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Tibetische Fabeln aus Kin tschuan

Der Lohn der Frömmigkeit

Ein Bauer hatte einen Kropf. Er ging einst, weil er sehr fromm war, zum heiligen Berg rDyarong Mu rdo und umkreiste ihn betend. Eine Nacht brachte er in einer Felsengrotte zu. Da trat, während er schlief, eine heilige Frau zu ihm, die von dem Gotte des heiligen Berges geschickt war, und heilte ihn von seinem Kropf. Als der Mann morgens aufstand, merkte er, daß er keinen Kropf mehr hatte, und vergnügt ging er wieder nach Hause zurück. Da sah ihn sein Nachbar, der auch einen Kropf hatte, und wurde voll Neides. Auf seine Frage, wie er seinen Kropf losgeworden sei, sprach unser Freund: »Ich habe am heiligen rDyarong Mu rdo in der Grotte geschlafen, und wie ich erwachte, war der Kropf fort.« Da beschloß der Nachbar, der sonst nie betete, dasselbe zu tun, und machte sich auf, den heiligen Berg zu umkreisen. Er legte sich in derselben Grotte zum Schlafen nieder. Doch wie er morgens erwachte, da hatte er anstatt eines Kropfes deren zwei!

 

Der Jäger und der Einsiedler

In einem tiefen, wilden Walde hauste ein Einsiedler (ein Tschamba-Lama) in einer vermauerten Felsgrotte. Ein Jäger, der in dem Wald tagtäglich jagte, brachte von jedem erlegten Tiere einen Schlegel dem frommen Manne und schob diesen durch die kleine Fensterluke in des Heiligen Gelaß. Wenn dann der Knochen abgenagt war, warf ihn der Lama wieder aus seinem kleinen Fenster ins Freie. Nach Jahren fiel des Jägers Auge auf den großen Haufen abgenagter Knochen, die vor der Wohnung des Lama aufgehäuft lagen; Entsetzen faßte ihn, und er rief aus: »Ich bin ein zu großer Sünder, ich habe zu viele Tiere umgebracht. Ich bin unwürdig, zu leben, und muß mir selbst das Leben nehmen.« Ganz nahe bei der Grotte des Lama war ein steiler Felsgrat. Von dem stürzte er sich hinab in den Grund. Doch im Sturz entschwand er den Blicken des Lama; er war in den Himmel entrückt worden. Da dachte bei sich der Tschamba-Lama: »Wenn der Jäger, der große Sünder, der so vielen Tieren das Leben genommen hat, in den Himmel entrückt wird, muß ich, der ich mein ganzes Leben einsam betend in der Waldhöhle verbracht habe, vollends wert sein, in den Himmel zu kommen. Er entstieg seiner Höhle durchs Fenster und stürzte sich dem Jäger nach vom Grate hinab – aber zerschmettert lag er unten in der Tiefe!

 

Der Verein der vier Gesellen

Hase, Schwein, Affe und Rabe hatten Geld gesammelt, und der Hase hatte den Vorschlag gemacht, einen Verein zu gründen und ein Festmahl zu bereiten. »Einer von uns muß aber als Schmaus dienen,« sprach der Hase, »und der soll daran glauben, dessen Name am leichtesten von der Zunge läuft.« So kamen sie überein, daß sich das Schwein (pak) opfern müsse. Hierauf sagte der Hase: »Ich werde jetzt das Schwein schlachten; Bruder Affe und Bruder Rabe, geht und holt im Walde Holz zum Feuermachen und bringt den Herd in Ordnung.« Als die beiden fortgegangen waren, riß der Hase dem Schwein den Schwanz aus, verkaufte aber den »Rest« an den Chinesen. Den Schwanz steckte er in ein Loch in der Wand. Dann rief er zetermordio dem Affen und dem Raben: »Kommt, kommt und helft, das Schwein will ausreißen!« Eilends kamen die zwei herbei. Sie fanden den Hasen rücklings mit dem Schwanz in der Hand auf dem Boden liegen. »O Brüder,« rief der, »ihr kommt zu spät, das Schwein ist mir durchgegangen und ließ mir nur seinen Schwanz zurück, an dem ich es festhielt!«

 

Der Bär und der Hase

Der Bär hatte einen Hasen gefangen. Der Hase aber war schlauer als der Bär, und durch seine Schlauheit rettete er sein Leben.

