihr fordern, sie in den Tod schicken möchte. Welch anderes Glück gab es denn sonst für sie? Hatte sie nicht alle diese öden Jahre auf eine Gelegenheit gewartet, sich zu Tode zu weinen, – so überdrüssig war sie der Eintönigkeit ihres ruhigen Glücks! Und daher wurde, sobald sie mich erblickte, der Horizont ihres Herzens von den Wolken verdunkelt, die ihr Leben mit Angst und Qual bedrohten. Wenn ich Mitleid mit ihr habe und sie vor ihrem Leid zu bewahren suche, wozu bin ich dann als Mann in die Welt gekommen?

Der wahre Grund meiner Bedenken ist, daß es sich bei meiner Bitte um Geld handelt. Das sieht nach Bettelei aus, denn das Geld ist Sache des Mannes, nicht der Frau. Darum mußte ich eine so große Summe nennen. Ein- bis zweitausend hätte nach einem kleinlichen Diebstahl ausgesehen. Fünfzigtausend hat die ganze Größe und Romantik eines kühnen Raubes.

Ach, aber ich hätte wirklich reich sein sollen! So viele von meinen Wünschen haben immer wieder auf ihrem Wege zum Ziel haltmachen müssen, nur weil es mir an Geld fehlte. Dies paßt nicht zu mir! Wäre das Schicksal bloß ungerecht, so könnte ich es verzeihen, – aber solche Stillosigkeit ist unverzeihlich. Es ist nicht nur hart, daß ein Mann wie ich nicht weiß, wie er es anfangen soll, seine Miete zu bezahlen, oder daß er sorgfältig die Groschen für eine Fahrkarte zweiter Klasse zusammensuchen muß, – es ist plebejisch!

Es ist ebenso klar, daß Nikhils väterliches Erbe für ihn einen Überfluß bedeutet. Zu ihm hätte Armut ganz gut gepaßt. Er hätte zusammen mit seinem treuen Lehrer sich ganz fröhlich ins Joch des bedürftigen Mittelstandes gespannt.

Es wäre mir eine Lust, könnte ich nur ein einziges Mal fünfzigtausend Rupien im Dienste meines Vaterlandes und ganz nach meiner eigenen Laune verschleudern. Ich bin ein geborener Nabob, und mein schönster Traum ist, einmal, wenn auch nur für einen Tag, diese Maske der Armut loszuwerden und mich in meiner wahren Gestalt zu sehen.

Ich habe jedoch meine ernsten Zweifel, ob Bimala je zu diesen 50 000 Rupien gelangen wird, und wahrscheinlich werden es am Ende nicht mehr als ein paar tausend werden. Meinetwegen. Der Weise nimmt noch lieber ein halbes Brot oder auch nur ein Stückchen, als gar keines.

Ich muß später auf diese persönlichen Betrachtungen zurückkommen. Ich erhalte Nachricht, daß man mich sofort braucht. Irgend etwas ist verkehrt gegangen.

Es scheint, daß die Polizei von dem Manne, der Mirdschans Boot für uns versenkt hat, Wind bekommen hat. Sie sind ihm auf der Spur, aber er ist ein alter Sünder und sollte zu gerieben sein, um sich festzuschwatzen. Doch man kann nie wissen. Nikhil ist aufgebracht, und sein Verwalter ist vielleicht nicht imstande, nach seinem eigenen Kopf zu verfahren.

»Wenn ich Unannehmlichkeiten bekomme,« sagte der Verwalter, als er mich sah, »werde ich Sie hineinziehen müssen.«

»Mit welcher Schlinge wollen Sie mich fangen?« fragte ich.

»Ich habe einen Brief von Ihnen und mehrere von Amulja Babu.«

Ich hatte nicht geahnt, daß der Brief mit der Bezeichnung »dringlich«, den ich eilig beantworten mußte, nur eben dieses Zweckes wegen dringlich gewesen war. Ich lerne allmählich eine ganze Menge Dinge.

