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Feuriger Wein

Eine Nichte meiner Frau verheiratete sich in einem Alter, in dem die Mädchen aufhören, junge Mädchen zu sein, und anfangen, sich in alte Jungfern zu verwandeln. Die Ärmste hatte sich schon völlig mit dem Gedanken vertraut gemacht, dem weltlichen Leben zu entsagen, und erst kürzlich hatte sie sich auf das Drängen der ganzen Familie bereit gefunden, ihm noch einmal ihr Interesse zuzuwenden und einem jungen Manne, den die Familie als eine gute Partie für sie auserlesen hatte, Gehör zu schenken. Kaum war das geschehen, so war es auch schon mit ihrer frommen Sehnsucht nach einem tugendhaften Leben in der Einsamkeit des Klosters vorbei, und die Hochzeit wurde sogar früher angesetzt, als die Verwandten selber es gewünscht hatten. Und nun feierten wir also ihre Vermählung.

Ich, der ich die Welt kannte, mußte lachen. Wie hatte der Jüngling es wohl angestellt, ihren Sinn so schnell zu wandeln? Wahrscheinlich hatte er sie in seine Arme geschlossen, um ihr das Leben wieder begehrenswert erscheinen zu lassen, und so hatte er sie wohl eher verführt als überzeugt. Deshalb mußte man dem jungen Paare auch sehr viel Glück wünschen. Jeder, der heiratet, kann Glückwünsche wohl gebrauchen, aber dieses junge Mädchen bedurfte ihrer mehr als jeder andere. Wie unglücklich würde sie sein, wenn sie eines Tages bereuen müßte, daß sie sich auf diesen Weg hatte locken lassen, vor dem ihr Instinkt sie gewarnt hatte. Und so sann denn auch ich, während ich mein Glas leerte, über einen Glückwunsch nach, der sich diesem Sonderfall anpaßte: Seid ein oder zwei Jahre glücklich! Dann werdet ihr die langen Jahre, die nachher kommen, leichter ertragen. Denn ihr müßt dafür dankbar sein, daß ihr genießen durftet. Von dem Glück bleibt nur das Bedauern, daß es vergänglich war, und ist es gleich schmerzhaft, so ist es doch ein Schmerz, der den tiefen, wahren Schmerz des Lebens überdeckt.

Die Braut aber machte nicht den Eindruck, als legte sie auf Glückwünsche einen besonderen Wert. Mich deuchte vielmehr, daß ihr Antlitz von einer vertrauensvollen Hingabe geradezu verklärt war. Es zeigte genau den gleichen Ausdruck wie damals, als sie ihren Willen verkündete, sich in ein Kloster zurückzuziehen. Auch dieses Mal tat sie ein Gelübde: das Gelübde, ihr ganzes Leben der Freude zu weihen. Es gibt Menschen, die immer Gelübde tun. Würde sie dieses Gelübde wohl besser halten als das vorige?

Alle andern Gäste waren in heiterer Stimmung, und aus gutem Grunde – denn die Zuschauer sind immer vergnügt. Auch ich war heiter, aber meine Heiterkeit hatte etwas Gezwungenes. Es war nämlich auch für mich ein denkwürdiger Abend. Meine Frau hatte von Doktor Paoli das Zugeständnis erlangt, daß es mir an diesem Abend erlaubt sein sollte, ebenso nach Herzenslust zu essen und zu trinken wie alle andern. Diese Freiheit war um so kostbarer, als die Mahnung daran geknüpft war, schon am nächsten Tage wieder auf sie zu verzichten. Und ich benahm mich genau so wie die jungen Leute, denen man zum ersten Male den Hausschlüssel anvertraut hat. Ich aß und trank nicht aus Hunger oder Durst, sondern um meine Freiheit auszukosten. Mit jedem Bissen, mit jedem Schluck wollte ich meine Unabhängigkeit betonen. Ich öffnete den Mund häufiger, als es nötig gewesen wäre, um die einzelnen Bissen zu nehmen, und der Wein floß aus der Flasche in mein Glas, bis es überlief. Ich sorgte dafür, daß es schon im nächsten Augenblick wieder leer war. Ich spürte einen Drang, mich zu bewegen, und, an den Stuhl gefesselt, hatte ich das Gefühl, als liefe und spränge ich frei herum wie ein Hund, dem man die Kette abgenommen hat.

