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Elftes Kapitel.
Bimalas Erzählung

XX

Sobald Amulja hinaus war, sank mir der Mut. Auf welch gefährliches Abenteuer hatte ich diesen einzigen Sohn seiner Mutter ausgesandt? O Gott, warum mußte meine Sühne so weite Kreise ziehen! Konnte ich nicht allein büßen, ohne daß so viel andere meine Strafe teilten? O, laß nicht dies unschuldige Kind deinem Zorn zum Opfer fallen!

Ich rief ihn zurück, – »Amulja!«

Meine Stimme klang so schwach, sie erreichte ihn nicht mehr.

Ich ging zur Tür und rief noch einmal: »Amulja!«

Er war fort.

»Wer ist da?«

»Ja, Maharani?«

»Geh' und sag' Amulja Babu, daß ich ihn zu sprechen wünsche!«

Was nun geschah, konnte ich nicht genau feststellen, – vielleicht war dem Manne Amuljas Name fremd, – er kehrte unmittelbar darauf mit Sandip zurück.

»Im selben Augenblick, als Sie mich fortschickten,« sagte er eintretend, »hatte ich eine Ahnung, daß Sie mich zurückrufen würden. Die Anziehungskraft desselben Mondes bewirkt beides, Ebbe und Flut. Ich war so sicher, daß Sie mich würden rufen lassen, daß ich tatsächlich draußen im Korridor wartete. Sobald ich Ihren Boten von Ihrem Zimmer her kommen sah, sagte ich: ›Ja, ja, ich komme, ich komme sogleich!‹ bevor er nur ein Wort äußern konnte. Das überraschte Gesicht dieses Hinterländers hätten Sie sehen sollen! Er starrte mich mit offnem Munde an, als ob er dächte, ich könne zaubern.

»Alle Kämpfe in der Welt, Bienenkönigin,« fuhr Sandip in seiner Rede fort, »sind in Wahrheit Kämpfe zwischen hypnotischen Kräften. Zauber gegen Zauber geübt, – geräuschlose Waffen, die auf unsichtbare Schilde stoßen. In Ihnen habe ich endlich einen ebenbürtigen Gegner gefunden. Ich weiß, Ihr Köcher ist gefüllt, Sie Meisterin im Streite! Sie sind die Einzige in der Welt, die es fertig gebracht hat, Sandip fortzuschicken und zurückzurufen, je nach Ihrem holden Willen. Nun liegt das Wild zu Ihren Füßen. Was wollen Sie jetzt mit ihm tun? Wollen Sie ihm den Gnadenstoß versetzen oder es in Ihrem Käfig gefangen halten? Doch ich muß Sie vorher warnen, Königin, es wird Ihnen ebenso schwer werden, das Tier auf der Stelle zu töten, wie es einzusperren. Jedenfalls sollten Sie keine Zeit verlieren, Ihre Zauberwaffen zu gebrauchen.«

Sandip mußte die kommende Niederlage schon vorausspüren, und so schwatzte er, um Zeit zu gewinnen, in einem fort, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich glaube, er wußte, daß ich den Boten nach Amulja geschickt, dessen Namen der Mann sicher erwähnt hatte. Trotzdem brauchte er absichtlich diesen Kunstgriff. Er wollte mir nicht Zeit lassen, ihm zu sagen, daß ich Amulja und nicht ihn hätte sprechen wollen. Aber seine Kriegslist war umsonst, denn sie zeigte nur seine Schwäche. Ich durfte keinen Fußbreit von dem Boden weichen, den ich gewonnen hatte.

»Sandip Babu,« sagte ich, »ich bewundere, wie Sie so endlose Reden halten können, ohne steckenzubleiben. Lernen Sie sie vorher auswendig?«

Ihm schoß das Blut ins Gesicht.

»Ich habe gehört,« fuhr ich fort, »daß unsre Redner von Beruf ein Buch mit allen möglichen fertigen Reden haben, die sie sich dann für jede beliebige Gelegenheit zurechtmachen können. Haben Sie auch solch Buch?«

Sandip knirschte seine Antwort zwischen den Zähnen hervor. »Die Natur hat euch Frauen eine Menge Reize als Ausstattung mitgegeben, und darüber hinaus habt ihr noch die Hilfe der Putzmacherin und des Juweliers; aber glauben Sie nur nicht, daß wir Männer ganz ohne Waffen sind–...«

»Sie täten besser, Ihr Buch noch einmal anzusehen, Sandip Babu. Sie bringen alles durcheinander. Das kommt davon, wenn man die Dinge auswendig lernt.«

»Sie!« stieß Sandip hervor, der nun alle Herrschaft über sich verlor. »Haben Sie ein Recht, mich zu beschimpfen? Sie, die ich bis in die kleinste Faser ihres Wesens kenne? Was–...« Er konnte nicht weitersprechen.