Jetzt gilt es, die Polizei zu bestechen und Mirdschan Schweigegeld zu zahlen. Und dabei ist gar kein Zweifel, daß viel von den Kosten dieses patriotischen Unternehmens als Profit in die Taschen von Nikhils Verwalter wandert. Doch ich muß für den Augenblick ein Auge zudrücken, denn ruft er nicht sein Bande Mataram ebenso kräftig wie ich?

Diese Arbeit muß immer mit lecken Gefäßen getan werden, die die Hälfte auslaufen lassen. Wir alle haben einen geheimen Fonds von sittlichem Urteil in uns aufgespart, und so wollte ich mich schon über den Verwalter entrüsten und in meinem Tagebuch eine Tirade gegen die Unzuverlässigkeit meiner Landsleute loslassen. Aber wenn es einen Gott gibt, so muß ich dankbar anerkennen, daß er mir einen scharfblickenden Verstand gegeben hat, der sich selbst und die Dinge um sich herum klar durchschaut. Ich kann wohl andre täuschen, aber nicht mich selber. Daher konnte auch mein Zorn nicht standhalten.

Was wahr ist, ist weder gut noch böse, sondern einfach wahr. Ein See ist nur das übriggebliebene Wasser, das nicht vom Boden eingesogen wurde. Auf dem Grunde des Bande-Mataram-Kultes, wie überhaupt auf dem Grunde aller weltlichen Dinge ist eine Schlammschicht, mit deren aufsaugender Kraft man rechnen muß. Der Verwalter nimmt sich, was er braucht, wie auch ich mir nehme, was ich brauche. Diese kleineren Forderungen bilden einen Teil von dem, was die große Sache fordert, – das Pferd muß gefüttert und die Räder müssen geölt werden, wenn man gut vorwärts kommen will.

Das Lange und Breite von der Sache ist, daß wir Geld haben müssen, und das bald. Wir müssen es nehmen, wo wir es am leichtesten bekommen können, denn wir können es uns nicht leisten zu warten. Ich weiß, daß wir uns dadurch um größeren Gewinn bringen können; daß die 5000 Rupien von heute vielleicht die 50 000 von morgen im Keim ersticken. Aber ich muß es daraufhin wagen. Habe ich nicht oft neckend zu Nikhil gesagt, daß die, welche auf den Pfaden der Entsagung wandeln, gar nicht wissen, was Opfer heißt. Wir begehrlichen Menschen sind es, die bei jedem Schritt ihre Begierden opfern müssen!

Von den Todsünden ist die Begierde für die, die wirklich Männer sind, aber die Illusion, die nur für Schwächlinge ist, hemmt sie. Denn diese macht, daß sie ganz von der Vergangenheit und Zukunft eingenommen sind, aber sie hat eine verteufelte Art, ihre Schritte in der Gegenwart zu verwirren. Solche, die immer gespannt auf den Ruf aus der Ferne horchen und dadurch den Ruf des Augenblicks überhören, sind wie Sakuntala Sakuntala war, nachdem der König, ihr Geliebter, mit dem Versprechen, sie holen zu lassen, in sein Königreich heimgekehrt war, so in Gedanken an ihn verloren, daß sie den Ruf des Eremiten, der als Gast zu ihr kam, überhörte. Der Eremit sprach den Fluch über sie aus, daß der Gegenstand ihrer Liebe sie ganz vergessen solle., die sich in Träumen von dem Geliebten verlor. Unerwartet kommt der Gast und schleudert den Fluch, der sie gerade um das bringt, was sie ersehnen.

Neulich drückte ich Bimalas Hand, und jene Berührung regt ihre Seele noch auf, wie sie auch in mir nachzittert. Wiederholung darf dies Gefühl nicht abstumpfen, denn dann würde zu etwas verstandesmäßig Bewußtem herabsinken, was jetzt ganz Gefühl und Musik ist. Augenblicklich ist in ihr kein Raum für die Frage »Warum?«.

Daher darf ich Bimala, die eins von den Geschöpfen ist, die die Illusion nicht entbehren können, nicht ihres vollen Anteils daran berauben.