Der Bär schickte sich eben an, den Hasen zu fressen, als der Hase sagte: »Onkel Bär, Onkel Bär, du darfst mich nicht fressen«, und dabei kaute und schmatzte er. Der Bär fragte deshalb: »Nefflein Hase, was ißt du denn?« »Ich esse etwas sehr Gutes,« sprach der Hase, »ich esse meine Augen, die schmecken ganz ausgezeichnet.« »Wie kannst du denn deine eigenen Augen fressen«, erwiderte der Bär. »Ach, die wachsen immer wieder neu; willst du mal eines versuchen?« Dabei schob ihm der Hase ein Stückchen Honig hin. »Ei, das schmeckt ja vorzüglich,« meinte der Bär, »kannst du mir mein Auge auch herausnehmen?« Da riß der Hase dem Bären ein Auge aus und gab ihm wieder ein Stückchen Honig zu kosten. »Nefflein, Nefflein, das schmeckt noch weit besser als dein Auge,« gab der Bär schmatzend zurück, »nimm mir doch auch mein anderes Auge noch heraus.« Und der Hase riß ihm auch das zweite Auge aus und gab ihm dafür wieder ein Stück Honig in den Mund. Nun konnte der Bär aber nichts mehr sehen. »Nefflein, Nefflein, ist es denn schon Abend geworden? Ach, jetzt finde ich nicht mehr den Weg nach Hause.« »Sei nur zufrieden, Onkel. Ich werde dich führen«, sagte ihm der Hase, der noch immer Angst hatte, der Bär könne ihm ein Leids tun. »Auf dem schlechten Wege mußt du eben langsam laufen; wenn wir aber auf den guten Weg kommen, dann kannst du schnell laufen.« Er ließ ihn aber nun auf dem guten Weg langsam gehen, bis sie ins Gebirge, auf einen steilen, schmalen Pfad kamen. »Onkel Bär, nun ist der Weg gut, nun laufe schnell!« sprach jetzt der Hase. Der Bär fing zu traben an, der Hase ließ ihn los, der Bär kam ab vom Pfad und rollte hilflos den Abhang hinunter. Im Sturze konnte er sich gerade noch mit den Zähnen an einer Wurzel festhalten. »Onkel Bär, Onkel Bär, wo bist du denn«, rief ihm der Hase nach. »Mm, mm«, tönte es vom Bär herauf, der ja seinen Mund nicht öffnen konnte. »Sag nicht ›mm‹, sag doch wenigstens ›aa‹, daß ich es besser hören kann und dich finde«, schrie der Hase. Da brüllte der Bär »aa«, stürzte in den Abgrund hinab und wurde zerschmettert. Der Hase aber rief hinten nach: »Wer hat nun den Hasen aufgefressen?«

 

Der Hase und die Elster

Jeden Tag zerkratzte eine Elster dem Hasen den Eingang seines Baues. Deshalb wollte der Hase die Elster fangen und sie strafen. Die Elster aber flog immer flink auf den nächsten Baum und lachte dort den Hasen aus. Zuletzt lud der Hase die Elster feierlich zu einem Festschmause über zehn Tage ein, und sie schrieb ihm zurück: »Lieber Bruder Hase, mit Freuden nehme ich deine Einladung an.« Sie kam auch zur festgesetzten Stunde und als Gastgeschenk brachte sie zwanzig Eier mit. Da sprach der Hase: »Die Eier sind eine sehr geringe Entschädigung für das viele Unheil, das du mir schon angerichtet hast. Ich wollte dich immer fangen und bestrafen, doch immer flogst du weg. Du mußt deshalb heute mit mir auf dem Boden um die Wette laufen.« Die Elster nahm die Herausforderung an, und sie rannten über ein weites Feld, und der Hase siegte. Die vielen Zuschauer, alles Hasen, schrien Beifall und lachten die Elster weidlich aus. Die aber zwitscherte erbost: »Meine Niederlage gilt nicht. Ich weiß, wie viele Leute du schon in deinem Leben geschädigt hast.« »Wen denn?« fragte der Hase. »Jeden Abend hast du im Kornfeld dem Bauern sein Korn weggefressen; doch lassen wir das Streiten, komm du morgen zu mir zum Schmaus.« Und die Elster dachte bei sich, wie sie den Hasen hereinlegen könne, und sie legte ganz heimlich einen Fallstrick. Der Hase besuchte sie auf ihrer grünen Weide, und die Elster sagte dort: »Beim Wettlaufen habe ich's verloren; heute wollen wir aber einmal um die Wette hüpfen!« Und sie hopste wieder und wieder vor dem Hasen her durch die Schlinge, bis der Hase ärgerlich ausrief: »Was willst du denn? Das kann ich auch!« Dann fing er mit seinen langen Beinen zu hüpfen an, und schon hatte er sich in der Schlinge verfangen; der Strick legte sich ihm um den Hals, der Zweig fuhr in die Höhe, und zappelnd hing er da! Die Elster aber kreischte: »Ei, wie lustig ist's, das Tanzen der Füße ohne Boden; wie lustig ist das hilflose Verdrehen der Augen!« Ehe der Hase verschied, sagte er noch: »Hätte ich das Ende bedacht, dann hätte ich dich nicht ausgelacht!«