Sandip, dieser gewaltige Zauberer, ist vollständig hilflos, sobald sein Zauber nicht wirken will. Von der Höhe seines stolzen Königtums war er plötzlich auf die Stufe eines rohen Bauern gesunken. O, die Freude, ihn so schwach zu sehen! Je beleidigender er in seiner Roheit wurde, je stärker wallte diese Freude in mir auf. Seine Schlangenwindungen, mit denen er mich umstrickte, versagen den Dienst, – ich bin frei. Ich bin gerettet, gerettet! Beleidige mich, beschimpfe mich, zeige dich in deiner wahren Gestalt; nur verschone mich mit deinen falschen Lobeshymnen!

In diesem Augenblick trat mein Gatte ein. Sandip hatte nicht die Elastizität, sich wie sonst in einem Nu zusammenzuraffen. Mein Gatte sah ihn eine Weile überrascht an. Wäre dies ein paar Tage früher gewesen, so hätte ich mich geschämt. Aber nun war es mir gerade recht, was auch mein Gatte denken mochte. Ich wollte meinem geschwächten Gegner den entscheidenden Schlag versetzen.

Als mein Gatte uns beide in befangenem Schweigen verharren sah, zögerte er erst ein wenig, dann setzte er sich. »Sandip,« sagte er, »ich suchte dich und hörte, daß du hier seiest.«

»Allerdings bin ich hier«, sagte Sandip mit Nachdruck. »Die Bienenkönigin ließ mich heute morgen rufen. Und ich, als ihr gehorsamer Arbeiter im Stock, ließ alles liegen und folgte ihrem Ruf.«

»Ich fahre morgen nach Kalkutta. Du wirst mich begleiten.«

»Und warum, wenn ich fragen darf? Gehöre ich zu deinem Gefolge?«

»Nun gut, sagen wir, du reist nach Kalkutta und ich begleite dich.«

»Ich habe dort nichts zu tun.«

»Um so mehr Grund, daß du reisest. Du hast hier zuviel zu tun.«

»Ich werde mich nicht von der Stelle rühren.«

»So werde ich Gewalt brauchen.«

»Gut, so werde ich gehen. Aber die Welt besteht nicht nur aus Kalkutta und deinen Besitzungen. Es gibt noch andere Orte auf der Landkarte.«

»Nach deinem bisherigen Verhalten hätte man kaum glauben sollen, daß es außerhalb meiner Besitzungen noch einen Platz in der Welt gäbe.«

Sandip erhob sich. »Es kommt bisweilen vor,« sagte er, »daß ein einziger Ort einem Menschen eine ganze Welt bedeutet. Mir bedeutete dieses Zimmer die Welt, darum war ich hier wie festgewachsen.«

Dann wandte er sich nach mir hin. »Niemand als Sie, Bienenkönigin, wird meine Worte verstehen, – vielleicht nicht einmal Sie. Ich grüße Sie. Mit Anbetung im Herzen verlasse ich Sie. Mein Losungswort ist ein andres geworden, seit ich Sie gesehen. Es lautet nicht mehr Bande Mataram, Heil dir, Mutter, sondern: Heil dir, Geliebte, Heil dir, Zauberin! Die Mutter verleiht uns ihren Schutz, die Geliebte reißt uns zum Untergang, – aber dieser Untergang ist süß. Du rufst den Tod, Geliebte, und er naht mit tanzenden Schritten, und mein Herz jauchzt beim Klirren seiner Fußspangen. Du hast mir, deinem Diener, das Bild gewandelt, das ich von unserm Bengalen hatte, – ›dem Land der sanften Brise, des klaren Wassers und der süßen Früchte‹ Zitat aus der Nationalhymne Bande Mataram.. Du hast kein Mitleid, meine Geliebte. Du kommst zu mir mit deinem Giftbecher, und ich werde ihn bis auf den letzten Tropfen leeren, um in Todesangst zu vergehen oder über den Tod zu triumphieren.