Was mich betrifft, so habe ich soviel anderes zu tun, daß ich mich für den Augenblick damit begnügen muß, von dem Becher der Leidenschaft nur zu nippen. O Mensch der Begierde! Zähme deine Gier und übe deine Finger auf der Harfe der Illusion, bis sie ihren Saiten alle Töne der Verführung entlocken! Jetzt ist noch nicht die Zeit, den Becher bis auf den Grund zu leeren.

 

IX

Unsre Arbeit geht schnell vorwärts. Aber obgleich wir uns heiser geschrien haben, indem wir die Muhammedaner für unsre Brüder erklärten, haben wir doch einsehen müssen, daß es uns nie gelingen wird, sie ganz auf unsre Seite zu bringen. Daher müssen wir sie nun ganz unterdrücken und ihnen begreiflich machen, daß wir die Herren sind. Jetzt zeigen sie die Zähne, aber eines Tages werden sie wie zahme Bären nach unsrer Pfeife tanzen.

»Wenn es euch mit dem Gedanken eines vereinigten Indiens ernst ist,« wendet Nikhil ein, »so müßt ihr die Muhammedaner als einen notwendigen Teil desselben gelten lassen.«

»Ganz recht,« sagte ich, »aber wir müssen wissen, wo ihr Platz ist, und dafür sorgen, daß sie da bleiben, sonst werden sie uns beständig beschwerlich fallen.«

»So wollt ihr also Beschwerden verursachen, um Beschwerden zu verhindern?«

»Und was wolltest du tun?«

»Es gibt nur ein bekanntes Mittel, Streit zu vermeiden,« sagte Nikhil mit Betonung.

Ich weiß, daß Nikhils Reden, wie die Erzählungen guter Leute, immer mit einer Moral enden. Das Merkwürdige ist, daß er trotz seiner Vertrautheit mit moralischen Vorschriften noch immer an sie glaubt! Er ist ein unverbesserlicher Schuljunge. Das einzig Gute an ihm ist seine Aufrichtigkeit. Das Schlimme ist, daß seinesgleichen nicht einmal die Endgültigkeit des Todes zugibt, sondern immer den Blick auf ein Hernach richtet.

Ich habe mich lange mit einem Plan getragen, der, wenn ich ihn ausführen könnte, das ganze Land in Flammen setzen würde. Wir werden niemals unsre Landsleute zu wahrem Patriotismus aufrütteln, wenn wir ihnen das Mutterland nicht irgendwie versinnbildlichen können. Wir müssen eine Göttin von ihm machen. Meine Gefährten begriffen die Sache sofort. »Wir müssen ein passendes Götzenbild erfinden,« riefen sie aus. »Erfinden nützt nichts,« belehrte ich sie. »Wir müssen uns eins der anerkannten Götzenbilder aneignen, dem die Verehrung des Volkes in den tief gegrabenen Kanälen der Gewohnheit zuströmt, und es zum Repräsentanten des Landes machen.«

Aber Nikhil muß natürlich auch dagegen seine Einwendungen machen. »Wir dürfen nicht bei einer Sache, die wir für die rechte halten, zu Täuschungen unsre Zuflucht nehmen,« sagte er vor einiger Zeit zu mir.

»Kleinere Geister brauchen Täuschungen,« sagte ich, »und die meisten Menschen gehören nun einmal zu dieser Klasse. Darum richtet man in jedem Lande Gottheiten auf, um die Illusionen im Volke aufrecht zu erhalten, denn die Menschen sind sich ihrer Schwäche nur zu wohl bewußt.«

»Nein,« erwiderte er. »Gott ist nötig, um die Illusionen fortzuschaffen. Die Gottheiten, die sie aufrecht halten, sind falsche Götter.«

»Was macht das? Wenn es nottut, müssen wir auch falsche Götter anrufen, lieber als daß die Sache leidet. Unsre Illusionen sind noch lebendig genug, aber zu unserm Unglück verstehen wir nicht, sie unserm Zweck dienstbar zu machen. Sieh einmal die Brahmanen! Trotzdem wir sie wie Halbgötter behandeln und unermüdlich ehrfurchtsvoll ihre Füße berühren, sind sie doch eine Macht, die im Verfall ist.

