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VII. Aufbruch ins Ts'ao ti

Nach Hsi ning fu zurückgekehrt, war ich vollauf beschäftigt, meine photographischen Platten zu entwickeln. Auch gab es verschiedene Einladungen bei Beamten und Offizieren. Dabei entpuppte sich der Hsi ning hsien als ein bewunderungswürdiger Mogler im Trinken, der immerfort anderen zutrank, aber als vorsichtiger Mann und Diplomat selber keinen Tropfen berührte. Interessant war die listige Art, wie dieser Hu pe-Chinese seine Kunst ausübte. Bei einer Einladung, die ich in einem Tempel gab, hatte er meine Diener bestochen, ihm nie etwas einzuschenken, aber doch das Eingießen des Schnapses in die Porzellanschälchen, aus denen die Chinesen trinken, vorzutäuschen.

Da in Hsi ning niemand außer mir photographierte, so hatte ich in dieser Zeit auch vollauf zu tun, die Beamten, ihre Gemahlinnen und Töchter aufzunehmen. Tagtäglich wurde ich dazu aufgefordert. Die Frauen wurden dabei als eine zwar kostbare, aber doch als eine Art Ware behandelt. In meiner Gegenwart redeten die betreffenden Ehemänner und Väter nie zu ihren Frauen und Töchtern, auch mir war es natürlich nicht erlaubt, in Gegenwart der Männer die Frauen anzusprechen. Unter den Hsi ning- und Dankar-Chinesen gilt es sogar für unschicklich, wenn ein Mann mit den Frauen seiner Brüder spricht. Die Schwägerinnen haben für den Schwager vollkommen Luft zu sein, auch wenn der Familienbesitz nicht geteilt ist und alle zusammen in einem Haushalte leben. Dagegen ist es, zumal unter den Mohammedanern, der Brauch, daß, wenn ein Bruder stirbt, der nächstälteste der Familie die Witwe als Ehegattin mit übernimmt; er »erbt« sie gleichsam, denn sie hat ja die Familie bares Geld gekostet.

Die Stellung der Frau drückt sich am deutlichsten wohl darin aus, daß jede Frau, die geboren hat, vierzig Tage lang für unrein gilt. Zehn Tage lang darf sie ihre Hütte nicht verlassen und nicht einmal in ihren Hof sitzen, denn sie ist unwürdig, daß die Sonne sie anscheint. In den ersten zehn Tagen nach der Geburt gilt sogar der Mann für unrein und darf mit niemand verkehren. Ist er Kaufmann, so ist er durch die Sitte gezwungen, über diese Zeit seinen Laden zu schließen oder, wenn er das nicht will, so lange einen Stellvertreter anzustellen, er darf aber seinen Laden und sein Geschäft nicht betreten. Viele chinesische Ehemänner verreisen deshalb rasch, wenn eine Geburt in ihrer Familie bevorsteht, um so den Verdacht der Unreinheit von sich abzuschütteln.

Nur wenige Tage nach meiner Rückkehr vom Kloster Gum bum starb mein Hausherr, in dessen umfangreichem Gebäude ich den dritten und hintersten Hof mit den daranliegenden Häuschen gemietet hatte. Gerade vor meinem separaten Hoftore wurde der Tote in den folgenden Tagen aufgebahrt, und dort gingen auch die verschiedenen Leichenzeremonien vor sich, so daß ich die ganze Feierlichkeit mit aller Muße überschauen konnte. Die Familie des Verstorbenen war nur leider erst vor wenigen Generationen aus Schen si eingewandert, sie galt noch als fremd, war eine von »unten«, wie man in Hsi ning sagt. So waren nicht sehr viele Verwandte da, die Familie war auch nicht reich, alles ging deshalb relativ einfach zu, und man beeilte sich soviel wie möglich. Immerhin waren die Umständlichkeiten nach unseren Begriffen ganz enorm.

Der Mann war sehr alt geworden und dann rasch gestorben. Es war aber den Angehörigen gerade noch geglückt, der guten Sitte zu genügen und dem Sterbenden bei Lebzeiten die langen seidenen und wattierten Sterbekleider anzuziehen, auch ihn von seinem Ofenbett weg auf eine kleine Pritsche zu legen und in dem Mittelraum des Haupthauses aufzubahren, damit die Seele leichter ihren Weg ins Freie finde. Die Söhne hatten sich also noch im letzten Augenblick als pietätvolle Kinder gezeigt. Dem Toten legte man gleich nach Eintritt des Endes Geld in den Mund, damit er nicht stumm sei, wenn er wiedergeboren werde, aber er wurde weder gewaschen, noch wurden ihm die Augen zugedrückt. Wie vergessen lag er in den ersten Tagen in dem Sterbezimmer, dessen Türen und Fenster weit offen standen. Tagsüber hörte ich nur öfter den Namen des Mannes, sowie »Vater«, »Großvater« rufen, und am ersten Abend bewegte sich vom Sterbehaus aus ein langer Zug von taoistischen Priestern mit vielen Laternen, mit Gong, Triangeln und Trommeln durch die Straßen der Stadt und machte einen Höllenspektakel. Hinter diesen Priestern wurde eine große Sänfte getragen, in der sich auf dem Sitz ein Brett mit dem Namen des Verstorbenen befand. Nach dieser Sänfte kam noch ein Tisch mit allerlei Opfergaben, und dahinter wankten in gebückter Haltung, in den weißen, rohen Trauerkleidern aus Hanf, von Freunden und Lohndienern gestützt, der Sohn und der Enkel. Sie hatten noch immer nach dem »Gui«, d. h. nach der Seele des Verstorbenen, zu suchen. An allen Ecken und Kreuzwegen blieben sie dazu stehen, riefen seinen Namen und suchten eifrig am Boden. Denn es ist chinesische Vorstellung, daß der Tod eingetreten ist, weil die Seele den Körper verlassen hat, und daß der Körper weiterzuleben vermöchte, wenn nur die Seele, der »Gui«, in ihn zurückkehren wollte oder zurückfinden könnte. Der Gui wird höflichst eingeladen, wiederzukommen Ob allerdings »gui« (kwei) mit unserem Wort »Seele« zu übersetzen ist, dürfte sich fragen, denn die gewöhnliche Volksphilosophie in Kan su lehrt, ein Mensch habe drei »gui« und sieben »schen« (Geister). Von den drei »gui«, die substantiell gedacht werden und zum Yin-Prinzip (siehe S. 17, Anm. 1) gezählt werden, während die sieben »schen« immateriell sind und zum Yang-Prinzip gehören, bleibt der eine nach dem Tode bei den Knochen, der zweite haftet mit Hilfe der taoistischen Priester an dem Totentablette, das den Namen des Abgeschiedenen trägt. Diese beiden erlöschen mit der Zeit. Der dritte »gui« soll allein unsterblich sein. Er wird auch von den Chinesen buddhistisch verwendet, hat die Hölle zu passieren und wird später unter Umständen wiedergeboren. Da aber viele Chinesen nichts von der buddhistischen Lehre der Wiedergeburt wissen, so wird oft behauptet, diese dritte Seele lebe unsichtbar mit der Familie weiter; sie »spukt«, sie kann den Lebenden schaden oder auch nützen..

Am dritten Tag wurde die Leiche in den Sarg gelegt, der über 2 m lang und aus 2½ Zoll dicken Bohlen gefertigt war. Der Sarg war wie das Sterbegewand des Alten schon viele Jahre zuvor gekauft und in einem Winkel des Hauses aufbewahrt worden. Die Füße wurden dem Toten zusammengebunden, sein Kopf auf einen Ziegelstein gelegt. Jeden Tag versammelten sich jetzt nach Sonnenaufgang alle Angehörigen der Familie mit ihren Frauen für eine halbe Stunde in dem Sterbezimmer um den Sarg und heulten laut, so daß es die ganze Nachbarschaft hören mußte. Dabei wurden auf einem mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch vor dem Sarg Tee und Süßigkeiten bereitgestellt, Schnaps ausgeschüttet und Kerzen und Weihrauch angezündet. Am Ende der halben Stunde brach man ebenso plötzlich, wie man begonnen hatte, mit dem Heulen und Wehklagen ab, die Tränen trockneten, und man ging wieder an sein Geschäft oder ans Essen, um erst vierundzwanzig Stunden später weiterzuheulen.

Am sechsten Tag kamen aufs neue die taoistischen Priester in das Haus und schlugen Zelte und Baldachine im Hofe vor meiner Türe auf. Musiker erschienen und auch Köche, die für die vielen, ihr Beileid bezeigenden Verwandten und Gäste zu kochen hatten. Von den Priestern war mittlerweile ein Reisepaß für das Totenreich, eine schriftliche Lobrede auf grauem Papier, ausgestellt worden, und dieser wurde nun dem Verstorbenen in die Geisterwelt nachgesandt, d. h. er wurde unter mancherlei Anrufungen verbrannt. Auch wurden einige halblebensgroße Diener aus Papier, dazu große, aus Papier verfertigte Silberstücke und viel Kupfergeld, das gleichfalls aus Papier herausgestanzt war, verbrannt, so daß der Tote eine ganz gute Aussteuer mitbekam De Groot, The religious system of China, Bd. I, S. 80, berichtet von der überwiegend buddhistischen Provinz Fu kien in Südchina, daß dort die Chinesen annehmen, durch jede Geburt werde eine arme Seele aus dem Hades befreit. Die Seelen hätten dort immer erst ein großes Lösegeld an den Totengott und dessen Schergen zu bezahlen, ehe sie loskommen könnten. Um diese Summe bezahlen zu können, müßten die Seelen bei anderen Seelen Geld pumpen, und deshalb würde die Seele eines jeden Abgeschiedenen, sowie sie wieder in den Hades zurückkehre, von ihren alten Gläubigern gedrängt, die alten Schulden einzulösen, denn diese seien auch bestrebt, das Lösegeld zusammenzubringen, um wieder so rasch wie möglich auf die Erde zurückkehren zu können. Auch herrscht die Vorstellung, daß es besonders nützlich sei, gleich Kupfergeld mitzusenden, weil ja natürlich eine eben von der Erde zurückkehrende arme Seele den Kurs des Hadeskupfergeldes nicht wisse und deshalb von den dortigen Wechslern erst betrogen werde und nur mit großem Verlust gewechselt bekomme! Das gibt tiefe Einblicke in das chinesische Volksempfinden..

Drei Tage lang dauerte das Rezitieren und monotone Hersingen von Gebeten und Anrufungen, wobei der leitende Priester, der in einem gelben, mit blauen Drachen bestickten Gewände erschien, bei jedem Wort auf einen »Fischkopf«, eine hohle, mit einem Schlitz versehene Holzkugel schlug und seine Begleiter mit Gong, Glocken und Trommeln einen ohrenbetäubenden Lärm machten, der weit unter der lamaistischen Musik der tibetischen Klöster stand und am ehesten mit einer »Katzenmusik« oder dem Lärm eines oberbayrischen Haberfeldtreibens zu vergleichen wäre. Vor dem Sarge, der immer unter der offenen Haustüre stand, wurden unter der Aufsicht der Priester von dem Sohne aufs neue die Opfergaben und das Essen für den Toten auf einen Tisch gestellt, ein ganzes geschlachtetes Schwein, ein Hahn, ein Schnapskrug, Brote mit Gemüsefüllung und Süßigkeiten. Der Tee und der Schnaps wurden auf ihre Anweisung später auf den Boden ausgegossen.