»Ja,« fuhr er fort. »Der Tag der Mutter ist vorbei. O Geliebte, meine Geliebte, was gilt mir neben dir Wahrheit und Recht und selbst der Himmel! Alle Pflichten sind zu Schatten geworden, alle Regeln und Gesetze haben ihre Riegel gesprengt. O Geliebte, meine Geliebte, ich könnte die ganze Welt in Flammen setzen bis auf das Stück Land, worauf du deine kleinen Füße setztest, und dann in rasender Lust über die Asche hintanzen–... Ach, diese Menschen mit ihrer Sanftmut und Güte! Sie möchten allen Gutes tun, – als ob dies alles Wirklichkeit wäre! Nein, nein! Es gibt keine Wirklichkeit in der Welt als diese meine Liebe. Ich neige mich vor dir. Meine Hingebung an dich hat mich grausam gemacht, meine glühende Verehrung für dich hat die Flamme der Zerstörung in mir entzündet. Ich bin nicht gerecht. Ich habe keinen Glauben, ich glaube nur an sie, die sich mir allein in der Welt offenbart hat.«

Wunderbar! Noch vor einem Augenblick hatte ich diesen Menschen aus tiefstem Herzen verachtet. Aber was ich für tote Asche gehalten hatte, erwachte jetzt wieder zu lebendiger Glut. Das Feuer in ihm war echt, daran war kein Zweifel. Ach, warum hat Gott den Menschen so zwiespältig geschaffen? Wollte er nur seine göttliche Kunst zeigen? Noch vor wenigen Minuten hatte ich gedacht, daß Sandip, den ich einst für einen Helden gehalten hatte, nur ein armseliger Theaterheld sei. Aber auch darin hatte ich nicht recht. Denn selbst unter dem Flitterkram des Theaters kann sich zuweilen ein wahrer Held verbergen.

Es ist sehr viel Roheit, Sinnlichkeit und Lüge in Sandip, und seine Seele ist mit mancher Lage von irdischen Stoffen bedeckt. Dennoch müssen wir zugeben, daß in seiner innersten Tiefe vieles verborgen ist, was wir nicht verstehen und nicht verstehen können, – wie ja auch vieles in uns selbst uns ein Rätsel bleibt. Ein wunderbares Wesen ist doch der Mensch! Welchem großen, geheimnisvollen Zweck er dient, das weiß nur der große Furchtbare Rudra, »der Furchtbare« (eig. wohl »der Brüllende«), der ursprüngliche Name Schivas (so im Veda)., während wir unter der Last stöhnen. Schiva wird das Chaos lichten. Er ist eitel Freude. Er wird unsre Bande zerbrechen.

Ich fühle immer wieder, wie zwei Wesen in mir sind. Das eine weicht vor Sandip zurück, wenn er mir wie das Chaos selbst entgegentritt, das andre wird gerade dadurch unwiderstehlich angezogen. Das sinkende Schiff zieht alle, die es umschwimmen, in die Tiefe. Sandip ist solch eine vernichtende Kraft. Seine ungeheure Anziehungskraft ergreift uns, bevor Furcht uns warnt, und in einem Augenblick werden wir widerstandslos hinabgezogen, fort von allem Licht, von allem Guten, von Luft und Freiheit, von allem, was uns lieb und teuer war, – hinab in den Abgrund der Vernichtung.

Sandip ist als Bote gekommen aus einem fernen Reiche des Unheils, und wie er über das Land schreitet und unheilige Zaubersprüche murmelt, scharen sich alle Knaben und Jünglinge um ihn. Die Mutter sitzt im Lotusherzen des Landes und wehklagt laut, denn sie haben ihre Vorratskammer erbrochen, um dort ihr trunkenes Gelage zu halten. Ihre Weinernte für den Trank der Unsterblichen schütten sie in den Staub; ihre altehrwürdigen Geräte zertrümmern sie. Wohl fühle ich ihr Leid, doch zugleich werde auch ich von dem Rausch mit fortgerissen.