»Es wird immer eine große Klasse von Menschen geben, deren Natur es ist, am Boden zu kriechen, und die nur durch Berührung mit den Füßen andrer – sei es auch in Gestalt von Fußtritten – zu einer Tat gebracht werden können. Welch ein Jammer ist es doch, daß wir die Brahmanen, nachdem wir sie alle diese Jahrhunderte hindurch in unsrer Rüstkammer aufbewahrt und in scharfem und gebrauchsfähigem Zustande erhalten haben, jetzt in der Zeit der Not nicht verwenden können, um sie auf diesen Pöbel zu hetzen!«

Aber es ist unmöglich, Nikhil dies alles begreiflich zu machen. Er ist so für die Wahrheit eingenommen, – als ob es überhaupt eine objektive Wahrheit gäbe! Wie oft habe ich versucht, ihm auseinanderzusetzen, daß gerade in der Unwahrheit die eigentliche Wahrheit liegt. Früher erkannte man bei uns diese Tatsache, und man hatte den Mut, zu erklären, daß für die, die beschränkten Geistes sind, Lüge Wahrheit sei.

Denen, die wirklich glauben können, daß ihr Land eine Göttin ist, wird ihr Bild als Ersatz für die Wahrheit dienen. Unsre Natur und unsre Überlieferungen hindern uns, unser Vaterland als das, was es ist, zu erkennen, aber wir können uns leicht dazu bringen, an sein Bild zu glauben. Wer wirklich etwas erreichen will, darf diese Tatsache nicht außer acht lassen.

Doch diente nur dazu, Nikhil aufzuregen. »Weil ihr die Kraft verloren habt, den Weg der Wahrheit zu gehen, um euer Ziel zu erreichen,« rief er aus, »wartet ihr beständig, daß euch irgendeine wunderbare Gabe in den Schoß fallen soll. Jahrhundertelang habt ihr versäumt, eurem Vaterlande zu dienen, und nun könnt ihr nichts andres tun, als ein Götzenbild aus ihm machen und eure Hände ausstrecken, in der Erwartung, daß euch die Gaben umsonst zufallen.

»Wir wollen das Unmögliche vollbringen«, sagte ich. »Daher muß unser Vaterland zum Gott gemacht werden.«

»Du willst damit sagen, daß ihr nicht den Mut für mögliche Aufgaben habt«, erwiderte Nikhil. »Für das, was schon da ist, habt ihr keine Augen; ihr wollt etwas Übernatürliches sehen.«

»Höre einmal, Nikhil«, sagte ich schließlich, aufs äußerste gereizt. »Alles, was du da sagst, ist ganz gut als moralische Lehre. Diese Gedanken haben als Milch für Säuglinge ihren Dienst getan, solange der Mensch noch in diesem ersten Stadium seiner Entwicklung war, aber jetzt, da er Zähne bekommen hat, braucht er andre Nahrung.

»Sehen wir denn nicht mit unsern eignen Augen, wie Dinge, an deren Aussaat wir nicht im Traum dachten, rings um uns her emporsprießen? Durch welche Kraft? Durch die Kraft der Gottheit unsres Landes, die sich darin offenbart. Der Genius der Zeit allein gibt der Gottheit ihr Bild. Der Genius streitet nicht mit Worten, er schafft. Ich kann nur gestalten, was der Geist des Landes aus sich gebiert.