Es würde zu weit führen, wollte ich an dieser Stelle den genauen Hergang der dreitägigen und umständlichen Totenfeier erzählen. Die Bestattungen sind sich ja in den verschiedenen Teilen des Chinareichs in ihren Hauptzügen sehr ähnlich. Die eine der Seelen des Verstorbenen wurde von dem Priester in ein etwa 1/2 m langes und ganz schmales Holzstück gebannt und dann der Sarg geschlossen. Eine Menge Leute, Bekannte und Unbekannte, erschienen und machten vor dem Sarg ihren Ko tou, währenddessen Laienmusiker mit einsaitigen Fiedeln und kleinen Trompeten einen anderen, womöglich noch kläglicheren Spektakel verursachten. Beim Ko tou eines jeden Kondolierenden mußten die Familienangehörigen, welche die ganze Zeit über barfuß in Sandalen und in ihren weißen und rohen, aus Sackleinwand verfertigten Trauerkleidern und Trauerhüten links und rechts vom Sarge knieten, mit einem Ko tou danken und mit ihrer Stirne den Boden berühren. Jeder, der sein Beileid durch den Ko tou und durch eine kleine Weihgabe bezeigt hatte, bekam sodann ein Essen mit Schnaps von den Hinterbliebenen gereicht, und Gottes- oder vielmehr Geisterdienst, Ko tou, Laienmusik und Abspeisung, alles spielte sich in demselben Hof vor meiner Zimmertüre ab. Alle Bettler der Straße, selbst die Sträflinge aus dem Ya men mit ihren schweren eisernen Ketten und Stangen und breitem, kragenartigem Holzkang Der Kang, chinesisch Kia (volkstümlich in Kansu dia-dia genannt), ist das etwa 20 Pfund schwere Holz von rechteckiger Form mit etwa 60 cm Seitenlänge, durch das der Kopf eines Verurteilten gesteckt wird. Es wird von den Chinesen weniger als Strafe, denn als Schande gefürchtet und wird vor allem bei kleinen Diebstählen angewendet. Die Verurteilung geschieht auf ein bis zwei Monate, und zwar darf dieser spanische Kragen oft auch bei Nacht nicht abgelegt werden. Der dazu Verurteilte kann aber damit spazieren gehen, sofern er dazu Lust hat und einen Bürgen besitzt oder Grundbesitzer ist.] kamen dazu in den Hof, machten ihren Ko tou und bekamen zum Dank ihr Essen gereicht.

Die Leichenfeier kostete dadurch die Familie viel mehr, als sie an Bargeld besaß. Es nahm mich darum auch nicht wunder, daß mich der Sohn des Toten gleich am ersten Tag nach dem Ableben seines Vaters um ein kleines Darlehen und um Vorschuß auf die Hausmiete anpumpte.

 

Am 10. März begann ich mit den neuen Vorbereitungen für die Sommerkampagne. Jetzt fing eigentlich erst meine große Reise an, jetzt sollte es für lange Zeit ins »Tsʿao ti« gehen, in das große »Grasland«, wie man in Hsi ning allgemein Tibet und seine unendlichen Hochsteppen nennt. Wieder gab es für mich zunächst ein tagelanges Feilschen mit Getreide- und Erbsenhändlern, mit Müllern und Makkaronibäckern. Ich kaufte Lebensmittel, Tauschartikel, Geräte und Werkzeuge ein, die mir und zehn Begleitern ein ganzes Jahr ausreichen sollten.

Mein Hof, in dem die Maultiere und Pferde angepflöckt standen, glich in diesen Tagen einem kleinen Feldlager. Sattler und Zeltmacher, Schuster, Schreiner und Schmiede hatten um mich her ihre Werkstatt aufgeschlagen. Meine ganze Karawane wurde so ausstaffiert, daß sie sich in nichts von einer gewöhnlichen Tibetkarawane unterschied. Nirgends durfte ein Fleckchen Europa heraussehen. Dem mißtrauischsten Tibeterauge sollte auch nicht das kleinste Fremdartige daran auffallen.

Ich hatte hauptsächlich der Kosten wegen beschlossen, als Tragtiere für die Lebensmittel Yakochsen zu verwenden. Diese tragen wohl sehr wenig, gehen sehr langsam und machen nur kleine Märsche pro Tag, aber ihr Anschaffungspreis ist geringer, und sie verlangen viel weniger Pflege und Bedienung als Pferde. Und wollte ich denn nicht die Gegenden langsam durchreisen, um sie genau kennenzulernen? Die Yak sind die ureigensten Lasttiere Tibets. Sie sind an seine mageren, nur kurz stehenden Weiden gewöhnt, und jeder Eingeborene, der auf größere Strecken Lasten durch Tibet zu befördern hat, bedient sich ihrer.

Es war das dritte Mal, daß ich eine Reise nach Tibet vorbereitete. Nach den auf diesen Reisen gemachten Erfahrungen war es mir klar, daß im östlichen Tibet vor allem eine gute chinesische Empfehlung not tat. In vielen Gebieten wirkt ein Paß der chinesischen Behörden Wunder. In anderen, mehr abgelegenen, bürgt eine nicht zu schwache und gutbewaffnete Soldateneskorte für ein sicheres Durchkommen. Ich richtete deshalb bei meinen Reisevorbereitungen noch ein Hauptaugenmerk auf die Verhandlungen mit den chinesischen Regierungsvertretern, hatte aber hierbei ganz besondere Schwierigkeiten zu überwinden. Es gelang mir aber endlich, von dem Amban ein gestempeltes Schreiben zu bekommen, in dem in chinesischer, mongolischer und tibetischer Sprache alle Häuptlinge, Äbte und Priester Tibets vom Amban aufgefordert wurden, mich und meine Leute in keiner Weise zu belästigen und ungehindert überall durchziehen zu lassen. Selbst der Weg nach Lhasa stand mir dadurch offen. Allein vom ersten Augenblick an war ich auch in Sorge, mein Schatz, der Paß, könnte mir weggenommen werden.

Ich drängte jetzt zum baldigen Abmarsch, und ich brach auf, als mir noch die Mitteilung zugegangen war, daß die Soldateneskorte, die mir der Amban versprochen hatte, an die Grenze nachgeschickt werde.

Jetzt galt es für mich, die Erforschung des Hoang ho innerhalb Tibets zu Ende zu führen und dann immer weiter durch unerforschte Gebiete, durch die breiten weißen Flecke, die unsere Karten in Tibet zierten, nach Südosten vorzudringen, bis mir durch die Unduldsamkeit der Lhasaregierung halt geboten würde, oder bis ich das Tal des Brahmaputra erreicht hätte.

Ich zog von Hsi ning fu das südlichste von den drei Tälern, die dicht vor dem Westtor der Stadt zusammenlaufen, aufwärts und nächtigte am ersten Abend in Schang hsin tschuan (zu deutsch etwa Oberneudorf), einem kleinen Lößort mit einem Bu tse, d. h. einem Fort, aus Lehm gebaut, und einer kleinen Garnison. Es ist zur Hälfte noch von Chinesen, zur anderen Hälfte bereits von Tu fan, d. h. ackerbautreibenden Tibetern, bewohnt und liegt wenige Kilometer südlich von dem meinen Lesern schon aus Kapitel VI bekannten Kloster Gum bum. Hier endet der Löß, und hier endet auch der chinesische Karrenweg. Von hier an kommt man nur mit Tragtieren weiter.

Gleich hinter diesem Ort passierten wir bei Sonnenaufgang am folgenden Tage einen niederen Wall und ein kleines Wachhaus mit einigen zerlumpten Soldaten und überschritten damit die Landesgrenze der fleißigsten Ackerbauern unseres Planeten, die Grenze des Landes der Mitte, und zogen in das Reich der Steppen und Gebirge ein. Hier beginnt also Tibet.

Schon hinter dem Mäuerchen schien alles Land unbebaut, wild und herrenlos zu sein. Um die Mittagszeit kletterte meine Karawane an dem steilen und schmalen Paßweg des La tsche-Gebirges, des Lao ye schan, wie die Chinesen sagen, in einer Höhe von über 3800 m. Der Weg über diesen Paß war schlecht. Die Tiere keuchten jammerwürdig unter ihren Lasten, und wir kamen nur ganz langsam vom Fleck. Jeden Augenblick stockten die Armen, um nach Atem zu ringen. Ruckweise nur war der Fortschritt.

Ich hatte für die ersten Marschtage noch beinahe drei Dutzend Maultiere zu meinen eigenen Tieren dazugemietet; so bot sich meinem Auge eine imponierende Linie, die den Steilhang emporkletterte. Wie ein riesiger Wurm, der sich mühselig windet und verzweifelt bald nach rechts, bald nach links krümmt, der sich zusammenzieht und wieder ausdehnt, der aber doch vorwärts kommt und unentwegt einem Ziele zustrebt, so schob sich die Karawane gegen den Paß zu. Mit viel Geschrei, unter dem nicht endenwollenden »āoāoāo« der chinesischen Treiber kamen wir endlich durch eine enge Felsscharte am schmalen Felsgrat oben an, und im Süden ging's von dort gleich wieder, aber nur noch viel steiler als am Nordhang, in Serpentinen hinab in ein enges Felstal.

Gerade als es zu dämmern anfing, kamen wir müde und hungrig in I tsʿa sche an. Dies ist ein weiterer vorgeschobener chinesischer Unteroffiziersposten, unter dessen Schutz Mohammedaner ansässig geworden sind. Im ganzen wohnen hier etwa siebenzig Familien. Von I tsʿa sche aus zieht sich ein vielbenutzter Yakweg hoch über dem linken Hoang ho-Ufer nach Westen in die tibetische Steppe hinein. In I tsʿa sche wollte ich von den Annehmlichkeiten und großen Vorzügen Chinas, von der »Kultur«, endgültig Abschied nehmen, hier wollte ich in das »Land der Räuber« eintreten.

Während vor mir schon zwei europäische Reisende über den Lao ye schan gezogen waren, nach I tsʿa sche und über dieses kleine Nest hinaus war noch keiner gekommen.