Meine Frau machte die Sache noch schlimmer, da sie ihrer Nachbarin die Lebensweise schilderte, der ich für gewöhnlich unterworfen war, und meine Tochter Emma, ein Mädchen von fünfzehn Jahren, hörte zu und machte sich wichtig, indem sie die Ausführungen ihrer Mutter noch hier und da ergänzte. Wollten sie mich denn selbst in diesem Augenblick noch an die Kette erinnern, die mir doch eben erst abgenommen war? Sie beschrieben alle meine Qualen: wie sie das wenige Fleisch, das mir zum Mittagessen erlaubt wäre, auf die Wage legten, wie sie es völlig geschmacklos machten, und wie sie am Abend nichts abzuwiegen brauchten, da das Nachtmahl nur aus einer »Semmel« mit etwas Schinken und aus einem Glase warmer, ungezuckerter Milch bestünde, gegen die ich einen Widerwillen hätte. Während sie so sprachen, machte ich mir über die Wissenschaft des Doktors und ihre Liebe meine eigenen Gedanken. Wenn mein Organismus wirklich so zerrüttet war, wie konnte man dann annehmen, daß er nur deshalb, weil es uns so schön geglückt war, ein Mädchen zu verheiraten, das aus eigenem Antrieb niemals daran gedacht hätte, nun so plötzlich all diese unverdaulichen und schädlichen Dinge würde vertragen können? So faßte ich denn, während ich meinen Wein trank, den Entschluß, mich vom nächsten Tage an gegen diese Bevormundung aufzulehnen. Die würden schöne Augen machen!

Die andern gingen zum Champagner über, ich aber trank nur einige Gläser davon, um bei den verschiedenen Trinksprüchen Bescheid zu tun, und kehrte dann zu dem gewöhnlichen Landwein zurück. Es war ein trockener, unverfälschter istrischer Wein, den ein Freund des Hauses zu diesem Anlaß gestiftet hatte. Ich liebte diesen Wein, wie man die Erinnerung liebt, und hatte zu ihm volles Vertrauen. Auch war ich keineswegs überrascht, als ich merkte, daß er, statt Heiterkeit und Vergessen zu schenken, vielmehr den Zorn, der in mir kochte, nur noch steigerte.

Wie hätte ich auch nicht zornig sein sollen? Man hatte mir eine wahre Leidenszeit auferlegt. Die Angst und die Not hatten alle edlen Triebe in mir erstickt und durch Pastillen, Tropfen und Pulver ersetzt. Mit meinen sozialen Interessen war es ein für allemal vorbei. Was ging es mich an, wenn die Erde, trotz aller doch so überzeugenden Ergebnisse der Wissenschaft, noch immer die Beute des Privatbesitzes war? Wenn deshalb so vielen Menschen das tägliche Brot und das Maß persönlicher Freiheit, auf das das Leben jedes einzelnen Menschen Anspruch erheben konnte, versagt blieb? Hatte ich denn mein tägliches Brot? Hatte ich etwa die Freiheit, die ich beanspruchen konnte?

 

An diesem gesegneten Abend versuchte ich, wieder der Mensch zu werden, der ich gewesen war. Als mein Neffe Giovanni, ein Riese, der gut seine zwei Zentner wog, mit seiner Stentorstimme gewisse kleine Geschichten zu erzählen begann, die seine eigene Gerissenheit in geschäftlichen Dingen und die Gutmütigkeit der andern ins Licht rücken sollten, regte sich in meinem Herzen wieder die Uneigennützigkeit vergangener Tage. »Und was wirst du tun,« rief ich, »wenn der Kampf der Menschen nicht mehr ein Kampf ums Geld sein wird?«