»Ich werde überall verkünden, daß die Göttin mich eines Traumes gewürdigt hat. Ich werde den Brahmanen sagen, daß sie sie zu ihren Priestern bestimmt hat und daß die Vernachlässigung ihres Dienstes, deren sie sich schuldig gemacht haben, die Ursache ihres Niedergangs ist. Und wenn du mir sagst, ich lüge, so antworte ich dir: Nein, ich sage die Wahrheit, – ja, mehr als das, ich sage die Wahrheit, die das Vaterland schon lange aus meinem Munde zu hören erwartet. Wenn ich nur die Gelegenheit hätte, ihnen meine Botschaft zu verkünden, so würdest du über die Wirkung staunen.«

»Was ich fürchte,« sagte Nikhil, »ist, daß meine Lebenszeit begrenzt ist und daß die Wirkung, von der du sprichst, nicht die endgültige Wirkung ist. Sie wird Nachwirkungen haben, die sich noch nicht sogleich zeigen.«

»Mir ist es nur um die Wirkung zu tun, die sich auf das Heute erstreckt.«

»Mir ist es um die Wirkung zu tun, die sich auf die Ewigkeit erstreckt«, antwortete Nikhil.

Nikhil hat vielleicht auch seinen Anteil bekommen an Bengalens schönster Gabe, der Phantasie, aber er hat sie ganz überwuchern und fast ersticken lassen von einer ausländischen Pflanze, einer peinlichen Gewissenhaftigkeit. Man denke nur an den Gottesdienst der Durga, den Bengalen zu solcher Höhe entwickelt hat. Das ist eine seiner größten Leistungen. Ich könnte schwören, daß Durga eine politische Göttin ist und ursprünglich die Schakti des Patriotismus bedeutete zu der Zeit, als Bengalen um Befreiung von der muhammedanischen Herrschaft betete. Welcher andern Provinz Indiens ist es gelungen, für das Ideal, nach dem es strebte, ein so wunderbares Sinnbild zu finden?

Nichts verriet deutlicher, wie gänzlich Nikhil diese göttliche Gabe der Phantasie verloren hat, als die Antwort, die er mir gab. »Während der muhammedanischen Herrschaft«, sagte er, »erhofften die Mahraten Ein kriegerischer Volksstamm im Innern Indiens, der 1648 die Herrschaft des Großmoguls abschüttelte, erfolgreiche Eroberungszüge unternahm und ein Jahrhundert hindurch eine beherrschende Rolle spielte. (Übers.) und Sikhs Ursprünglich eine religiöse Sekte, gestiftet von Baba Nanak (1468-1539), die eine Vereinigung des Islams und des Hinduismus anstrebte. Sie verwandelte sich unter dem Druck von Verfolgungen in einen fanatischen Kriegerstaat, der lange mit wechselndem Erfolge gegen die Herrschaft des Großmoguls ankämpfte und sich schließlich mit den Mahraten in ihr Erbe teilte. (Übers.) Erfolge von den Waffen, die sie selbst ergriffen hatten. Der Bengale begnügte sich damit, Waffen in die Hände der Göttin zu legen und Beschwörungsformeln zu murmeln; und da sein Land nun nicht wirklich eine Göttin war, so war das Einzige, was für ihn dabei herauskam, die abgehauenen Köpfe der Opferziegen und -büffel. Sobald wir das Wohl unsres Landes auf dem Wege der Gerechtigkeit suchen, so wird der, der größer ist als unser Land, uns wahren Erfolg gewähren.«

Das Gefährliche bei der Sache ist, daß Nikhils Worte sich auf dem Papier immer so schön ausnehmen. Jedoch was ich sage, ist nicht dazu bestimmt, auf Papier gekritzelt zu werden, sondern soll sich tief ins Herz des Landes eingraben. Der Gelehrte hinterläßt uns in Druckerschwärze seine Abhandlung über den Ackerbau; aber der Landmann gräbt mit der scharfen Sichel seines Pfluges sein Werk tief in den Boden ein.

 

X

Als ich Bimala danach zuerst wiedersah, schlug ich ohne weiteres gleich hohe Töne an. »Ist es uns gelungen,« begann ich, »von ganzem Herzen an den Gott zu glauben, auf dessen Erscheinen wir seit Millionen von Jahren gewartet haben, um ihm zu dienen, und der sich uns jetzt endlich in sichtbarer Gestalt offenbart hat?«

»Wie oft habe ich Ihnen gesagt,« fuhr ich fort, »daß ich, wenn ich Sie nicht gesehen hätte, niemals mein ganzes Vaterland als eine Einheit erkannt haben würde. Ich weiß noch nicht, ob Sie mich richtig verstehen. Die Götter sind nur in ihrem Himmel unsichtbar, auf Erden zeigen sie sich den Sterblichen.«

Bimala sah mich seltsam an, als sie ernst erwiderte: »Doch, ich verstehe Sie, Sandip.« Es war das erste Mal, daß sie mich schlechtweg Sandip nannte.