Krethi und Plethi von I tsʿa sche liefen zusammen, während die Tiere in dem hoch ummauerten Hof eines Wollehändlers abgeladen und bei dem unsicheren Licht der chinesischen Papierlaternen in langen Reihen angepflöckt wurden. Jeder, der mich begrüßte, kam freudig lächelnd – wie immer in Ostasien, wenn einem etwas besonders Unangenehmes gesagt wird – und machte mir die Mitteilung, daß es auf dem Wege nach Westen zurzeit von Räubern ganz besonders wimmle, und daß dort keine Yak zu haben seien, weil die Nomaden diese Gegend verlassen hätten, nachdem eine Rinderseuche unter ihren Herden ausgebrochen sei.

Eine noch unangenehmere Nachricht war kaum zu denken. Hungrig mußten meine armen Ochsen die Nacht verbringen, und vor Sonnenaufgang sandte ich sie, noch ehe sie einen Grasbüschel in den Mund bekamen, zurück zum Lao ye schan, um sie dort einstweilen grasen zu lassen. Ich selbst aber trabte eilig in die Tibetersteppe, um mich persönlich vom Stand der Dinge zu überzeugen. Und die traurige Wahrheit lag dort nur allzu offen am Wege. Ich war noch keine Stunde weit geritten, da gab es links und rechts von Geiern abgenagte und angefaulte Rinderkadaver, und nirgends, soweit ich auch ritt, tauchten die schwarzen Zelte der tibetischen Nomaden auf. Nur verlassene Kochherde, mächtige Dunghaufen, die alte Weideplätze bezeichneten, und Hunderte von Tierleichen ließen erkennen, daß das Land ein nicht immer völlig ungenutztes Gut darstellte.

So war ich genötigt, von Kue de aus meine Hoang ho-Reise anzutreten. Ein langer Marsch durch eine enge und geröllerfüllte, wüstenhafte, menschenleere Schlucht brachte mich mit meinen Maultieren und Pferden von I tsʿa sche nach dem Ufer des Hoang ho. Es galt zunächst auszukundschaften, ob der Weg über Kue de möglich sei, deshalb blieben die Ochsen am Lao ye schan zurück. Kahl und steinig wie die Schlucht war auch das Tal des großen Flusses selbst, das wir noch einige Stunden lang aufwärts zogen. Die Straße war menschenleer. Ich begegnete wenigen Reitern, alle mit Gewehren und Lanzen und mit kriegerischen Mienen. Auch die rechte Flußseite ist wüstenhaft. Ein Kloster in dieser Wüste ist berühmt, weil sein Buddhabild beständig größer wird. Tschʿang fo se, das Kloster des wachsenden Buddha, nennen es die gläubigen Umwohner. Gegen Abend tauchte drüben auf dem rechten Hoang ho-Ufer eine dichtstehende Baumgruppe auf. Von Süden her mündeten da einige größere Täler, die am Ufer eine grüne Oase hervorzauberten. Aber von dort trennte uns noch ein langwieriges Ein- und Ausbooten und die Fahrt über den 200 m, im Sommer bis zu 600 m breiten Hoang ho. Weit hinab reißt der Strom jedesmal das schwere, ungefüge Fährboot. Es war darum wiederum spät geworden, bis ich die schützenden Mauern der Stadt Kue de erreichte.

Diese Stadt ist der zurzeit am weitesten nach Nordtibet hineingeschobene Chinesenposten, der letzte von Chinesen bewohnte Ort am Hoang ho, ja überhaupt der letzte Ort an diesem Fluß, und ist besonders stark von der Regierung befestigt worden. Ringsherum wohnen Tibeter, teils solche, die Ackerbau treiben, teils, und zwar im Süden und Westen, Nomaden. Die Stadt Kue de liegt nur 2310 m hoch. Sie ist unter all den Grenzstädten des ganzen Fu, d. h. der Präfektur von Hsi ning, zu der sie gehört, die wärmste; aber gleich westlich der Stadt, oberhalb einiger Inseln, durchströmt der Hoang ho eine enge Schlucht, die sich der Fluß mit steilen Ufern in eine um 250 m höhere Terrasse eingerissen hat. Auf dieser Terrasse ist nirgends mehr ein kleines Feld, nirgends ein Haus. So ist Kue de eine Oase inmitten von wilden kahlen Bergen. Beim Verlassen des Hsi ning-Tales lag noch kaum ein grünlicher Hauch auf den zahlreichen Weiden und Pappeln, in Kue de hoben sich kokette Pfirsichblüten aus dem knospenden Grün der Birnbaumgärten und der keimenden Weizenfelder.

Ein 10 m hoher Erdwall mit rechteckigem Grundriß, mit ganz wenigen Toren, durch die ein Reiter gerade noch – d. h. wenn er sich bückt – durchreiten kann, zeigt uns hier ganz das Bild eines der alten römischen Grenzlager am einstigen Limes germanicus. Der Wall umschließt die Amtsgebäude und die hauptsächlichsten Heiligtümer der chinesischen Schutzpatrone, daneben noch einige Dutzend elende Chinesenschuppen, in denen die Soldaten und Beamten mit ihren Familien wohnen. Auf dem Stadtwalle sah ich große Haufen faustgroßer Steine, die zur Verteidigung herbeigeschleppt worden waren. Das eigentliche Leben und Treiben der Stadt, Kauf und Verkauf, vollzieht sich vor dem Südtor. Dort sind mehrere Straßenzüge, an denen Tibeter, Mongolen, Mohammedaner und auch chinesische Handelsleute ihre Geschäftsräume und ihre Wohnungen haben. Man trifft dort äußerst malerische Bilder. Zahlreiche Lamas lungern tagsüber in ihrer kleidsamen Tracht um die offenen Buden herum, den Oberrock ihrer Gewandung wie die Toga eines alten Römers über die Schulter geschlagen und gelangweilt an ihren Rosenkränzen nestelnd. Trotzig aussehende tibetische Reiter, die lange Flinte mit der meterlangen Auflegegabel auf dem Rücken, durchziehen auf stämmigen Ponys die Straßen, oft vom Sattel aus und herrisch mit den Ladenbesitzern feilschend. Auch diese äußere oder Vorstadt ist von einer Erdmauer mit Toren umgeben, denn die Sicherheit ist in Kue de gar nicht groß. Ein kleiner Raub oder ein Diebstählchen gehört trotz der Kleinheit des Ortes – es sind im ganzen nur etwa vierhundert Familien (2–3000 Einwohner) ansässig – zur Tagesordnung. Die Verhältnisse zeigt wohl am besten ein Fall, der sich gerade während meines dortigen Aufenthaltes zutrug. Ein tibetischer Junker, ein Häuptlingssohn, von einem der Lutsâng-Stämme im Süden der Stadt, hatte einem chinesischen Kaufmann ein Pferd verkauft. Kaum aber war der Handel abgeschlossen, so wurde ruchbar, daß der Tibeter das Pferd bei einem Nachbarstamm gestohlen hatte. Um nun nicht als gemeiner Dieb, sondern als Grandseigneur dazustehen, der einen solch fatalen Vorwurf nicht auf sich sitzen läßt, auch damit er nicht politische Schwierigkeiten für den ganzen Stamm heraufbeschwöre, war unser Tibeter gezwungen, das gestohlene Pferd dem früheren Eigentümer, einem Tibeter, zurückzubringen. Denn wie schon bei uns in der Raubritterzeit, so hält man auch überall in Tibet auf gute Sitte und guten Ruf. Der junge Mann geht also zum Chinesen, um das Tier zurückzukaufen. In seiner Not bietet er jenem sogar etwas mehr, als er bekommen. Der Chinese aber ist unerbittlich. Er will den Handel unter keinen Umständen rückgängig machen. Allzuviel freilich kann ihm der Tibeter auch nicht bieten, denn dieser hatte das Pferd nur geraubt, um seine Finanzen etwas zu verbessern. Wie hilft sich in solcher Not ein Tibeter? Als der Chinese am Tag darauf sein Pferd aus dem Stall führt, rennt ihn der Tibeter über den Haufen, schwingt sich auf das Tier und verschwindet auf Nimmerwiedersehen in die Steppe. Seine Freunde bringen das Tier dem Besitzer, dem es zuerst geraubt war. Die Ehre ist gerettet. Ein Chinese zählt hier nicht.

Mein erster Gang am Morgen nach unserer Ankunft galt dem Ör fu, dem Ting, im Innern der Stadt. Am Tor seines Ya mens wurde ich mit Böllerschüssen empfangen.

Ich wurde in denselben Raum geführt, in dem das Jahr zuvor der »Krieg von Kue de« begonnen hatte. Auf derselben breiten Bank, auf demselben, mit einem schäbigen roten Baumwollstoff überzogenen Kissen wie ich saß damals Seine Buddhistische Heiligkeit, der gefürchtete tibetische Lama, die Inkarnation vom sogenannten schwarzen Kloster, süße falsche Worte mit dem damaligen Ting von Kue de wechselnd. Er war auf die Bitte des Chinesen gekommen, um sich vor einer größeren Reise, die er anzutreten im Begriff war, als Freund zu verabschieden und hatte eben einen großen Yüan bau, ein etwa 2 kg schweres Silberstück, aus den Händen des Ting erhalten, um für ihn in Lhasa Weihrauch und indische Datteln kaufen zu lassen. Seine Begleiter, etwa 300 Bewaffnete, erwarteten ihn draußen in der Ebene vor der Stadt. Stundenlang redeten die beiden hin und her. Der Chinese wollte den Tibeter auch zum Essen dabehalten. Das Kaufgeschäft, die süßen Worte, die Einladung, all das war aber nur Schein und Trug.