Die Wahrheit selbst hat uns diese Versuchung geschickt, um unsre Treue gegen ihre Gebote zu prüfen. Die Trunkenheit verkleidet sich in himmlisches Gewand und tanzt vor den Pilgern her. »Ihr Narren,« ruft sie, »die ihr den unfruchtbaren Weg der Entsagung geht! Er ist lang und die Zeit vergeht euch langsam, wenn ihr ihn wandelt. Daher hat mich der Schleuderer des Donnerkeils zu euch geschickt. Seht her! Ich, die Schönheit, die Leidenschaft, rufe euch zu mir, – in meiner Umarmung sollt ihr Erfüllung finden.«

Nach einer Pause wandte Sandip sich noch einmal an mich. »Göttin, die Zeit ist gekommen, wo ich dich verlassen muß. Es ist gut so. Deine Nähe hat ihre Wirkung getan. Wenn ich noch länger säumte, würde sie allmählich wieder aufgehoben. Wir verlieren alles, wenn wir in unsrer unersättlichen Begierde das gemein machen wollen, was das Höchste auf Erden ist. Was ewig ist im Augenblick, wird schal, wenn wir es in der Zeit ausbreiten. Wir waren im Begriff, unsern unendlichen Augenblick zu verderben, als du deinen Donnerkeil erhobst, der ihm zu Hilfe kam. Du selbst rettetest die Reinheit deines Gottesdienstes und damit zugleich auch deinen Priester. Um deines Gottesdienstes willen scheide ich heute. Ja, Göttin, auch ich gebe dich heute frei. Mein irdischer Tempel konnte dich nicht mehr fassen; er drohte jeden Augenblick zu bersten. Ich scheide heute, um in einem größern Tempel dein größeres Ebenbild anzubeten. Erst wenn ich fern von dir bin, wirst du wahrhaft mein werden. Hier empfing ich nur deine Gunst, dort wird mir deine Gnade zuteil werden.«

Mein Schmuckkasten stand noch auf dem Tisch. Ich hob ihn auf und sagte: »Bringen Sie diese Juwelen der Gottheit, der ich diene, und opfern Sie sie ihr in meinem Namen!«

Mein Gatte verharrte in Schweigen. Sandip verließ das Zimmer.

 

XXI

Ich hatte eben angefangen, ein paar Kuchen für Amulja zu backen, als die Bara Rani erschien. »O Himmel,« rief sie aus, »ist es dahin gekommen, daß du dir die Kuchen zu deinem Geburtstag selbst backen mußt?«

»Könnte ich sie nicht für jemand anders backen?« fragte ich.

»Aber an solchen Tagen solltest du nicht andre festlich bewirten, sondern wir dich. Ich wollte gerade etwas Leckeres für dich zubereiten Leckerbissen, die als Festgeschenk geboten werden, müssen von der Dame des Hauses selbst zubereitet sein., als ich die schreckliche Nachricht hörte, die mich ganz aus der Fassung gebracht. Eine Schar von fünf- bis sechshundert Banditen sollen in eins unsrer Schatzhäuser eingebrochen sein und sich mit 6000 Rupien davongemacht haben. Man erwartet, daß sie demnächst unser Haus plündern werden.«

Ich war in hohem Grade erleichtert. So war es also doch unser eignes Geld. Ich hätte am liebsten gleich Amulja rufen lassen, um ihm zu sagen, daß er die Banknoten nur meinem Gatten einzuhändigen brauchte und die Erklärung mir überlassen könnte.

»Du bist wirklich ein wunderliches Geschöpf!« rief meine Schwägerin aus, als sie den Wechsel im Ausdruck meines Gesichts sah. »Kennst du denn gar nicht so etwas wie Furcht?«

»Ich glaube nicht daran«, sagte ich. »Warum sollten sie unser Haus plündern?«

»Du glaubst nicht daran, wahrhaftig! Wer hätte denn geglaubt, daß sie unser Schatzhaus angreifen würden?«

Ich gab keine Antwort, sondern beugte mich über meine Kuchen, die ich mit geriebenen Kokosnüssen füllte.

»Nun, ich muß gehen«, sagte die Bara Rani, nachdem sie mich noch einmal verwundert angestarrt hatte. »Ich muß mit Bruder Nikhil sprechen und dafür sorgen, daß mein Geld nach Kalkutta geschickt wird, bevor es zu spät ist.«

Kaum war sie fort, so überließ ich die Kuchen sich selbst und stürzte in mein Ankleidezimmer, das ich von innen abschloß. Meines Gatten Kittel mit den Schlüsseln in der Tasche hing noch da, – so vergeßlich war er. Ich nahm den Schlüssel zu dem eisernen Geldschrank von dem Ring und steckte ihn zu mir.