 

Stein, Stein, dreh' dich!

Auf einem Bauernhofe lebten einst eine Witwe und ihr Sohn. Als sie im Herbste die Garben auf dem flachen Dache ihres Hauses trockneten, kam eine freche Elster und stahl ihnen viele Körner. Da sprach die Mutter: »Geh, Sohn, und stelle eine Falle auf, daß wir die Elster fangen, sie stiehlt uns gar zu viele Körner.« Der Sohn tat, wie die Mutter ihn geheißen, und schon denselbigen Abend war die Elster eingefangen. Als der Sohn zur Falle ging und die Elster töten wollte, bat diese ihn gar beweglich, sie doch freizulassen. »Nie mehr will ich zu euch kommen,« sprach sie, »und als Lohn dafür, dass du mich freiläßt, will ich dir ein Pferd und zwei Mühlsteine schenken. Mit denen hat es eine ganz besondere Bewandtnis.« Darauf ging der Sohn zu seiner Mutter, erzählte ihr, was die Elster ihm versprochen, und bat sie, die Elster freizulassen. Doch die Mutter hieß ihn den Vogel töten. Ein zweites Mal bat der Sohn die Mutter für die Elster, doch sie blieb hart. Da ging der Sohn heimlich zur Falle und ließ die Elster frei und ertrug willig die Schelte der Mutter. Nach drei Tagen wanderte er den weiten Weg zum Hause der Elster. Die empfing ihn freundlich und führte ihn in ihre Küche. Da standen zwei Mühlsteine. Als die Elster sprach: »Stein, Stein, drehe dich«, fing der oben liegende Stein an, sich zu drehen, und eitel Butter quoll aus den Öffnungen der Mühle. Die Elster schenkte dem Sohne die zwei Mühlsteine und befahl ihm, sie eilends heimzutragen und ja nicht unterwegs zu übernachten. Er zog vergnügt von dannen. Doch die Last war schwer, und der Weg war lang, und als es Nacht wurde, kehrte er in einem Gasthause ein. Als er gegessen hatte, wies ihm der Wirt einen Raum im oberen Stocke, doch er sprach: »Ich muß hier unten bei meinen zwei Steinen bleiben.« Meinte der Wirt: »Geh nur ruhig hinauf, die Steine wird dir niemand stehlen.« »Aber, wenn ich weg bin, wirst du zu meinen Steinen sagen: ›Stein, Stein, drehe dich.‹« »Ach, niemand wird dies sagen«, beruhigte ihn der Wirt, und der junge Tor ging nach oben. Kaum war er fort, rief der Wirt seine Frau und seine Kinder herbei. Sie stellten sich um die Steine, und der Wirt sprach: »Stein, Stein, drehe dich.« Da gehorchten die Mühlsteine, und eitel Butter quoll aus den Öffnungen. Der Wirt aber freute sich; rasch schaffte er die Steine weg in seine Küche und stellte dem Gaste zwei andere Steine bereit. Als der des Morgens herunterkam, lud er sich die falschen Steine auf den Rücken und zog mit ihnen heim. Stolz legte er die Steine vor seine Mutter und gebot: »Stein, Stein, drehe dich!« Doch diese rührten sich nicht. Da schalt ihn die Mutter, daß er so dumm gewesen sei und der Elster geglaubt und sie nicht getötet habe; er aber machte sich nochmals auf zu ihrem Hause. Die Elster hieß ihn freundlich willkommen und führte ihn in ihren Stall. Da stand ein schönes Pferd. »Pferdchen, Pferdchen, strecke dich!« rief die Elster; das Pferd streckte sich, und Silberstücke rollten auf den Boden. »Dies Pferd ist dein«, sprach die Elster. »Sooft du Mangel hast, sage nur: ›Pferdchen, Pferdchen, strecke dich!‹ und es wird dir Silber in Hülle und Fülle schenken. Aber ziehe jetzt eilends heim und übernachte nicht.