Der heilige Lama war bekannt als das Haupt eines Räuberstammes, der den armen Städtern das Leben verleidete. Unterhalb von Kue de, rechts vom Hoang ho, hinter hohen steilen Bergen, in Schluchten, wohin man nur auf schmalen Pfaden, nur im Gänsemarsch gelangen kann, hatten seine Leute ihr Stammland. Von dort aus hielten sie einen weiten Umkreis in eitel Schrecken. Niemand konnte mehr friedlich über Land reisen. Die größten Karawanen wurden ausgeraubt. Die Stadt war nahe daran, von ihren Bewohnern aufgegeben zu werden. Der Handel, der ganze Wert der Stadt, war vernichtet. Dicht vor den Toren wurden den Chinesen vom Pfluge weg die Ochsen und Esel fortgetrieben. Wer Miene machte, Widerstand zu leisten, wurde erschossen. Da hatte endlich 1905 ein junger, neu eingetroffener Ting den Mut, die Interessen seiner Untergebenen zu verteidigen. Er erlangte auf seine Berichte von der Zentralregierung die Vollmacht, die Inkarnation zur Verantwortung zu ziehen. Er lud den hohen Lama in sein Haus. Und als jener schon ein paar Tage vorher sein Erscheinen angesagt hatte, da galoppierte ein Eilbote nach dem anderen nach Hsi ning mit der Bitte um weitere Vollmachten. Der Ting bat, den Lama festnehmen zu dürfen. Er bat um Truppen. Aber tagelang blieb die Antwort aus. Dem Amban fehlte der Mut, die Verantwortung zu übernehmen. Er neigte eher noch auf die Seite der Tibeter. Der Ting sandte nach Lan tschou fu, er telegraphierte von dort aus nach Peking um genaueste Verhaltungsmaßregeln. Auf dem erbärmlichen Pfad nach Lau tschou braucht aber ein Reiter, auch wenn er zehnmal frische Pferde nehmen kann, immerhin zwei Tage. Da konnte der Ting also lange warten. Mittlerweile war alles vorbereitet. Insgeheim waren seine Leute bewaffnet, die Tore besetzt worden. Es wäre aber wohl trotzdem nicht zum Losschlagen gekommen, hätte nicht der Bruder des Lama, der im Ya men-Hofe wartete, Verdacht geschöpft, wäre es diesem nicht gelungen, in den Gästeraum zu gelangen und seinem Bruder zuzurufen, er sei in eine Falle gelockt worden, er solle fliehen. Blitzschnell hatte die Inkarnation die Lage erfaßt. Mit dem großen Silberstück, das er noch in Händen hielt, schlug er den Ting nieder und suchte seinem Bruder nach den Eingang zu gewinnen. Nun ist es in China allgemein Sitte, daß bei Besuchen die Ya men-Aufwärter an der Tür stehen. Diese, zehn Mann hoch, verlegten dem Heiligen den Weg und suchten ihn zu knebeln. Es war ein Riesenmann, prächtig, muskulös, göttergleich gewachsen – so sagten mir alle meine Gewährsmänner. Nur mit dem Silberstück bewaffnet, warf er die von Opium und Nichtstun kraftlosen Knechte auf die Seite, und sicherlich wäre er auch entkommen, hätte nicht der Ting einen kleinen Revolver in seinen Kleidern verborgen gehabt und damit, außer sich über die erlittene Schmach, auf den heiligen Lama geschossen. Am gleichen Abend noch starb die Inkarnation im Hofe des Ya men an der Verwundung.

In der allgemeinen Verwirrung war es dem Bruder gelungen, aus der Stadt hinauszukommen und seinem Stamm Kunde von den Vorgängen im Ya men zu bringen. Wie ein Bienenvolk, dem man die Königin nimmt, so wütend fuhren die Leute auf, hatte man ihnen doch ihr Höchstes, ihre Heiligeninkarnation, ihren Gott, getötet. An einen Sturm auf die Stadt konnten sie freilich nicht denken. Eine chinesische Lehmburg zu nehmen, war noch immer eine mißliche Sache für einen Reiterstamm. So zogen sie sich nach einigen wilden Kundgebungen in ihre Berge zurück, um dort erst recht den Krieg vorzubereiten, Pulver zu reiben, Kugeln zu gießen. Weithin waren die Büchsenmacher dieses Stammes berühmt. Selbst an die Nachahmungen unserer modernen Gewehre hatten sich einzelne Meister gewagt. Ein Glück war es für die Chinesen, daß jene nur ganz wenig Stahl einhandeln konnten.

Der Krieg hat im Anfang ziemlich viel Blut gekostet. Kurz nach der Ermordung des Lama fiel eine chinesische Soldatenabteilung, die von Hsi ning fu über den Lao ye schan nach Kue de marschierte, in einen Hinterhalt und verlor dreißig Tote. Zu einer großen Schlacht freilich ist es nie gekommen. Der Ausgang des Krieges war, daß die Kanonen von Lan tschou geholt wurden, und daß schließlich die Tibeter wenige Monate vor meinem Besuch ohne größeres Blutvergießen von den chinesischen Unterhändlern niederdebattiert wurden.

Der gute, tatkräftige Ting aber wurde natürlich sofort abberufen, verlor sein Amt und auch seine Würden, weil er nicht den ganzen Krieg zahlen konnte. Ich sah den jungen, frischen und intelligenten Mann nach einigen Jahren noch in Lan tschou immer geduldig, aber nicht sehr hoffnungsvoll wartend, daß er den langen Zivilprozeß gegen seine Vorgesetzten gewinnen werde. Wenn Ru dalao ye aber wieder einen Posten kriegen sollte, hilft er sicher nicht ein zweites Mal dem unterdrückten Volke! Was für mich das Typische bei der ganzen Sache war, in Kue de sprachen Ladenbesitzer, mein Wirt und viele Bauern mit den höchsten Lobeserhebungen von dem Ting Ru als ihrem Retter, aber keiner rührte für den Entehrten eine Hand. Wenn man in Altchina nicht sehr viel Geld hatte, durfte man nicht tatkräftig sein. Man mußte streng auf das »Wuwei« achten, d. h. sich nicht rührig zeigen, und mußte die Dinge an sich herantreten lassen.

Die Sonne war am Tage darauf noch nicht aufgegangen, da ritt ich mit zwei in Kue de neu gemieteten Dienern zum Tore hinaus, um für die Karawane noch Yakochsen einzukaufen.

Wir waren alle drei gut beritten und hatten noch ein kleines lebhaftes Maultier mit, das ein paar Decken, einen Teekessel, einen Blasebalg, etwas Tsambamehl und Reis und vor allem Erbsen als Futter für die Pferde zu tragen hatte. Der eine meiner zwei Begleiter sprach nur Tibetisch. Er hatte sich aber den Chinesennamen Me zugelegt. Im Tibetischen hieß er Tschaschi. Er war früher viele Jahre lang Lama gewesen, hatte aber dann das Eheleben mit einem streitsüchtigen Weibe der klösterlichen Beschaulichkeit vorgezogen. Den Rest der Summe von 80 Tael, die er für seine Untreue dem Kloster als Entschädigung oder Strafe – wie man dies nennen mag – zu bezahlen hatte, hoffte er sich in meinen Diensten zu ersparen. Der zweite hieß Tschʿeng. Er war aus Dankar gebürtig, sein Vater war Vollblutchinese, seine Mutter Tibeterin. Er war Schuster seines Zeichens und von Jugend auf erst als Lehrjunge, dann als selbständiger Meister kreuz und quer bei den tibetischen Nomaden herumgekommen, und zwar auf einem Umkreis wie Basel, Berlin und Wien. Jetzt war er, ein guter Dreißiger, verlobt und gedachte den Rest des Kaufpreises, den er seinem Schwiegervater für seine Braut zu zahlen hatte, durch den Gehalt, den ich ihm gab, wettzumachen.

Mit dem Yakkauf wollte ich noch eine wichtige Probe verbinden: Ich wollte wissen, wie sich mein Inkognito mache. Ich trug jetzt tibetisches Kostüm, war glattrasiert, hatte Gesicht und Hals braun gefärbt und auf dem Haupt eine Perücke mit einem Zopf, den ich nach Landessitte um den Kopf gewickelt und halb von einer mächtigen Fuchspelzmütze verdeckt trug. Es war diese Verkleidung eine Bedingung meiner Begleiter, denn, sagten sie, wenn wir Chinesen in die Steppen ziehen, kleiden wir uns ja auch immer wie die Fan tse.

Bei einem alten Klosterabte, der an der Spitze einer etwa dreißigköpfigen Klostergemeinde stand, machten wir eine Frühstückspause. Ein klug aussehender rundlicher Herr, in dunkelrotem Gewand wie die übrigen Priester, empfing uns und nahm mit herablassender Gebärde ein Geschenk an, bestehend aus einem Khádar und zwei Messern, gab uns dafür seinen Segen durch Handauflegen und ließ uns Tee reichen.

Mit diesem Klosterabte hatte es seine ganz besondere Bewandtnis. Er galt landauf, landab für eine Heiligeninkarnation, und zwar war er auf folgende Weise dazugekommen. Als sein Vorgänger im Amte, ein frommer und gelehrter Theologe, vor etwa dreißig Jahren starb, war er ein jung ordinierter Mönch, der von dem Kloster in eine kleine Filiale als erster Seelenbesorger – er hatte sich schon durch seine Kenntnisse einen gewissen Namen gemacht – zu einer Bestattungsfeierlichkeit, der Beruhigung der Seele eines Abgeschiedenen, abgesandt worden war. Mitten in den Gebetsübungen brach der junge Mönch plötzlich bewußtlos zusammen, und als er wieder zu sich kam, redete er viel klüger wie zuvor, wußte um die geheimsten Klosterangelegenheiten und erklärte, er sei nicht mehr der frühere Mönch, sondern in seinen Körper sei jetzt die Seele des alten Abtes gefahren. Kurz darauf kam die Nachricht, der frühere Klosterabt sei eines plötzlichen Todes gestorben. Da gab es keinen Zweifel mehr, die übrigen Mönche und das Volk fielen vor ihm nieder und begrüßten ihn als Wiedergeborenen, als Heiligen, und seither sitzt der Schlaukopf als Gott in seinem Tempel und besucht jedes Frühjahr, wenn es warm wird, die umliegenden Tibeterhorden in ihren Zelten und läßt sich seinen klugen Einfall reichlich mit »bu se«, mit Zehnten, mit Schafen und Ochsen, bezahlen. Und nicht bloß er, sondern auch das ganze Kloster Dschomo gomba (Dia mo se) erfreut sich seither großen Zulaufes und Reichtums. Nur ein Kloster mit einer Inkarnation rentiert sich eben in Tibet.

Nach dem Frühstück bei dem Abte ging es steil den kahlen Talhang hinauf, und nachdem wir noch eine zweite Schlucht gequert hatten, waren wir bald, nach Westen reitend, auf eine wellige Terrassenoberfläche gekommen. Nicht 10 km von unserem Wege floß der Hoang ho. Man konnte den Lauf seiner Schlucht aber nur ganz ungefähr erkennen, so steil und eng ist der große Fluß in die Terrasse eingeschnitten.

In diesem grasbedeckten Hochland, in flachen Mulden, trafen wir am Nachmittag die Zeltlager der Tsʿaner-Tibeter. Mein Schuhmachermeister hatte hier vor vielen Jahren ein Paar seiner vierschrötigen Kunstwerke geschaffen und war darum mit den Leuten einigermaßen bekannt. Wir fragten also gleich nach dem Namen eines der Häuptlinge und wurden nach einigen Irrfahrten und nach umständlichen: Wer seid ihr? Woher des Wegs und wohin? Warum und wieso? schließlich auf eine kleine Bodenwelle aufmerksam gemacht, hinter der vier der schwarzen Zelte im Windschutz an einem flach nach Süden geböschten Hange standen. In respektvoller Entfernung davon stiegen wir ab, führten die Pferde hinter uns, damit diese mit ihrer erleichterten Hinterhand uns den Rücken gegen die wilde, auf uns anstürmende Meute decken sollten. Nach vorne machten wir die landesüblichen Schwertdeckungen, ohne die wir uns die sich wie rasend gebärdenden Hunde kaum hätten vom Leibe halten können. Endlich hatte man uns bemerkt und befreite uns. Man nahm uns sogleich freundlich auf und führte uns in das schönste der vier Zelte, das etwa ein Ausmaß von 6 auf 10 m hatte. Die Frauen schürten das Herdfeuer, machten uns Buttertee mit Salz und mit einer Handvoll Tschürra (dem getrockneten Käsequark). Wir sprachen lange vom Wetter und Wind, und daß es nun bald Frühling würde, schließlich fragten wir, ob sie vielleicht Pferde und Schafe zu verkaufen hätten, und als die Herden am Abend zwischen die Zelte getrieben wurden, fragten wir auch nach den Preisen für Yakochsen.