Da klopfte es an die Tür. »Ich bin beim Anziehen«, rief ich. Ich hörte, wie die Bara Rani sagte: »Noch vor einer Minute sah ich sie beim Kuchenbacken, und jetzt ist sie mit ihrem Putz beschäftigt. Mich soll wundern, was ihr danach einfällt! Gewiß haben sie wieder eine ihrer Bande-Mataram-Versammlungen.« »Höre einmal, Räuberkönigin,« rief sie zu mir herein, »bist du dabei, deine Beute zu zählen?«

Als sie fort waren, öffnete ich den eisernen Geldschrank. Ich weiß nicht, was mich dazu veranlaßte, vielleicht hatte ich die geheime Hoffnung, daß alles ein Traum gewesen sei. Wie, wenn ich beim Öffnen der inneren Schublade die Geldrollen an ihrem Platze fände?–... Ach, alles war so leer wie das Vertrauen, das ich verraten hatte.

Ich mußte die Komödie des Umkleidens durchführen. So frisierte ich mich denn ganz überflüssigerweise noch einmal und steckte mein Haar anders hoch. Als ich herauskam, spottete meine Schwägerin: »Wie oft ziehst du dich heute noch um?«

»Es ist ja mein Geburtstag«, sagte ich.

»Ach, dafür ist dir jeder Vorwand recht«, erwiderte sie. »Ich habe in meinem Leben viele eitle Leute gekannt, aber du übertriffst sie alle.«

Ich wollte gerade einen Diener rufen, um Amulja holen zu lassen, als einer der Leute mir ein kleines Billett brachte. Es war von Amulja.

»Schwester,« schrieb er, »Sie haben mich auf heute nachmittag eingeladen, aber mir schien es doch besser, nicht zu warten. Lassen Sie mich erst Ihren Auftrag ausführen und dann zu meinem prasad kommen! Es kann etwas spät werden.«

Wo mochte er hingehen, um das Geld zurückzugeben? Welcher neuen Gefahr lief der arme Junge in die Arme? Ach du elendes Weib, du kannst ihn nur wie einen Pfeil absenden, aber nicht zurückrufen, wenn du dein Ziel verfehlst.

Ich hätte sogleich bekennen sollen, daß ich die Triebfeder dieses Raubüberfalls war. Aber wir Frauen leben von dem Vertrauen unsrer Umgebung, – es bedeutet uns die Welt. Wenn es einmal offenbar wird, daß wir dies Vertrauen heimlich verraten haben, so haben wir den Platz in unsrer Welt verloren. Wir müssen auf den Trümmern dessen stehen, was wir zerbrochen haben, und seine scharfen Kanten verwunden uns bei jeder Bewegung. Sündigen ist leicht, aber Wiedergutmachen ist schwer, besonders für eine Frau.

Seit einiger Zeit ist jede ungezwungene Annäherung an meinen Gatten mir abgeschnitten. Wie konnte ich ihn nun plötzlich mit dieser ungeheuerlichen Nachricht überfallen! Er kam heute sehr spät zum Essen, es war fast zwei Uhr. Er war zerstreut und rührte kaum einen Bissen an. Ich fühlte, daß ich sogar das Recht verscherzt hatte, ihn zu nötigen, noch etwas mehr zu nehmen, und ich mußte mein Gesicht abwenden, um meine Tränen zu verbergen.

Ich hätte so gern zu ihm gesagt: »Komm doch in unser Zimmer und ruhe ein Weilchen; du siehst so müde aus.« Gerade schickte ich mich dazu an, als ein Diener eilig die Nachricht brachte, daß der Polizeiinspektor Pantschu zum Palast heraufgebracht hätte. Das Antlitz meines Gatten überschattete sich noch mehr, und er ging hinaus, ohne sein Mahl zu beenden.

Bald darauf erschien die Bara Rani. »Warum gabst du mir nicht Nachricht, als Bruder Nikhil hereinkam?« beklagte sie sich. »Da er so spät kam, dachte ich, ich könnte inzwischen mein Bad nehmen. Wie wurde er nur so schnell mit dem Essen fertig?«

»Wolltest du etwas von ihm?«

»Was bedeutet das, daß ihr morgen beide nach Kalkutta reisen wollt? Aber das sage ich euch, ich bleibe nicht allein hier. Ich würde mich bei jedem Laut tot ängstigen, jetzt, wo alle diese Banditen hier ihr Wesen treiben. Ist es ganz bestimmt, daß ihr morgen reist?«

»Ja«, sagte ich, obgleich ich erst eben jetzt davon hörte und außerdem gar nicht sicher war, ob nicht bis dahin Ereignisse eintreten würden, die es ganz gleichgültig machten, ob wir reisten oder blieben. Wie danach unser Heim und unser Leben sich gestalten würden, konnte ich mir gar nicht vorstellen, alles erschien mir so nebelhaft und gespenstisch.