»Krischna,« fuhr ich fort, »den Ardschuna sonst nur als seinen Wagenlenker gekannt hatte, offenbarte sich ihm eines Tages auch in seiner göttlichen Gestalt, und an dem Tage sah Ardschuna die Wahrheit. Ich habe Ihre göttliche Gestalt in meinem Vaterlande erblickt. Der Ganges und der Brahmaputra sind die goldnen Ketten, die sich in vielen Windungen um Ihren Nacken schlingen; im Waldsaum an den fernen Ufern des dunklen Flusses erblickte ich die dunklen Wimpern Ihrer Augen; der wechselnde Glanz Ihres Sari leuchtete mir in dem Spiel von Licht und Schatten auf dem wogenden grünen Kornfeld, und die brennende Sommerhitze, in der der Himmel schwer atmend daliegt, wie ein verschmachtender Löwe in der Wüste, ist nichts als Ihre grausam versengende Glut.

»Da nun die Göttin ihrem Priester ihre Gegenwart in so wunderbarer Gestalt offenbart hat, so ist meine Aufgabe, im ganzen Lande ihren Dienst zu predigen, und dann wird das Land zu neuem Leben erwachen.

›In allen Tempeln soll dein Bildnis thronen‹ Zitat aus der Nationalhymne Bande Mataram von Bankin Tschatterdschi.. Aber unser Volk hat die Wahrheit noch nicht erkannt. Daher möchte ich es in Ihrem Namen aufrufen und in unsern Tempeln ein Bild der Göttin aufstellen, dem niemand Glauben versagen kann. O meine Göttin, verleih mir die Macht dazu!«

Bimala hatte die Augen geschlossen und saß da wie ein Steinbild. Hätte ich weitergesprochen, so wäre sie in Verzückung erstarrt. Als ich schwieg, schlug sie die Augen groß auf und murmelte wie betäubt mit starrem Blick: »O Wanderer auf dem Pfade des Verderbens! Wer kann deine Schritte aufhalten? Sehe ich doch, daß niemand deinen Begierden Einhalt tut. Könige werden ihre Krone dir zu Füßen legen, die Reichen werden sich beeilen, dir ihren Schatz zu öffnen; die nichts weiter haben, werden bitten, ihr Leben für dich hingeben zu dürfen. O mein König, mein Gott! Was du in mir siehst, weiß ich nicht, aber ich habe die Unermeßlichkeit deiner Größe in meinem Herzen erkannt. Wer bin ich, was bin ich, vor dir? Ach, wie furchtbar ist deine vernichtende Gewalt! Ich werde nicht wahrhaft leben, bis sie mich ganz zerstört. Ich kann es nicht länger ertragen, mir bricht das Herz.«

Bimala glitt von ihrem Stuhl und umklammerte meine Füße, und dann brach sie in ein unaufhaltsames Schluchzen aus.

Dies ist nun wirklich Hypnotismus, – der Zauber, mit dem man sich die Welt unterwirft! Man bedarf dazu keiner Waffen, sondern nur einer unwiderstehlichen Suggestionskraft. Wer sagt noch: »Die Wahrheit wird triumphieren?« Ein Zitat aus den Upanischads. Nein, es ist die Täuschung, die den endgültigen Sieg davonträgt. Der Bengale hatte dies erkannt, als er das Bild der zehnhändigen auf einem Löwen reitenden Göttin erfand und ihren Dienst in seinem Lande verbreitete. Jetzt muß Bengalen ein neues Götzenbild erfinden, um die Welt zu berücken und zu erobern. Bande Mataram!