Giovanni schwieg einen Augenblick verdutzt, als er meine Frage hörte, da sie seine ganze Welt von Grund aus umzugestalten drohte. Er stierte durch die Brille, die seine Augen größer erscheinen ließ, nach mir hin. Er suchte in meinen Zügen zu lesen, um vielleicht darin etwas zu entdecken, das ihm einen Fingerzeig geben konnte. Alle blickten ihn erwartungsvoll an. Sie hofften, über eine jener überraschenden Antworten lachen zu können, um die unwissende, aber schlaue Tölpel mit naivem, aber boshaftem Geiste selten verlegen sind, und die man zwar schon vor Sancho Pansa kannte, aber doch immer wieder mit Vergnügen hört. Er besann sich noch und sagte, um Zeit zu gewinnen: der Wein pflege allen Menschen den Blick für die Gegenwart zu trüben, mir aber scheine er die Zukunft zu verwirren. Das war schon immerhin keine schlechte Antwort, aber er glaubte, noch etwas Besseres gefunden zu haben und rief: »Wenn niemand mehr um das Geld kämpfen wird, werde ich alles, alles ohne Kampf bekommen.« Man lachte viel, besonders, als er seine gewaltigen Arme zu wiederholten Malen mit weit geöffneten Händen zur Seite warf und sie dann langsam einander näherte, wobei er die Hände zu Fäusten ballte, so daß es den Anschein erweckte, als habe er bereits von dem Gelde, das ihm von allen Seiten zuströmen würde, Besitz ergriffen.

Die Debatte nahm ihren Fortgang, und niemand bemerkte, daß ich trank, wenn ich nicht sprach. Ich trank aber viel und sprach wenig, da ich meine ganze Aufmerksamkeit meinem Innern zuwandte, in dem sich, wie ich hoffte, bald wieder Menschenliebe und Selbstlosigkeit regen würden. Ich spürte aber nur ein leichtes Brennen. Doch dieses Brennen mußte gewiß bald in eine laue Wärme übergehen, da der Wein ja die Gabe besitzt, einen wieder jung werden zu lassen, wenn auch, leider, nur für kurze Zeit.

In Erwartung dieses angenehmen Zustandes rief ich zu Giovanni hinüber: »Wenn du das Geld zusammenraffst, das die andern nicht haben wollen, werden sie dich ins Loch stecken.«

Aber Giovanni rief sofort zurück: »Dann werde ich die Wächter bestechen und die einsperren lassen, die kein Geld haben, um sie zu bestechen.«

»Aber mit Geld wird man dann niemand mehr bestechen können.«

»Dann haben sie keinen Grund, es mir wegzunehmen.«

Ich geriet in einen maßlosen Zorn. »Man wird dich hängen«, schrie ich. »Du verdienst es nicht besser. Den Strick um den Hals und Gewichte an die Beine!«

Überrascht schwieg ich still. Mir schien, daß ich meinen Gedanken nicht richtig zum Ausdruck gebracht hatte. War ich denn wirklich so? Nein, gewiß nicht. Ich überlegte: Wie konnte ich zu der Liebe zurückfinden, die alle Menschen, also auch Giovanni, umfaßte? Ich lächelte freundlich und bemühte mich aus aller Kraft, mich zu bessern, ihm zu verzeihen und ihn zu lieben. Aber er ließ es nicht zu; denn, ohne auf mein freundliches Lächeln zu achten, sagte er resigniert, als wäre es zwecklos, noch weiter darüber zu reden, nachdem man etwas so Ungeheuerliches hätte hören müssen: »Man weiß es ja. Alle Sozialisten enden schließlich als Henker.«

Er hatte mich besiegt, aber ich haßte ihn. Er beschmutzte mein ganzes Innenleben, auch jenes, das ich geführt hatte, bevor der Doktor sich einmischte, und um das ich trauerte, weil es licht gewesen war. Er hatte mich besiegt, weil er einen Verdacht geäußert hatte, der mir schon vor seinen Worten gekommen war.

Und schon im nächsten Augenblick erlitt ich eine neue Demütigung.

»Wie wohl er aussieht«, sagte meine Schwester, indem sie mich mit aufrichtiger Freude betrachtete. Das war eine unglückliche Bemerkung, denn kaum hatte meine Frau sie gehört, als sie auch schon die Möglichkeit witterte, dieses Wohlbefinden, von dem meine geröteten Wangen zeugten, könnte sich in ein um so größeres Übelbefinden verwandeln. Sie erschrak, wie wenn sie in diesem Augenblick von einer drohenden Gefahr Kunde erhalten hätte, und fiel mit heftigen Worten über mich her: »Du hast genug! Du hast genug! Weg mit dem Glas!« Sie rief meinen Nachbarn zu Hilfe, einen gewissen Alberi, der an Körpergröße die meisten Bewohner unserer Stadt überragte, dabei dürr, mager und gesund aussah, aber, wie Giovanni, eine Brille trug. »Seien Sie doch so gut und nehmen Sie ihm das Glas aus der Hand!« Als sie sah, daß Alberi zögerte, rief sie noch einmal ganz aufgeregt und atemlos: »Herr Alberi, seien Sie doch so gut und nehmen Sie ihm das Glas weg!«