In ein paar Stunden mußte mein jetzt noch verborgenes Schicksal sichtbar werden. War niemand da, der den Flug dieser Stunde aufhalten konnte, so daß ich Zeit gewann, wieder gutzumachen, soweit es in meiner Macht lag? Die Zeit, wo der böse Same im Boden liegt, ist lang, – so lang, daß man gar nicht mehr fürchtet, er könne aufgehen. Aber sobald er aus dem Boden hervorsprießt, wächst er so schnell, daß gar keine Zeit bleibt, ihn zuzudecken, selbst nicht mit dem eigenen Leben.

Ich will versuchen, nicht mehr daran zu denken, sondern in stummer Passivität dasitzen, bis der Zusammenbruch kommt. Laß ihn kommen, in ein paar Tagen wird alles vorüber sein – Entdeckung, Spott, Mitleid, Fragen, Erklärungen – alles.

Aber ich kann das Gesicht Amuljas nicht vergessen, so schön und strahlend in seiner Hingebung. Er wartete nicht verzweifelt den vernichtenden Schlag des Schicksals ab, sondern stürzte sich mutig mitten in die Gefahr. Auf ihn blicke ich voll Ehrfurcht in meinem Elend. Er ist mein Erlöser. Er nahm wie im Spiel die Last meiner Sünde auf seine Schultern. Er wollte mich retten, indem er die Strafe, die mir bestimmt war, auf sein Haupt rief. Aber wie soll ich diese furchtbare Gnade meines Gottes ertragen?

O, mein Kind, mein Kind, ich neige mich vor dir. Mein kleiner Bruder, ich neige mich vor dir. Du bist rein, du bist schön, ich neige mich vor dir. Möchtest du in deiner nächsten Existenz als mein eigenes Kind in meine Arme kommen, – das ist mein Gebet.

 

XXII

Das Gerücht von dem Raubüberfall verbreitete sich nach allen Seiten. Die Polizei ging beständig ein und aus. Unsre Dienstboten waren in großer Aufregung.

Khema, mein Mädchen, kam und sagte: »Ach, Maharani, um des Himmels willen, bewahren Sie mir doch meine goldene Halskette und Armringe in Ihrem eisernen Geldschrank auf!« Wem sollte ich erklären, daß die Rani selbst dieses ganze Netz von Verwirrung gewoben und sich nun auch darin gefangen hatte? Ich mußte die Rolle der gütigen Beschützerin spielen und Khemas Schmucksachen und Thakos Ersparnisse in meine Obhut nehmen. Sogar die Milchfrau brachte einen Koffer in mein Zimmer, in dem ein Sari aus Benares und andre ihrer ihr wertvollen Habseligkeiten waren. »Ich bekam diese Sachen zu Ihrer Hochzeit«, erzählte sie mir.

Wenn man morgen meinen eisernen Geldschrank öffnet in Gegenwart dieser Frauen – Khema, Thako, die Milchfrau und all die andern–... Ich darf nicht daran denken! Ich will lieber versuchen, mir vorzustellen, wie es sein wird, wenn dieser dritte Magh Indischer Monat, etwa von Mitte Jan. bis Mitte Febr. nach einem Jahre wiederkehrt.

Amulja schreibt, daß er erst spät am Abend kommen wird. Ich kann nicht so untätig allein mit meinen Gedanken bleiben, ich will ihm noch ein paar Kuchen backen. Ich habe schon eine ganze Menge gebacken, aber ich muß noch damit fortfahren. Wer wird sie essen? Ich werde sie unter die Dienstboten verteilen. Das muß ich noch heute abend tun. Heute abend läuft meine Frist ab. Das Morgen steht nicht mehr in meiner Hand.