Der Tibeter ist kein Freund von rasch abgewickelten Handelsgeschäften. Hat er mal einen Händler bei sich in seinem Zelt, so will er auch sonst noch etwas von ihm haben. Er soll ihm Zeitung bringen von der Welt draußen. Der Tibeter, vor allem der Nomade, ist in seiner Art ein kluger und heller Kopf, liebt über alles Scherzworte und Gesang, sucht alles ihm Neue zu ergründen. Er ist, wohl infolge seiner Pilgerfahrten und des nomadisierenden Lebens, mit nichten so abgestumpft und dumm, wie ihn viele Reisende hinstellen wollen. Er ist nicht so schwerfällig wie der chinesische Bauer. Vom ersten Augenblick an war auch ich den Leuten ein interessantes und anziehendes Objekt.

»Wer ist denn der mit der sonderbar dünnen und langen Nase, den ihr da mit euch habt?« meinte einer zu meinem Me.

»Oh, der ist von ganz weit hinter Peking her, dort sehen unsere Leute alle so aus«, log Me ohne Zögern und seiner Vorschrift gemäß.

»Komisch und abschreckend häßlich sind doch diese Leute von dort hinten!«

Ich wurde hierauf aufgefordert, von Peking zu erzählen und von den Klöstern und Heiligen hinter Peking, von unseren heiligen Bäumen und Quellen, die die Kranken gesund machen. Kam die Rede auf Nichtchinesen, so sprach man von ihnen immer so, als ob sie auf irgend einer kleinen Insel hinten, wo die Welt aufhört, wohnten – so hörten die Tibeter eben von den Chinesen –, und ich tat so, als hätte ich kaum einen von Angesicht zu Angesicht gesehen.

Wir blieben zwei Nächte in dem Zelt des Häuptlings der Tsʿaner-Tibeter. Am ersten Abend war es sehr lustig. Da der Häuptling nach einem reichlichen Mahle, bestehend aus gesottenen breiten Nudeln und einem gleichfalls gesottenen Hammel, noch etwas Schnaps herumreichen ließ, so klangen bald allerhand Gesänge in die Nacht hinaus, Liebeslieder und Erinnerungen an die Kämpfe zwischen Tibetern und Mongolen.

Es war eine kalte Frühlingsnacht. Man drängte sich gerne eng um den Herd und um einen von einem kleinen Lehmwällchen eingefaßten Fleck auf der Erde, auf dem glühender Schafdung ausgebreitet wurde, um die Wärme möglichst vielen von uns zugut kommen zu lassen. Die Tibeter hockten mit nacktem Oberkörper herum, sie hatten ihren Pelzrock, ihr einziges Gewand, von den Schultern gleiten lassen, um so recht intensiv die Glut auf ihre Haut wirken zu lassen. Auf der Seite des Feuers war es mollig, den Rücken aber erkältete uns ein steifer Steppenwind, der durch die groben Maschen des schwarzen Yakhaarzeltes beinahe ungehindert hindurchpfiff. Langsam wogten die Zeltwände auf und ab. Auf dem Boden lagen ringsumher Pferde- und Ochsensättel, Ledersäcke und Pelze. Dort im Zelthintergrund hingen verrußte Gebetwimpel und schmierige Haare von Herdentieren. Man will dadurch den Schutz der Götter auch für die Tiere herabflehen. In dieser Umgebung die dünnen Glieder der halbnackten, tiefgebräunten Männer mit den großen, silbernen Ohrringen im linken Ohrläppchen, ihren langen, dünnen, schwarzen Mongolenzöpfen, die vielen großen Amulettbüchsen am Hals, und über dem Herd drüben die stämmigen Schultern und kräftigen Arme der Nomadenfrauen mit schweren und klappernden Rückenbehängen, die mit tassengroßen, massiv silbernen Schalen, mit faustgroßen Bernsteinstücken und Meermuscheln benäht waren, das wilde Gastmahl, bei dem jeder die größten Fleischstücke sich in den Mund schob und das Allzuviel dicht vor seiner platten Nase mit einem langen Messer abschnitt, und all dies nur beleuchtet von einem bald bloß düster züngelnden, bald plötzlich hell aufflackernden Herdfeuer: dies gab ein Bild, um das mich mancher Leser beneiden wird. Ich glaubte mich in die Urzeit Deutschlands, in die schlimmsten Zeiten der Hunnen- und Mongoleneinfälle zurückversetzt. Kein Wunder, zitterten unsere Urväter beim Anblick der unwirschen Barbaren, die so plötzlich auf sie losstürmten. Was für eine starke Hand brauchte es doch, was für lockende Raubideen, daß solche Kerls zu einem gemeinsamen Zug vereinigt werden konnten und die unwiderstehlichen Heeresmassen zusammenkamen, deren Pfeilregen unseren Rittern die Sonne zu verdunkeln drohte! Es ist ein Glück für die Welt, daß die Tibeter nur wenige große Herrscher hervorgebracht haben, und daß sie seit mehr denn tausend Jahren politisch völlig zersplittert sind. Solange in Tibet ein tibetischer Staat existiert hat, im 8. und bis in das 9. Jahrhundert hinein, waren die Tibeter die furchtbarste Geißel für die ganze Nachbarschaft. Haben sie doch sogar 763 die Residenzstadt Hsi ngan fu überrumpelt und ausgeplündert. Dank der chinesischen Diplomatie sind jetzt die einzelnen Stämme getrennt und machen darum wenig Schaden. Ihre Häuptlinge haben heute nur geringen Einfluß. Sie haben die größte Mühe, die vielen zentrifugalen Kräfte zusammenzuhalten. Die zunehmende Zersplitterung in winzige Gemeinden hält immer noch an. Jede Zeltvereinigung lebt in fortwährender Angst und Kriegsbereitschaft, denkt jederzeit an die Möglichkeit eines räuberischen Überfalls. Auch mitten in unserem Schmause entstand für einige Augenblicke wildeste Aufregung, als plötzlich die Hunde – die vier Zelte hatten im ganzen etwa 15–20 Stück – wütend anschlugen und in die Finsternis hinausstürmten. Ohne ein Wort zu verlieren, griff jedermann zu den Waffen, die langen Lanzen wurden vom Zelteingang genommen, einige entzündeten die Lunten ihrer Flinten. Zum Glück waren es aber nur Nachbarn von einigen Zelten in etwa 3 km Entfernung, die uns störten und sich noch um diese ungewohnte Stunde nach dem Begehr der fremden Händler erkundigen wollten.

Bis wir an jenem Abend zur Ruhe kamen, war es spät geworden. Die Gastabteilung, vom Eingang gesehen rechter Hand vom Herd, wurde uns und einem Akka Die gebräuchlichste Bezeichnung für einen lamaistischen Priester in Nordtibet. für die Nacht überlassen. Dort breitete uns noch der Hausherr einige Filzdecken auf den Boden und überzeugte sich hierbei, daß wir nicht etwa die Füße gegen die Zeltrückwand streckten, wo die Götterbilder standen und Gebetbücher in einer Kiste verpackt lagen. Es wäre dies eine schwere Beleidigung für die Götter gewesen, die diese sicher nicht ungerächt an der Familie hätten vorbeigehen lassen. Bei chinesischen Gästen passen die Tibeter immer genau auf solche Sachen auf, denn die Chinesen sind ihnen bekannt für ihre Laxheit in religiösen Dingen.

Der Akka sagte mittlerweile noch die lange Bitte an die Dschoma (sgrolma, die Göttin der Barmherzigkeit) als Abendgebet her, und die übrigen Zeltbewohner wiederholten tausendmal: »Om mani padme hung«. All das große und kleine Unrecht, das sie den Tag über bewußt oder unbewußt getan hatten, sollte damit wieder gutgemacht werden, und ihre Seelen sollten vor und nach dem Tode nicht für diese Sünden büßen müssen. Eine halbe Stunde dauerte diese Abendandacht, dann krümmten und kauerten wir uns eng zusammen, um möglichst warm zu bleiben. Das Herdfeuer verlöschte, und zu dem weit geöffneten Zelteingang, zu dem breiten Schlitz des Rauchfangs oben im wagrechten Zeltdach und zu den vielen, vielen Maschen und Löchern des Zeltstoffes strich eine eiskalte Luft herein und machte uns die Glieder steif.

Nach Mitternacht begann es zu schneien, und das Schneetreiben hielt bis weit in den Morgen hinein an, so daß die Herden am Morgen nicht ausgetrieben werden konnten und sich alle Männer mit hochgezogenen Filzmänteln um die Herdfeuer herumdrückten. Wir benutzten diesen Tag, um mehrere Zeltgruppen, die alle 1–2 km auseinanderlagen, aufzusuchen. Jedesmal mußten wir endlose Teevisiten absitzen und über viele nebensächliche Dinge reden. Der Aufenthalt in den Zelten war sehr ungemütlich. Wenn wir kamen und die gastfreundlichen Hausfrauen uns Tee kochten, schmolz bei der dadurch entwickelten Wärme der Schnee auf dem horizontalen Zeltdach und lief an allen Ecken und Kanten ins Zeltinnere herein. Um solche Kleinigkeiten schert sich aber kein Tibeter. Er kennt es von Jugend auf nicht anders.

Unser Ochsenhandel gestaltete sich nichts weniger als einfach und erfreulich. Selbstredend versuchten die Leute immer erst, ihre ältesten Tiere uns aufzuschwatzen oder wenigstens solche, die das Jahr zuvor mit einem Teil des Stammes die Pilgerfahrt nach Lhasa überstanden hatten. Die Tsʿaner waren auch leider nicht reich. Es gab keine große Auswahl. Der Häuptling jammerte, sie hätten während des Winters bei einem Überfall durch Räuber aus dem Süden hundert Tiere verloren. Auf die Familie kamen im Mittel 15–20 Rinder, 70 Schafe und kleine Ziegen und 3–4 Pferde. Dabei hatten sie nicht einmal bloß Yakrinder. Wie alle Osttibeter, die Weiden von nur etwa 3000 m Meereshöhe haben, hielten sie noch das kurzhaarige farbige Rind und züchteten mit ihm »ntso« (chin.: »Pien niu«), das durch die Kreuzung der beiden Rassen entstehende Rind, das viel brauchbarer ist als seine beiden Stammväter. Für dieses wurde hier der zweieinhalbfache Preis eines gewöhnlichen Yakrindes verlangt.