Ich hob Bimala sanft auf und ließ sie auf ihren Stuhl nieder, und aus Furcht, daß eine Reaktion eintreten könnte, begann ich von neuem, ohne Zeit zu verlieren: »Königin! Die göttliche Mutter hat mir die Pflicht auferlegt, ihr in diesem Lande einen Tempel zu bauen. Aber ach, ich bin arm!«

Bimala war noch in höchster Erregung. Ihre Augen glühten dunkel, ihre Stimme war heiser, als sie erwiderte: »Sie arm? Gehört nicht alles, was jeder von uns besitzt, Ihnen? Wozu habe ich meine Kästen mit Juwelen? Nehmen Sie all mein Gold und meine Edelsteine für Ihren Gottesdienst! Ich brauche sie nicht!«

Bimala hatte mir schon einmal ihren Schmuck angeboten. Ich pflegte sonst keine Grenzen zu setzen, aber ich fühlte, daß ich es hier mußte Es hängt eine Welt von Gefühlen an dem Schmuck der bengalischen Frauen. Er legt nicht nur Zeugnis ab von der Liebe und Achtung des Gebers, sondern er wird auch getragen als Symbol für alles, was man am Weibe am höchsten schätzt, – die beständige Sorge um das Wohl ihres Gatten, die erfolgreiche Verrichtung aller materiellen und geistigen Pflichten, die der Haushalt ihr auferlegt. Wenn der Gatte stirbt und die Verantwortung für den Haushalt in andere Hände übergeht, dann wirft die Witwe allen Schmuck beiseite, als ein Zeichen, daß sie allen weltlichen Interessen entsagt. Zu jeder andern Zeit aber ist der Verzicht auf Schmuck immer ein Zeichen von höchster Not und appelliert als solches aufs lauteste an die Ritterlichkeit eines jeden Bengalen, der zufällig Zeuge davon ist. (Anmerkg. d. engl. Übers.). Ich weiß, warum ich hier zaudere. Dem Mann geziemt es, der Frau Schmuck zu schenken; es verletzt seine Männlichkeit, wenn er ihn von ihr annimmt.

Aber ich darf nicht an mich denken. Nehme ich ihn denn an? Er soll als Opfer der göttlichen Mutter zu Füßen gelegt werden. O, es soll eine großartige Opferfeier werden, wie das Land sie noch nie vorher gesehen hat. Sie soll ein Markstein in unsrer Geschichte werden. Sie soll mein höchstes Vermächtnis an die Nation sein. Unwissende Menschen beten Götter an. Ich, Sandip, werde sie erschaffen.

Aber alles dies liegt noch in weiter Ferne. Wie werden wir der Not des Augenblicks gerecht? Wenigstens dreitausend Rupien sind unbedingt nötig, fünftausend würden gerade gut hinreichen. Aber wie in aller Welt könnte ich jetzt von Geld sprechen, nachdem unsre Gedanken diesen hohen Flug genommen haben? Und doch ist die Zeit kostbar!

Ich zwang alles Bedenken mit Gewalt nieder, als ich aufspringend rief: »Königin! Unsre Mittel sind erschöpft, unser Werk wird daran scheitern!«

Bimala zuckte zusammen. Ich sah, sie dachte an die unmöglichen 50 000 Rupien. Welche Last mußte sie die ganze Zeit auf dem Herzen gehabt haben! Vielleicht hatte sie in schlaflosen Nächten darunter gestöhnt. Was hatte sie sonst als Opfer ihrer Liebe darzubringen? Da sie mir nicht ihr Herz selbst zu Füßen legen konnte, sehnte sie sich danach, diese Summe, die für sie so hoffnungslos groß war, zum Träger ihrer gefangenen Gefühle zu machen. Der Gedanke an das, was sie gelitten haben mußte, berührte mein Gewissen quälend; denn sie war jetzt ganz mein. Die Pflanze war mit den Wurzeln aus dem Boden gerissen und damit das Schlimmste getan. Jetzt bedurfte es nur noch der sorgfältigen Pflege und Nahrung.