Ich fuhr unermüdlich fort, einen Kuchen nach dem andern zu backen. Bisweilen kam es mir vor, als ob ich oben irgendwo in unsern Zimmern ein Geräusch hörte. Konnte es sein, daß mein Gatte den Schlüssel zum Geldschrank vermißt und die Bara Rani nun die Dienstboten zusammengerufen hatte, um suchen zu helfen? Nein, ich wollte nicht mehr hinhören; es war am besten, die Tür zu schließen.

Ich war eben im Begriff, es zu tun, als Thako keuchend hereingestürzt kam: »Maharani, o Maharani!«

»Mach', daß du fortkommst!« fuhr ich sie an. »Laß mich in Ruh!«

»Die Bara Rani läßt Sie rufen,« sagte sie. »Ihr Neffe hat ihr ein so wundervolles Instrument von Kalkutta mitgebracht. Es spricht wie ein Mensch. Kommen Sie und hören Sie!«

Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. So mußte jetzt von allen Dingen auf der Welt ein Grammophon auf der Bildfläche erscheinen, um bei jeder Drehung den näselnden Singsang seiner Arien zu wiederholen! Welch fürchterliche Sache ist es doch um eine Maschine, die einen Menschen nachäfft!

Die Schatten des Abends begannen zu sinken. Ich wußte, daß Amulja sich sofort melden würde, wenn er zurückkäme, doch ich konnte nicht länger warten. Ich rief einen Diener und sagte: »Geh und sag Amulja Babu, er möchte sofort herkommen!« Der Mann kam nach einer Weile zurück mit dem Bescheid, daß Amulja noch immer nicht zu Hause sei, er sei schon so lange fort.

»Fort!« Dies letzte Wort tönte wie eine Klage durch das zunehmende Dunkel an mein Ohr. Amulja fort! War er denn gekommen wie ein Strahl der untergehenden Sonne, um auf immer zu verschwinden? Alle möglichen und unmöglichen Gefahren schwirrten mir durch den Sinn. Ich war es, die ihn in den Tod geschickt hatte. Wenn er ihm auch furchtlos entgegengegangen war, das zeigte nur seine Seelengröße. Aber wie sollte ich hiernach noch ohne ihn allein weiterleben?

Ich hatte kein Andenken von Amulja außer jener Pistole, seinem Brudergeschenk. Sie erschien mir als ein Zeichen, das mir die Vorsehung geschickt hatte. Diese Schuld, die mein Leben an seiner Wurzel vergiftet hatte, – mein Gott hatte mir in Gestalt eines Kindes das Mittel gegeben, sie auszulöschen, und war dann entschwunden. O welche Fülle erlösender Gnade lag in dieser Liebesgabe verborgen!

Ich öffnete meine Truhe, nahm die Pistole heraus und hob sie in ehrfürchtiger Scheu an meine Stirn. In dem Augenblick erklangen die Glocken vom Tempel unseres Hauses. Ich warf mich anbetend nieder.

Am Abend bewirtete ich das ganze Haus mit meinen Kuchen. »Du hast uns einen wunderbaren Geburtstagsschmaus bereitet, und dazu noch ganz allein!« rief meine Schwägerin aus. »Aber du mußt auch uns etwas zu tun übrig lassen.« Und damit stellte sie ihr Grammophon an und ließ den schrillen Sopran der Kalkuttaschen Sängerinnen durch das Haus tönen. Es war, als hörte man einen Stall voll wiehernder Füllen.

Es wurde ziemlich spät, bis der Schmaus vorüber war. Ich hatte plötzlich ein Verlangen, meine Geburtstagsfeier damit zu beenden, daß ich die Füße meines Gatten ehrfurchtsvoll berührte. Ich ging hinauf ins Schlafzimmer und fand ihn in tiefem Schlafe. Er hatte einen so sorgenvollen, schweren Tag gehabt. Ich hob ganz, ganz sachte den Saum des Mosquitonetzes und legte meinen Kopf neben seine Füße. Mein Haar mußte ihn berührt haben, denn er bewegte im Schlaf die Füße und stieß meinen Kopf weg.

Ich ging hinaus und setzte mich auf die Veranda an der Westseite. Ein Wollbaum, der alle seine Blätter verloren hatte, stand in der Ferne da wie ein Skelett. Hinter ihm sank die Mondsichel hinab. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß selbst die Sterne des Himmels Furcht vor mir hätten, daß die ganze Nachtwelt mich mißtrauisch anblickte. Warum? Weil ich allein war.