Ich hatte bis zum Abend in manche tibetische Häuslichkeit intime Blicke werfen können. Die Kinder werden sehr selten gescholten, und ohne Scheu küßten sich die Eheleute bei meiner Anwesenheit. Die Tsʿaner hatten auffallend viele Tschülin, kleine kraushaarige Zickchen. Aber es war mir nur möglich gewesen, acht Yakochsen zu kaufen, und die gekauften hatte ich nicht einmal mitnehmen dürfen. Nach dem tibetischen Kalender hatten wir den 13. des zweiten Monats. Dieser ist eine Art Sonntag und darum zugleich Unglückstag in dieser Gegend, an dem ein jeder vermeidet, etwas Wichtiges zu unternehmen und etwas zu verkaufen, weil es sonst die Götter und Geister übelnehmen und der Familie Unglück senden. Auch bei meinem Überfall am Kuku nor, so hörte ich später, waren die Tibeter mir einen ganzen Tag lang nachgezogen, nur um mich nicht an einem solchen Sonntag angreifen zu müssen Am 1., am 3., 6., 9., 13., 15., 19., 23., 26. und 29. jeden Monats gibt der Fan tse nichts aus dem Haus. Am 1. und 15. jeden Monats wird aus abergläubischer Furcht auch nicht geschlachtet, weil an diesen Tagen in den Gelugba-Klöstern religiöse Zeremonien stattfinden. Oft zählt man einige der Unglückstage gar nicht und zählt dafür den folgenden Tag doppelt..

Sonntagsruhe ist aber nicht bekannt. Zum Glück konnte ich wenigstens an diesem Tage das Bezahlen, d. h. das zeitraubende Silberabwiegen, für die acht Ochsen erledigen. Auch hier war dies keine kleine Arbeit. In Tibet wird nie chinesisches Kupfergeld in Zahlung genommen. Ich konnte nur mit Silberstücken bezahlen, und das Gewicht mußte immer aufgehen. Da außerdem nie zwei Ochsen, die ich in einem und demselben Zelte kaufte, einem Besitzer gehörten, vielmehr öfters die eine Hälfte eines Ochsen im Besitze der Hausfrau und die andere Hälfte in dem ihres Sohnes war, und da immer alle Teile auf getrennte Bezahlung drangen, so war die Mühe doppelt groß. Es war ein gar zeitraubendes Geduldspiel.

Ich habe die Eigentümlichkeit des scharf getrennten Besitzstandes innerhalb einer Familie noch bei anderen Nomaden Tibets gefunden. Ich glaube, dies hängt mit dem geringen Familiensinn der Leute zusammen. Die Ehen gehen sehr leicht wieder auseinander, und um endlosen Zwistigkeiten vorzubeugen, ist man übereingekommen, von Anfang an eine getrennte Wirtschaft für die einzelnen Familienglieder einzuführen. Frühzeitig erhalten die Kinder einige Schafe geschenkt. Oft hörte ich einen Tibeter sagen: »Dies Tier kann ich nicht verkaufen, es gehört meiner Tochter.« Dabei war seine Tochter erst einjährig. Oder: »Dies kann ich nicht verkaufen, ich habe es meinem Gott geschenkt.« Der Mann wird das betreffende Tier später einer Heiligeninkarnation geben, aber es nicht schlachten, und er fürchtet sich, es an andere wegzugeben.

Als die zweite Nacht anbrach, änderte sich plötzlich das Benehmen unserer Gastgeber. Sie waren alle damit einverstanden gewesen, daß ich die Silberpäckchen nach dem Abwiegen einwickeln und versiegeln ließ, um sie am Tage darauf, wenn die Ochsen gebracht würden, auszuhändigen. Alle schienen damit zufrieden. Allein mit einem Male erfuhren wir jetzt, daß in einem Nebenzelt eine große Männerversammlung tage. Im Flüsterton wurde dort verhandelt.

Wie ich sofort vermutete, drehte es sich um meine Wenigkeit.

Ich hatte mein Silber in Papierpaketen von bestimmtem Gewicht mitgebracht, und unvorsichtigerweise war in das Einwickelpapier ein kleines Stück einer englischen Zeitung gekommen. Das Unglück wollte es weiter, daß hiervon ein Fetzchen, nur so groß wie ein Fingernagel, auf den Boden fiel und dem Akka des Häuptlingszeltes unter die Augen kam. Dieser begriff, daß es weder tibetische noch chinesische noch auch mongolische Schriftzeichen waren. Um die gleiche Zeit etwa war mein Karabiner verdächtig geworden. Dieser kam einigen bekannt vor. Auch meine dünne Nase fiel wieder auf. Kurz, mein Inkognito wurde gelüftet. Man hatte mich als Europäer erkannt.

»Was tut dies denn,« sagte ich zu meinen zwei betrübt dreinschauenden Dienern, »die Tibeter haben ja jetzt gesehen, daß wir Europäer keine Bösewichter sind, daß ich ihre Sitten und Gebräuche achte?«

»Herr,« fiel mir mein Schuhmachermeister ins Wort, »als wir heute in einem Zelte Tee tranken, hörte Me zwei junge Bursche sich darüber aufhalten, daß ein Ni gar (zu deutsch: Helläugiger, also ein Europäer), den sie im letzten Winter am Kuku nor droben überfallen hätten, dasselbe Gewehr und dieselbe Nase gehabt hätte wie du.«

Meine Spannung verbergend, fragte ich möglichst ruhig: »Und woher stammten jene zwei Tibeter?«

»Es waren Tschebtsʿa-Tibeter, die gleich hinter jenem Hügel dort im Süden wohnen und mit den Tsʿanern befreundet sind.«

»Hast du noch Näheres von dem Überfall erfahren?«

»Jener Helläugige vom Kuku nor hat dreißig Tschebtsʿa-Leute mit einem Verlust von vier Toten heimgeschickt. Drei Mann waren so schwer verwundet, daß sie, zu Hause angekommen, ihren Wunden erlegen sind. Zu allem Unglück ist es noch den Amban-Dolmetschern zu Ohren gekommen, wer den Europäer überfallen hat. Die Familien der Tschebtsʿa mußten noch obendrein für den mißglückten Überfall mehrere hundert Tael Silber an den Dolmetscher bezahlen, um wieder nach Kue de auf den Markt gehen zu dürfen.

Die Tschebtsʿa und die Tsʿaner haben zusammen zwei- bis dreihundert Zelte, und beide Stämme haben geschworen, jeden Europäer, dem sie in der Steppe begegnen, ihren Verlust büßen zu lassen. Darum dürfen wir nicht zugeben, daß du ein Europäer bist, sonst schlagen sie dich und uns tot. Es ist ein großes Glück, daß du in Kue de deinen Bart abrasiert hast und jetzt tibetische Kleider trägst, denn die Tibeter sagen, der Mann am Kuku nor habe einen langen, gelben Bart und gelbe Haare gehabt. Seine Kleider waren ganz sonderbar und verschieden von den deinen. Sie haben ihn am Tage vor dem Überfall ganz genau angesehen.«

Ich wagte nicht, meinen Leuten zu gestehen, daß ich sogar der nämliche Mann sei, der diesen Angriff abgeschlagen hatte. Ich wollte sie nicht noch mehr ängstigen. Ich fürchtete, daß sie mich verraten könnten, um ihre eigene Haut zu retten. War ich aber wirklich erkannt, so galt es, keine Minute zu verlieren. Wir benutzten die Abwesenheit der Männer. Zu den Frauen, die bei uns im Zelt geblieben waren, sagten wir, wir wollten der Kälte wegen unsere Pferde satteln. Einmal im Sattel, wußten wir uns gerettet. Ich trug ja dieselbe Mauserpistole, die am Kuku nor die Bande verscheucht hatte, auch heute unter meinen Kleidern versteckt.

Als wir aber vor das Zelt traten, stürzten die Hunde wütend auf uns los und machten einen solchen Höllenlärm, daß die Männer ihre Beratung unterbrachen und uns den Weg zu unseren Pferden abschnitten. Es war unmöglich, zu unseren Tieren zu gelangen und auf und davon zu reiten. Es schien auch zunächst nicht mehr dringend nötig zu sein. Unter Lachen erzählte der Häuptling, was sie beredet hätten.

»Dumme Dächse sind die Tschebtsʿa. Sie wollten uns Angst machen. Sie gönnten uns nicht den Handel mit dir. Wie Mäuse sind sie. Du hast solch einen schönen schwarzen Zopf. Das sieht ja jeder, du kannst nicht vom selben Volk sein wie der gelbhaarige Fremdling, der uns unsere Brüder getötet hat.«

In der zweiten Nacht bei den Tsʿanern haben wir drei nicht viel geschlafen. Wir fühlten uns wie gefangen in einer Falle. Jedesmal, wenn die Hunde anschlugen, zuckten wir zusammen, und fester umfingen unsere Hände die Waffen, mit denen im Arm wir uns zur Ruhe gelegt hatten. Stundenlang stritten Tschʿeng und ich, ob ein Tibeter jemand im eigenen Zelt bei Nacht und meuchlings ermorden würde. Ich sagte nein. Tschʿeng aber traute es den Tibetern zu. Wie alle Chinesen, so hielt auch er die Tibeter jeder Unritterlichkeit und Schandtat für fähig.

Kaum daß es im Osten etwas dämmerte, als wir uns eben von unseren Gastgebern verabschieden wollten, da stellten sich zu unserem immer größer werdenden Erstaunen und Schrecken mehr und mehr Tibeter beim Häuptling ein mit Ochsen und Pferden, und alle boten mir ihre Tiere zum Kaufe an. Um uns möglichst harmlos zu stellen, kauften wir rasch noch einige. Bald aber erklärte ich, mein Silbervorrat sei zu Ende. Eine Ausrede, die mir fast gefährlich wurde. Einige Tibeter versuchten meine Kleider zu betasten, um festzustellen, ob es wahr sei. Wenn sie hierbei meine Pistole entdeckt hätten!

Mit Silberabwiegen beschäftigt, saß ich zuletzt auf dem Wiesenplan draußen. Der Hunde wegen waren wir fern von den Zelten. Etwa zwanzig Männer umringten mich, alle in fettigen, schmierigen Pelzmänteln, alle mit tiefbraunen, von tausend Falten durchfurchten Gesichtern, durch Winterstürme und die stechende Gebirgssonne unsäglich verwetterte Gesellen, alle mit dem kurzen Schwert quer in ihrem Gürtel. Im Boden unweit von mir steckten ihre langen, dünnen Lanzen. Auf der Erde lagen die stets geladenen Gabelgewehre. Ringsherum standen die Reitpferde angepflöckt. Da fuhr plötzlich eine rauhe schwarze Faust mir über das ganze Gesicht, und höhnisch klang es mir in die Ohren: »Du hast mal viele Bartstoppeln! Und was für feine gelbe Haare an deiner Stirne wachsen!«

Ein auch in Tibet auffallender Kerl war es gewesen, der so sprach. Eine breite und schlecht vernarbte Schmarre zog ihm über das ganze Gesicht. Durch einen Schwerthieb war ihm seine Nase gespalten worden, und sein linkes Auge war erblindet. Eine Bulldoggnase hatte das Gesicht dadurch erhalten, und wie bei so vielen Zelttibetern schauten noch obendrein zwei breite Zahnschaufeln zwischen den Lippen hervor. Ich hatte eine ähnlich häßliche Schwertspur nur noch in Hsiang yang fu am früheren Generalissimus von Hu pe gesehen. Der Chinese hatte sie von der Tai ping-Rebellion im Dienste seines Kaisers. Der Tibeter aber hatte die seine sicherlich nicht auf einem Felde der Ehre geholt. Es lag etwas Teuflisches in dem Gesicht. Noch heute, wenn ich einen schweren Traum habe, erscheint mir manchmal diese Fratze. Damals war es aber kein Traumgesicht, das mich angrinste. Es war ein banger Moment. Doch hielt ich mich zurück und blieb äußerlich so ruhig, wie ich konnte.