« Froh zog der Sohn nach Hause. Doch der Weg war lang, und als es Nacht wurde, kehrte er in demselben Gasthause ein. Als er gegessen hatte, wies ihm der Wirt wiederum die Schlafstätte im oberen Stock an; er aber sprach: »Ich muß im Stalle bei meinem Pferdchen bleiben.« »Das wird dir niemand stehlen«, sprach der Wirt, »steig nur hinauf!« Der junge Mann ließ sich von dem Wirt versprechen, daß niemand zu dem Pferde »Pferdchen, Pferdchen, strecke dich!« sagen werde, und stieg dann die Treppen hinauf. Kaum war er fort, rief der Wirt Frau und Kinder herbei; sie stellten sich um das Pferd, und der Wirt befahl: »Pferdchen, Pferdchen, strecke dich!« Da gehorchte das Pferd, und Silberstücke rollten auf den Boden. Der Wirt aber freute sich, rasch schaffte er das Pferd beiseite und stellte seinem Gaste ein anderes hin. Als der des Morgens herunterkam, faßte er das falsche Pferd am Zügel und zog damit heim. Wieder erwartete ihn die Mutter; er stellte das Pferd vor sie hin und sprach: »Pferdchen, Pferdchen, strecke dich!« Doch das Tier blieb stocksteif stehen. Da schalt die Mutter noch viel schlimmer als das erste Mal und schlug ihn dafür, daß er abermals der bösen Elster getraut habe. Er aber wanderte zum dritten Male zu ihrem Hause. Dort klagte er, wie schlecht sich ihre Geschenke bewährt hätten. Da gab ihm die Elster einen großen Prügel und sprach: »Nimm diesen Stock mit nach Hause, und es soll dir gut gehen. Aber hüte dich, zu ihm zu sagen: ›Prügel, steh, auf!‹ Und gehe eilends heim und übernachte nirgends.« Froh zog der Sohn von dannen. Doch der Weg war lang und der Prügel groß und schwer, und als es Nacht wurde, kehrte er wiederum in dem Gasthause ein. Sprach der Wirt zu ihm, als er gegessen hatte: »Gehe die Treppe hinauf zur Schlafstube.« Er aber sagte: »Ich muß hier unten bei meinem Prügel bleiben.« Sprach der Wirt: »Den wird dir sicherlich niemand stehlen!« »Wenn ich weg bin, wirst du aber sagen: ›Prügel, Prügel, steh auf!‹« meinte der Sohn. »Ach, niemand wird dies sagen«, beruhigte ihn wiederum der Wirt. Kaum war er aber allein, da rief der Wirt wieder Frau und Kinder herbei. Sie stellten sich rund um den Prügel, und der Wirt gebot: »Prügel, Prügel, steh auf!« Da stand der Prügel auf und ging auf den Wirt los und prügelte ihn durch, und ging auf des Wirtes Frau los und prügelte sie durch, und ging auf des Wirtes Kinder los und prügelte sie durch und hieb auf alle zumal ein, und prügelte auf alle zumal los, bis sie halbtot am Boden lagen und jämmerlich und laut um Hilfe und Erbarmen schrien. Und eilends brachten sie unter den Prügelschlägen das Pferd her und schleppten unter den Prügelschlägen die Mühlsteine herbei und gestanden dem Sohne ihre Tücke ein. Da nahm der das Pferd und die Steine und den Stock an sich und zog fröhlich heim. Er stellte das Pferd und die Steine vor seine Mutter und gebot: »Stein, Stein, dreh' dich!« und »Pferdchen, Pferdchen, strecke dich!« Da quoll eitel Butter aus den Öffnungen der Mühlsteine, und dem Pferd entrollten Silberstücke. Des freute sich die Mutter. Als sie aber den Prügel sah, wollte sie wissen, was der ihnen Gutes beschere, da sprach der Sohn: »Nie darfst du zu ihm sagen: ›Prügel, Prügel, stehe auf!‹« Kaum war er aber ins Haus gegangen, da packte die Mutter die Neugier, und laut rief sie: »Prügel, Prügel, stehe auf!« Und der Prügel stand auf und schlug die Mutter tot. Das war der Elster Rache.