Es gibt nichts Trostloseres in der Schöpfung als den Menschen, der allein ist. Selbst der, dessen Angehörige alle einer nach dem andern gestorben sind, ist nicht allein, Gesellschaft kommt ihm von jenseits des Grabes. Doch der, dessen Angehörige noch leben, aber keine Gemeinschaft mit ihm haben, der aus dem bunten Kreis eines vollen Heims herausgefallen ist, dessen Dunkel blickt selbst das Sternenweltall mit Schaudern an.

Wo ich bin, da bin ich nicht. Ich bin weit fort von denen, die um mich sind. Ich lebe und bewege mich am Rande einer weltweiten Trennungskluft, unsicher wie der Tautropfen auf dem Lotusblatt.

Warum verwandeln die Menschen sich nicht ganz, wenn sie sich verwandeln? Wenn ich in mein Herz sehe, so finde ich noch alles da, was sonst da war, – nur ist alles auf den Kopf gestellt. Was schön geordnet war, liegt wirr durcheinander. Die Perlen, die zu einem Halsband vereint waren, rollen im Staub. Und so bricht mir das Herz.

Ich möchte sterben. Und doch wird in meinem Herzen alles fortleben, – selbst im Tode kann ich nicht das Ende von allem sehen; der Tod bringt nur noch größere Reuequalen. Was beendet werden soll, muß in diesem Leben beendet werden, – es gibt keinen andern Ausweg.

O vergib mir nur dies eine Mal noch, mein Gott! Alles, was du als Reichtum meines Lebens in meine Hände legtest, habe ich mir zur Last gemacht. Ich kann sie nicht länger tragen, noch sie abwerfen. O Herr, laß noch einmal jene süßen Melodien auf deiner Flöte ertönen, die du einst vor langer Zeit für mich spieltest, als du am rosigen Horizont meines Morgenhimmels standest, – und laß alle meine Verwirrungen einfach und leicht sich lösen! Nur die Musik deiner Flöte kann heilen, was zerbrochen, und reinigen, was beschmutzt ist. Schaffe mein Heim neu mit deiner Musik! Ich weiß keine andere Rettung.

Ich warf mich ausgestreckt auf den Boden und schluchzte laut. Ich betete um Erbarmen, um ein wenig Erbarmen von irgendwoher, um Zuflucht, um irgendein Zeichen von Vergebung, eine Hoffnung, die das Ende bringen könnte. »Herr!« gelobte ich, »ich will hier liegen und warten und warten und weder Speise noch Trank anrühren, bis deine segnende Hand mich berührt hat.«

Ich hörte das Geräusch von Tritten. Wer sagt, daß die Götter sich nicht den Sterblichen zeigen? Ich wagte nicht mein Antlitz zu erheben, aus Furcht, sein Anblick könne den Zauber verscheuchen. Komm, ach, komm und laß deine Füße mein Haupt berühren! Komm, Herr, und setze deinen Fuß auf mein pochendes Herz und laß mich in dem Augenblick sterben!

Er kam und setzte sich zu meinen Häupten. Wer? Mein Gatte! Im ersten Augenblick, als ich seine Gegenwart fühlte, war mir, als sollten mir die Sinne schwinden. Und dann brach all der Schmerz, der sich in meiner Seele gestaut hatte, in einem unaufhaltsamen Tränenstrom hervor. Ich preßte seine Füße an meinen Busen, als ob ich ihre Spur für immer dort festhalten wollte.

Er streichelte zärtlich meinen Kopf. So empfing ich seinen Segen. Nun werde ich morgen die Buße der öffentlichen Demütigung auf mich nehmen können und sie mit geläutertem Herzen als Sühnopfer zu den Füßen meines Gottes niederlegen.

Aber was meine Seele bedrückt, ist der Gedanke, daß die festlichen Flöten, die vor neun Jahren bei meiner Hochzeit erklangen und mich in diesem Hause willkommen hießen, mir nie in diesem Leben mehr erklingen werden. Welche Buße gäbe es, die hart genug wäre, um mich noch einmal als die für ihren Gatten geschmückte Braut auf denselben bräutlichen Sitz zu erheben? Wieviel Jahre, wieviel Zeitalter, wieviel Weltalter müssen vergehen, bis ich den Weg zurückfinde zu dem Platz, wo ich vor neun Jahren stand?

Gott kann neue Dinge schaffen, aber hat selbst er die Macht, das neu zu schaffen, was sich selbst zerstört hat?


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