Tschʿeng dagegen rief ihn an: »Bist du vielleicht schöner, du Einäugiger?« und lachend gab er ihm eine Backpfeife als Belohnung für seine Frechheit. Er hatte den richtigen Ton getroffen. Alle Umstehenden lachten mit. Noch einmal war es gelungen, die Lacher auf unsere Seite zu bekommen. Zumal bei den älteren Familienvätern der Tsʿaner war sichtlich Interesse am Zustandekommen des Yakhandels vorhanden. Sie standen nicht auf der Seite dieses Raufbolds und schoben ihn unwirsch auf die Seite.

Diesen Zwischenfall benutzten wir, um endlich loszukommen. Ich streckte dem Häuptling meinen leeren Silberbeutel hin. Mißmutig durchsuchte er ihn.

»Wenn ich gut und ungeschoren nach Hause komme,« schwor ich bei allen Heiligen, »so kehre ich in wenigen Tagen zurück und kaufe noch weitere Yak.«

Tschʿeng und Me kreisten unterdessen rasch die gekauften Tiere ein und trieben sie auf den Weg, den wir gekommen waren. Jeder Tibeter, der mir ein Tier verkauft hatte, sprach noch einen Segen aus und riß sich einige Haare aus der Mähne aus, um sie im Hintergrund seines Zeltes aufzubewahren. Der Häuptling und ein anderer Sprecher riefen uns noch nach, ja nicht ungeduldig zu werden und nicht zu rasch zu treiben. »Traben ist schlecht für die Yak; vergeßt nicht, es sind keine Pferde!«

Mir brannte der Boden unter den Füßen. Ich ritt bald voraus, um auszukundschaften, bald half ich die Yak antreiben.

Die Tiere schienen mit ihren früheren Besitzern im Bunde zu sein. Wie verhext waren die pechschwarzen Biester. Wie die Schnecken krochen sie vorwärts. Um meine Leute anzuspornen, erzählte ich jetzt, daß ich nicht bloß Europäer, sondern sogar derselbe Mann sei, den die Tschebtsʿa am Kuku nor überfallen hätten, und daß die Amban-Dolmetscher mir mit keinem Wort gestanden hätten, daß meine Angreifer so nahe von Kue de wohnten. Im Amban-Ya men fürchteten sie offenbar, mit dem erhaltenen Strafgeld meinen am Kuku nor erlittenen Schaden ersetzen zu müssen und so bei dem ganzen Handel leer auszugehen. Mein Verlust betrug ungefähr ebensoviel, wie sie von den Tschebts'a erhalten hatten.

Gegen zwei Uhr nachmittags kamen wir an den Rand einer mehrere hundert Meter tiefen Schlucht, in die unser Weg hinabführte. Ich war zur Vorsicht vorausgeritten und suchte von einem Versteck aus mit meinem Triëder bewaffnet jeden Fels und jede Runse nach etwas Verdächtigem ab.

Kein Mensch bewohnte die Gegend. Mitten durch das Tal wand sich der Pfad, breit und staubig. Man sah viele Kilometer weit. Alles kahl. Nur vereinzelte zwerghafte Büsche zeigten sich an den Hängen und auch nur wenig Gras, und dies winterlich gelb und tot. In Felsen, in herabgestürzten Blöcken, in zahllosen Spalten und trockenen Bachrissen verloren sich meine Blicke.

Schon wollte ich meine Leute herbeiwinken, schon glaubte ich, ruhig in dieses Tal hinabsteigen zu können, da entdeckte ich in der Ferne, in einer Seitenschlucht, einige gesattelte Pferde, und als ich eine nahe Anhöhe erstiegen hatte und etwas mehr von der Seite in das Tal hineinsah, konnte ich in einem kleinen trockenen Wasserriß und hinter Felsblöcken viele Dutzende Bewaffneter erkennen. Waren uns die Tschebts'a zuvorgekommen? Lauerten sie uns auf?

Auf jeden Fall war da äußerste Vorsicht geboten.

»Es können keine guten Menschen sein,« so kalkulierte mein Tsch'eng, »denn die Leute rasten, ohne Tee zu kochen, und sie lagern abseits von der Straße und hocken ohne Waren und Ochsen hinter Deckungen.«

Es wurde viel geräubert in diesem menschenleeren Tal, das wußte schon Tsch'eng, aber nie hatte er von solchen Massen Wegelagerer gehört.

Und nur durch diese hohle Gasse ging der Weg nach Kue de. Mein Tsch'eng und mein Me wußten keinen anderen. Sie kannten auch keinen Schleichpfad nach Hause. Sie waren noch nie in den Bergen herumgeklettert, obwohl diese doch nur wenige Stunden von ihrer Heimatstadt entfernt lagen.

Auf gut Glück ritten wir ein Stück zurück und folgten dann eilig einem kleinen Seitentälchen, das gegen Norden lief. Es war eng und gewunden und in seinem Grunde keine Wegspur zu erkennen. Vielleicht, so hofften wir, behält es seine Richtung bei und mündet schließlich in den Hoang ho, den wir in der äußersten Not mit den Pferden durchschwimmen können. Vielleicht geraten wir aber dadurch erst recht in die Falle.

Wir hatten jetzt aufgehört, die Ochsen zu schonen. Lang hingen die schwarzen Yakzungen zu den Mäulern heraus. Es sah zum Erbarmen aus, aber wir dachten nur noch an uns und unsere Rettung.

Um etwas die Gesinnung meiner Begleiter zu erkunden, stellte ich die Frage, ob es nicht ratsamer sei, die Ochsen laufen zu lassen und noch beizeiten mit den Pferden allein ein Durchkommen zu versuchen. Davon wollte jedoch keiner der beiden etwas wissen. Wie damals auf der Filchnerschen Tibetreise, als bei Ngaba die Tibeter in hellen Haufen zu Fuß und zu Pferd auf uns anrückten und Leutnant Filchner, um dem drohenden Gefecht auszuweichen, Befehl gab, die Ochsenkarawane preiszugeben und mit den Pferden nach der chinesischen Grenze durchzubrechen, so deuteten auch jetzt meine Begleiter verächtlich nach ihrer Wange und gerieten sogar gewaltig in Harnisch über solch eine Zumutung. Man spricht so oft wegwerfend von dem Mut der Chinesen, aber Kan su-Chinesen wie Tibeter reißen auch erst aus, wenn die Gefahr wirklich überwältigend erscheint und die Gegner sich ins Auge gesehen haben. Das aber trat diesmal nicht ein.

siehe Bildunterschrift

Tafel XI
Lager im Schara khoto-Tal, Blick nach Norden.

siehe Bildunterschrift

Tafel XII
Aufbruch vom Lager 36, Blick gegen Dung re dschayu (rechts) und die westlichen Ausläufer der Amne Matschen-Kette.

Mit der Wahl des Tälchens hatten wir das größte Glück. Zwar blieben wir noch stundenlang in Atem, erwarteten jeden Augenblick einen Schuß aus nächster Nähe. Allmählich wurden wir aber sicherer und schließlich abgestumpft, so daß wir keinen der vielen Felsvorsprünge mehr argwöhnisch ins Auge faßten, daß wir die Gewehre wegsteckten und die Tiere ganz langsam vor uns hertrieben. Und ehe es zu dämmern anfing, trällerte Me ein Liedchen dazu. Bei Nacht erst gelangten wir wieder auf die große Straße zurück. Dort stießen wir eine Stunde nach Sonnenuntergang auf zwei berittene Fan tse, die uns erkannten und mit schlecht verhaltenem Erstaunen fragten, welchen Weg wir gemacht hätten.

»Die Hauptstraße«, erwiderte Tsch'eng.

»Habt ihr nicht unterwegs einen Reiter gesehen?«

»Viele, viele, aber diese sahen uns nicht und sprachen nicht mit uns.«

Ich bin überzeugt, die beiden glaubten, daß übernatürliche Kräfte bei uns mit im Spiele waren. Mehrere Fan tse hatten – wie wir später hörten – den ganzen Tag über am Ende des Tales gewartet, und jede Annäherung Dritter war zurückgemeldet worden. Man hätte uns spurlos verschwinden lassen können, wenn wir in die Falle gegangen wären.

Nachts um elf Uhr waren wir im Gasthaus in Kue de eingetroffen. Die neugekauften Yakochsen hatte der Tag tüchtig mitgenommen. Sie waren alle überanstrengt, zwei gingen huflahm.

Die geplante Reise von Kue de aus nach Süden durch das Gebiet der Ts'aner und dann durch das der Lutsâng-Tibeter, weiter nach dem Kloster Aru Rardscha und dort über den Hoang ho war also wenig ratsam. Der abenteuerreiche Yakkauf hatte mir die Gewißheit gebracht, daß ich mich nur in blutigen Kämpfen durchschlagen könne. Ich hätte als einzelner Europäer mit meinen wenigen eingeborenen Begleitern die kostbare und eben erst neu ausgerüstete Karawane allzu großen Gefahren ausgesetzt. Der Gewinn schien den Einsatz nicht wert. Dazuhin war es äußerst fraglich, ob die Tibeter mich überhaupt auf der Fähre von Aru Rardscha gomba über den großen Fluß lassen würden.

Es blieb also keine andere Wahl, als den alten Weg wieder zurückzureiten. Ich setzte am nächsten Tage auf das linke Ufer des Hoang ho und vereinigte am Südfuß des Lao ye schan bei dem chinesischen Militärposten Ts'ien hu tsch'eng meine gesamte Karawane.

Von hier zogen wir nach Schara khoto, jenem wichtigen Militärposten, der mir nach meiner Niederlage am Kuku nor im Januar zuvor als Zuflucht gedient hatte. 1904 waren Leutnant Filchner und ich auch von dort aus aufgebrochen. Prschewalski, Rockhill, Kozlow kamen schon dort durch. Nach all dem vielen Hin und Her hatte ich mich entschließen müssen, durch ein und dasselbe Tor zu ziehen. Es blieb mir nur noch ein Trost, die Straße, auf der ich diesmal den Ort erreichte, hatte vor mir kein Europäer betreten und aufgenommen.