 

Floh und Laus

Der Floh und die Laus wetteten einst miteinander, wer von ihnen zuerst oben auf einem Berge ankomme. Beide sollten auf ihrem Rücken ein Holzbündel hinauftragen. Der Floh war guter Dinge und verlachte schon im voraus seinen bedächtigen Gegner. Er machte gewaltige Sprünge, doch bei jedem Sprung verlor er etliche Holzscheite und mußte diese mühsam wieder auflesen; die Laus aber krabbelte langsam und stetig bergan, das Holzbündel blieb dabei ruhig auf ihrem Rücken, und so war sie bei weitem die erste am Ziel. Mit Behagen ließ sie sich die große Schale Buttermilch schmecken, die als Preis ausgesetzt war. Seither sind alle Läuse so dick und so rund.

 

Die böse Bergfrau

Es war einmal ein Mann, der hatte zwei Knaben. Seine Frau, die Mutter der zwei Knaben, hatte auf dem Totenbette ihren Mann zwei große Berggeister als Zeugen anrufen lassen, daß er stets und immerdar aufs beste für die zwei Kinder sorgen werde, auch wenn er, der erst dreißig Jahre alt war, sich wieder verheiraten werde. Als die Frau noch nicht ein Jahr tot war, nahm der Mann eine neue Frau zu sich. Diese war aber eine Tscha sen mu (ein Felsdämon = tschra srin mu), war ein Mensch, in dem ein böser Dämon steckte, und sie dachte nur daran, wie sie die zwei Knaben auffressen könne. Sie stellte sich deshalb schwer krank und sagte zu ihrem Manne: »Gehe du auf jenen Berg; droben wohnt ein Tschamba-Lama (ein Klausner), laß dir von diesem raten, was wir machen müssen, damit ich wieder gesund werde.« Da ging der Mann zu dem Klausner auf den Berg. Als er aber auf der linken Seite des Berges hinaufstieg, ging seine Frau rasch auf der rechten Seite hinauf. Oben verwandelte sie sich in den Lama und sprach sogleich zu ihrem Mann: »Du willst dir Rats holen, weil deine Frau schwer krank ist. Du hast zwei Söhne. Schlachte den einen von diesen und hänge sein Fleisch in kleine Stücke zerschnitten auf diesem Berge auf.« Als der Mann nach Hause zurückkam, lag auch seine Frau schon wieder da und tat schwer krank. Sie fragte sogleich nach des Klausners Bescheid. »Ich soll einige Messen für dich lesen lassen, dann bist du in einem Monat gesund«, antwortete der Mann, der die Wahrheit nicht zu gestehen wagte. Die Frau aber winselte und schrie von Stund' an vor übergroßen Schmerzen, bis ihr der Mann versprach, am anderen Tage noch einmal den Klausner zu besuchen. Als er auf dem Berge anlangte, war die Frau auch schon oben und hatte sich wieder in den Klausner verwandelt. »Wenn du deinen Sohn nicht schlachtest, wird deine Frau heute abend tot sein«, sprach sie. Da dachte der Mann bei sich: »Wenn meine Frau stirbt, dann habe ich in einem Jahr zwei Frauen verloren. Wenn ich aber den Knaben töte, dann wird mir die Frau viele andere Kinder schenken können.« Er beschloß deshalb, einen der Söhne zu opfern, band ihn und wollte ihn gerade an einem Baume erdrosseln, als der andere Knabe rief: »Apa, Apa, Vater, Vater, sieh doch nach der anderen Seite des Flusses, nach dem Berge hinüber«, und wie der Vater dahin blickte, erblindete sein linkes Auge. Darauf sah er den zweiten Berg an, den er einst als Zeugen aufgerufen hatte, und da wurde er auch auf dem rechten Auge blind. Jetzt entflohen die Knaben und liefen zu dem Grabe ihrer Mutter und weinten dort drei Tage und drei Nächte. Nach drei Tagen kam eine schöne Frau und fragte sie, warum sie so bitterlich weinten. Plötzlich sauste ein Windstoß daher und führte die Knaben mitsamt der Frau hinweg zu einem goldenen Schlosse am Ufer des Flusses. Dort sprach die Frau: »Ich bin eure Mutter; ich habe nicht mehr mit den Menschen zusammen leben wollen, und deshalb bin ich gestorben und in meine Welt zurückgekehrt. Was aber euer Vater nach meinem Tode tat, das weiß ich alles.« Und drei Jahre lang lebten die Knaben bei ihrer Mutter in dem goldenen Schlosse mit den silbernen Türen; dann wollten sie wieder nach ihrem Vater sehen. Die Mutter gab ihnen eine Last Fleisch und zwei Lasten Asche mit auf den Weg. Sie erreichten am Abend das Haus des Vaters und blickten durch die Fenster in die Stube hinein. Da sahen sie, wie ihre böse Stiefmutter sich anschickte, ihren Vater bei lebendigem Leibe aufzufressen, weil er ihr nicht genug Fleisch verschafft hatte. Die Knaben kletterten darum geschwind auf das Dach des Hauses hinauf und warfen durch den Rauchfang das Fleisch hinunter in die Stube. So viel sie hineinwarfen, alles schnappte die Stiefmutter mit dem Maule auf und verschlang's, und loderndes Feuer schlug aus ihrem Schlund heraus. Da schütteten sie zuletzt, als eben die Frau ihr Maul wieder gierig aufgesperrt hatte, noch die zwei Lasten Asche hinab, so daß sie erstickte. Jetzt nahmen die Knaben den Vater mit sich in das goldene Schloß zu ihrer Mutter, und alles wurde wieder gut. Der Vater blieb aber blind, denn er hatte seine Augen den Berggeistern verpfändet, und auch die erste Frau, die gute Fee, konnte diese nicht mehr einlösen.