»Königin!« sagte ich, »jetzt im Augenblick haben wir die 50 000 Rupien noch nicht gerade nötig. Ich denke, daß wir einstweilen mit 5000 oder sogar mit 3000 auskommen.«

Sie war wie von einem Alp befreit. »Ich werde Ihnen 5000 holen«, sagte sie in einem Ton, als wollte sie in ein Jubellied ausbrechen, – in das Lied, das Radhika in den Wischnu-Liedern sang:

Die Blume aller Blumen will ich suchen,
Daß sie als Schmuck die dunklen Flechten ziere,
Wenn der Geliebte naht.

– es ist dieselbe Weise, dasselbe Lied: fünftausend will ich bringen! Mit dieser Blume will ich mein Haar schmücken!

Die Zurückhaltung der Flöte ist es, die diesem Liede seinen Wohllaut gibt. Ich darf nicht meine Begierde zu heftig in ihr Rohr blasen lassen, sonst würde, fürchte ich, statt der Musik die Frage ertönen: »Warum?« »Wozu so viel?« »Woher soll ich das schaffen?« – ganz andere Töne, als das Lied, das Radhika sang! So habe ich recht, wenn ich sage, die Illusion allein ist wirklich, – sie ist die Flöte selbst, während die Wahrheit nichts als ihre leere Höhlung ist. Nikhil hat in dieser letzten Zeit diese bloße Leere spüren müssen, – man sieht es an dem Ausdruck seines Gesichts, der selbst mich schmerzlich berührt. Aber Nikhil pflegte sich zu rühmen, daß es ihm um die Wahrheit zu tun sei, während ich mich rühmte, daß ich mir die Illusion nicht rauben lassen wollte. Nun hat jeder, was er wollte; was gibt es da zu klagen?

Um Bimalas Herz nicht aus der dünnen Luft des Idealismus zu reißen, brach ich jede weitere Erörterung über die 5000 Rupien ab. Ich kam wieder auf die Dämonen vernichtende Göttin und ihren Gottesdienst zu sprechen. Wann sollte die Feierlichkeit stattfinden, und wo? In Ruimari, einem Ort, der zu Nikhils Gebiet gehört, findet einmal im Jahre eine große Messe statt, wo Hunderttausende von Pilgern sich versammeln. Das würde eine großartige Gelegenheit sein für die feierliche Eröffnung des Kultes unsrer Göttin.

Bimala glühte vor Begeisterung. Hier handelte es sich nicht um das Verbrennen von ausländischen Stoffen oder gar um das Niederbrennen von Scheunen, selbst Nikhil könnte also nichts dagegen haben, – so meinte sie. Aber ich lächelte innerlich. Wie wenig doch diese beiden Menschen, die ganze neun Jahre lang Tag und Nacht zusammen gelebt haben, von einander wissen! Sie wissen vielleicht etwas von ihrem häuslichen Leben, aber wenn es sich um Außendinge handelt, so sind sie ganz ratlos. Sie haben in dem schönen Wahn gelebt, daß das Heim und die Außenwelt in vollkommener Harmonie ständen. Heute müssen sie zu ihrem Leidwesen einsehen, daß es zu spät ist, die jahrelange Versäumnis nachzuholen und beide miteinander in Harmonie zu bringen.

Doch was macht das? Mögen die, die den Fehler gemacht haben, beim Zusammenstoß mit der Welt ihren Irrtum erkennen! Was kümmert mich ihre Not? Für den Augenblick wird es mir lästig, Bimala noch länger wie einen Fesselballon in höhern Regionen schweben zu lassen. Es ist besser, ich bringe die Geldsache erst in Ordnung.

Als Bimala aufstand, um fortzugehen, und schon nahe der Tür war, sagte ich so ganz nebenbei: »Und was das Geld anbetrifft–...«

Bimala hielt an, und sich nach mir umsehend sagte sie: »Ende dieses Monats, wenn ich mein Monatsgeld bekomme–...«

»Das würde viel zu spät sein, fürchte ich.«

»Wann brauchen Sie es denn?«

»Morgen.«

»Gut – Sie sollen es morgen haben.«


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