Drei Tage brauchten wir durch die Berge von Ts'ien hu tsch'eng nach Schara khoto. Um die Mittagszeit des dritten Tages schlugen wir Lager in der kleinen grasbedeckten Ebene vor seinen Mauern.

Der äußerst joviale Schu be Tsch'en, der Hauptmann des Ortes Schara khoto, den ich von meinen früheren Aufenthalten her gut kannte, kam in Begleitung seiner Unteroffiziere und offiziellen Dolmetscher und war die Freundlichkeit selbst, wenn er mich auch in seinem Innern todsicher zu allen Teufeln verfluchte, daß ich ihn schon wieder aus seiner beschaulichen Ruhe aufstörte. Wir umarmten uns nach der ersten förmlichen Begrüßung wie die besten Freunde und tauschten Geschenke aus. Er erbat sich vor allem europäisches »Schwarzpulver«, weil er von seinen Vorgesetzten keines oder kein gutes bekomme. Einen großen Dienst erwies mir dieser Schu be, indem er noch am ersten Abend einen Boten an den Amban nach Hsi ning fu sandte und nach dem Verbleib der mir versprochenen Eskorte fragen ließ.

Am 20. April, d. h. am 28. des dritten tibetischen Mondmonats, besuchte ich das Kloster Dunkur, eine Stunde talabwärts von Schara khoto, weil an diesem und an den folgenden Tagen ein Jahrmarkt dort stattfand und das Volk aus der ganzen Umgebung zusammengeströmt war. Das Heiligtum steht an einem wahrhaft idyllischen Ort. Dem Tempelgebäude gegenüber liegt ein kleiner Tannenwald am Berghang. Das Kloster steht 3100 m über dem Meer, und weit und breit findet man sonst nur Weidengebüsch erhalten, das sich wenig höher als 1 m über den Boden erhebt. Dieser Tannenwald gehört zu dem Heiligtum. Seine Ruhe darf nicht gestört werden. Hasen und Murmeltiere haben darin in großer Zahl ihr Heim aufgeschlagen. Niemand ist es erlaubt, die Tiere zu jagen, denn nach der lamaistischen Lehre vom Zyklus aller Wesen können Seelen nach dem Tode gezwungen sein, in Tiere zu fahren, d. h. als Tiere wiedergeboren zu werden, weil sie den Versuchungen der Welt nicht standhielten. Sie brachten es also während ihres Menschenlebens nicht weiter zur Vollkommenheit und Heiligkeit, sondern sie dienten rückwärts, und man glaubt, daß diese armen Seelen meist nicht erst weite Reisen machen, sondern gleich in der Nähe wiedergeboren werden. Ein alter Priester zeigte mir ein kleines Murmeltier, das sich unweit von seinem Haus einen Bau gegraben hatte, und versicherte mich allen Ernstes: »Das ist mein Bruder gewesen, bevor er starb. Er war Priester dieses Klosters und hat zur Strafe für seine Verfehlungen in diesen Tierkörper ›wechseln‹ müssen.«

Bei diesem Jahrmarkt trank, betete man und amüsierte sich königlich dabei. Auch Chinesen von unten aus Dankar und Hsi ning hatten sich eingefunden; diese waren freilich nur als Krämer und Garküchenbesitzer gekommen.

Auf dem Tanzplatz im Kloster Dunkur versammelte sich am Nachmittag die munterste Gesellschaft. Es war ein gepflasterter rechteckiger Platz, ringsherum ein gedeckter Gang mit alten verwetterten Holzsäulen. Hinten erhob sich ein weißgetünchtes Haus, und von einer offenen Loggia im ersten Stock hing ein bunter Teppich herab. Der jugendliche Klosterheilige saß dort mit seinem runden Vollmondgesicht und strahlte vor Freude. Unten auf den Stufen und Podesten des Säulenganges saßen durcheinander Männer und Frauen; bunt, rot, blau, grün, in allen Farben des Regenbogens, doch vorherrschend weinrot leuchtete die Menge in dem hellen Licht der Hochgebirgssonne. Bis in die Mitte des Platzes hockten die Leute mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, und ringsum hörte man fröhlichstes Lachen.

Lauter Jubel erklang, als aus der doppelflügligen Tür unter der Loggia des Heiligen die erste Maske erschien und mit einer Peitsche bewaffnet Ordnung und Platz für die beginnende Veranstaltung schaffte. Bei seinem Erscheinen wie bei jedem neuen Auftritt schmetterten zwei Kupferposaunen ihre schaurigen Töne heraus. Nachdem sich die Maske Platz geschafft, hüpfte sie lange im Takt der Trommeln und Zimbeln im Hofe herum. Diese erste Maske war der Erdgeist, das »alte weiße Männlein« genannt. Sie hielt in der einen Hand einen Rosenkranz von riesigen Dimensionen mit Steinen von über Faustgröße. Der Körper steckte in einem Hirschfellrock. Dazu schwang dieser Erdgeist drohend einen langen krummen Stab und eine Peitsche. Später traten, ganz wie bei der Neujahrsvorstellung im Kloster Gum bum, Totenmasken auf, und nach diesen folgten acht Schreckensgötter. Dazwischen erschien wieder und wieder der Kobold. Er war Festordner und Clown in einer Person. Während die acht Schreckensgötter mit ihren Hirschschädeln, mit ihren schweren Ochsenhörnern, Eberköpfen und anderen Phantasiegebilden in ihren farbenprächtigen seidenen Gewändern herumtanzten, äffte sie der bärtige alte Kobold auf die verschiedenste Weise nach. Auch die langen Pausen zwischen dem Tanz füllte er mit kindlichem Schabernack aus und machte sich dadurch überaus beliebt bei seinem dankbaren Publikum. Der Heilige auf seinem Balkon und alle Zuschauer jubelten laut, wenn der Erdgeist plötzlich einen aus der Menge an den Stiefeln packte, den Armen mitten in die Arena hineinzog und durchprügelte.

Die Vorstellung, der Tsam, dauerte zwei Stunden. Das Tanzen war ein unschönes, in seiner Einförmigkeit langweiliges Hüpfen. Das Kopfdrehen, das Bein- und Armschwingen wollte kein Ende nehmen. Ich fühlte mich nur befriedigt, da das malerische Bild, das die Zuschauer boten, und all das Eigenartige meiner Umgebung mich entschädigte.

Ich war eingeladen worden, während der Vorstellung neben dem Dunkurbuddha auf dem Balkon zu sitzen Die Hauptinkarnation dieses Klosters ist »Dunkur Mandschusri«, zur Zeit in der zwölften Wiedergeburt. Er hat in den meisten Klöstern Amdos einen Sengkang (Wohnpalast).. Um meinem Nebensitzer zu huldigen, warfen sich vor uns im Hofe unten Dutzende von Männern und Frauen in jeder Pause und ungezählte Male hintereinander platt auf die Erde, so daß ich mir schließlich einbildete, die Anbetung gelte mir, da mein neben mir sitzender junger Gott sie gar nicht beachtete. Er war noch so jung, daß er nur Sinn für die Streiche des Erdgeistes hatte. Von dieser Kindlichkeit abgesehen, muß ich aber bekennen, daß er sich auffallend wohlerzogen und würdig benahm. Von ihrer Jugend haben diese als Götter verehrten Kinder nicht viel. Frühzeitig haben sie stundenlang wie eine Buddhafigur stillzusitzen, haben endlose Litaneien mit unsagbar vielen, ihnen total unverständlichen Worten, die teilweise aus dem Sanskrit entlehnt sind, auswendig herzuplappern, haben sich anbeten und anräuchern zu lassen, und die Außenwelt bekommen sie nur durch die Brille ehrwürdiger alter Professoren zu sehen.

Ich bin selten in einem tibetischen Kloster ähnlich liebenswürdig aufgenommen worden wie in dem von Dunkur; und ich wunderte mich sogleich darüber. Meist sind die Priester recht unartig gegen uns Fremde. Auch genießen nur die einheimischen Fürsten die Ehre, neben den Klosterheiligen auf dem Balkon sitzen zu dürfen. In der Regel können sogar nur diejenigen mit den Göttern zusammensitzen, die mit ihnen blutsverwandt sind. Die überraschende Liebenswürdigkeit der Klostergewaltigen von Dunkur hatte ihre Grundursache darin, daß sie in große Not geraten waren. Man wollte und hoffte, daß ich dem Kloster und seinem Gotte aus der Klemme helfe. Ich sollte den Dunkurbuddha gegen seine Widersacher unterstützen. Als ich zu begreifen begann, fühlte ich mich wie ein Titan, der den Olympiern sich gleich dünkt. Es ist zwar die Regel im modernen Buddhismus, daß jeder Gott einen Hüter und Schutzengel hat, aber ich hätte es doch nicht für möglich gehalten, daß der Abt und die Inkarnation eines Klosters so ohne weiteres ihre Ohnmacht eingestehen und um Hilfe bitten würden.

Seit geraumer Zeit machte der Häuptling der Be schu-Tibeter vom Kuku nor dem Kloster bitter zu schaffen. Man hatte seinetwegen einen großen Prozeß anstrengen und den Amban als Richter anrufen müssen. Dies hatte schon viel Geld verschlungen, und noch immer war kein Ende abzusehen. Ein Stück Weideland am See war das strittige Objekt.

Die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen tibetischen Großen bildet die Haupteinnahmequelle des Amban-Ya men. Jede Besprechung kostet die Tibeter erstens Türhütergelder, sonst werden sie überhaupt nicht vorgelassen, zweitens eine große Summe für den offiziellen Dolmetscher, der gewissermaßen der Anwalt der Partei wird, und drittens eine mindestens ebenso hohe Summe an den Privatsekretär, ganz zu schweigen von den Gebühren des Mandarinen. Hunderte und Tausende können draufgehen, bis ein Tibeter zu seinem Richter vorgelassen wird. All dies hofften die Räte vom Dunkurkloster künftighin zu sparen. Sie hatten meinen vom Amban ausgestellten Paß gelesen und waren überzeugt, ich sei der Freund des Amban und könne ihnen helfen, wenn ich nur wolle. Es war schwer für mich, aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden, ohne mir die Priester zu Feinden zu machen. Ich antwortete selbstverständlich möglichst ausweichend. Um mich willfähriger zu stimmen, wurden meine Diener beim Abschied von den Priestern mit Geld beschenkt, und auch ich erhielt ein Geschenk mit auf den Weg. Sie gaben mir einen Leckerbissen, den die Tibeter ganz besonders hoch schätzen, einen ganzen Schafmagen voll frischer süßer Milchhaut, wie sie sich beim Kochen und langsamen Wiedererkalten von Milch bildet. Der Geschmack von Ost und West ist doch ziemlich verschieden. Wer läßt sich bei uns durch zwei Liter Milchhaut bestechen?


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