 

Sprüche und Rätsel aus Osttibet

Wenn ein Ochse über dein Gesicht läuft, so siehst du es nicht; wenn aber eine Laus über das Gesicht eines anderen läuft, so siehst du es sofort.

Wer noch nie seinen eigenen Schatten gesehen hat, lacht über den Schatten anderer Leute.

Ich dachte, ich sei früh aufgestanden, aber ich traf Leute, die noch gar nicht geschlafen hatten.

Die Hühner zerrupfen wohl viel, aber sie fressen nicht nur Körner.

Wenn du das nicht verstehst, was ich dir eben sage, so kann ich dich eben mit Worten nicht satt machen.

In der Stadt teilt der Jäger schon das Wildfleisch und die Felle, ehe er sich zur Jagd begibt.

Schämst du dich nicht, daß ein Dieb, wenn er zu dir kommt, nichts zu stehlen findet?

Ein fleißiger Mann trägt das Meerwasser bis auf die Berggipfel hinauf, wenn er nichts zu tun hat.

Wirf nie aus Wut deinen Teig gegen die Wand, sonst kommt er wieder zurück in dein Gesicht.

Ein Rabe saß auf dem Rücken eines Ochsen und suchte eine Mahlzeit unter den Läusen zusammen. Da sprang der Hirte auf und schoß nach ihm und schoß seinen eigenen Ochsen tot.

Im oberen Stock fällt Schnee, im unteren Stock fällt Regen, und niemand wird naß. Was ist das? (Eine Wassermühle; eine tibetische Wassermühle hat stets eine vertikale Achse, und das horizontale Turbinenrad befindet sich ein Stockwerk tiefer als die horizontal liegenden Mühlsteine.)

Auf einer weiten Grasweide sind viele kahle Äste. Aber nie kann ein Vogel auf einem der Äste sitzen. Was ist das? (Die Hörner einer Yakherde.)

Zwei Söhne schlagen ihren Vater. Der Vater schreit so laut, daß es der ganze Ort hören muß. Aber niemand hat Mitleid mit dem Vater, sondern viele freuen sich. Was ist das? (Trommel und Trommelschlegel.)

Jemand tritt zur Tür heraus, und schon ist er oben am Himmel und ist nicht geflogen und ist nicht gelaufen. Was ist das? (Der Blick.)

Wenn man ihn bindet, dann läuft er, und wenn man ihn loslöst und befreit, so bleibt er stehen. Was ist das? (Der Stiefel.)

Morgens und den ganzen Tag sieht es zum Fenster heraus, abends geht es wieder durchs Fenster herein. Was ist das? (Der Knopf.)

Schon bei der Geburt hat es einen weißen Kopf. Was ist das? (Das Ei.)

In einer Höhle brüllt es wie ein Ochse. Du siehst es oft, es kommt aber nie heraus, und niemand benutzt es zum Tragen und zum Ziehen; aber du denkst daran bei jeder Mahlzeit. Was ist das? (Die Zunge.)

 


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