Ich wollte lachen, denn ich sagte mir, daß ein gebildeter Mann in einem solchen Falle lachen mußte, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich hatte mich erst am nächsten Tage auflehnen wollen, und wenn ich jetzt so plötzlich schon zu einer Entscheidung gedrängt wurde, so war das gewiß nicht meine Schuld. Diese Zurechtweisung vor allen Leuten war doch wirklich beleidigend. Alberi, der nach mir, meiner Frau und den Gastgebern, an deren Speisen und Getränken er sich labte, den Teufel fragte, verschlimmerte die Sache noch, indem er mich lächerlich machte. Er schielte über die Brille hinweg nach dem Glase, das ich fest umschloß, näherte ihm seine Hände, wie wenn er sich anschickte, es mir zu entreißen, und zog sie dann schnell wieder zurück, als habe er Angst vor mir, der ich ihm ruhig ins Auge sah. Alle lachten auf meine Kosten, und Giovanni machte ein solches Getöse, daß er fast den Atem verlor.

Mein Töchterchen Emma glaubte, sie müsse der Mutter zu Hilfe kommen, und sagte flehend – mir schien es maßlos übertrieben: – »Lieber Papa, nicht mehr trinken!«

Diese Unschuldige lud nun meinen ganzen Zorn auf sich. Ich fuhr sie hart und drohend an, weil ich mich sowohl als Vater wie auch wegen meines Alters, dem sie Ehrfurcht schuldete, doppelt gekränkt fühlte. Sofort schossen ihr die Tränen in die Augen, und ihre Mutter hatte genug damit zu tun, sie in ihrem Schmerz zu trösten, so daß sie mich darüber ganz vergaß.

Nun fügte es sich, daß mein Sohn Ottavio, der damals dreizehn Jahre alt war, gerade in diesem Augenblick zu seiner Mutter lief. Er hatte von dem Vorgefallenen nichts bemerkt und wußte weder, daß seine Schwester betrübt war, noch warum. Er bat, mit einigen Freunden, die ihn soeben dazu aufgefordert hätten, am nächsten Abend ins Kino gehen zu dürfen. Aber meine Frau hörte gar nicht auf ihn, weil sie ganz davon in Anspruch genommen war, Emma zu trösten.

Ich wollte mich durch einen Akt der Autorität wieder zur Geltung bringen und erteilte ihm mit lauter Stimme die Erlaubnis. »Ja, gewiß, du darfst ins Kino gehen. Ich erlaube es dir, und damit gut.« Ottavio sagte: »Danke, Papa!« und kehrte zu seinen Kameraden zurück, ohne etwas gemerkt zu haben. Schade, daß er gleich wieder fortlief. Wäre er bei uns geblieben, hätte mir der Anblick seiner Freude, die er meinem Machtwort verdankte, einigen Trost gewährt.

Die heitere Stimmung an unserm Tische war fürs erste getrübt. Ich hatte das Gefühl, daß ich mich auch der Braut gegenüber vergangen hatte, denn die ungetrübte Stimmung sollte doch für sie von guter Vorbedeutung sein. Und dabei war sie die einzige, die meinen Kummer verstand, jedenfalls schien es mir so.

Sie blickte mich mütterlich an, als wollte sie mich entschuldigen und ein freundliches Wort sagen. Man hatte bei diesem Mädchen immer den Eindruck, daß sie ihres Urteils vollkommen sicher war. Wie damals, als sie beschlossen hatte, dem weltlichen Leben zu entsagen, fühlte sie sich auch jetzt, da sie ihre Absicht aufgegeben hatte, allen andern überlegen. Sie glaubte meine Frau und meine Tochter zu durchschauen. Sie bedauerte uns, und ihre schönen grauen Augen betrachteten uns unbefangen, als wollte sie unsere Schuld ergründen. Denn wo Schmerz war, mußte wohl auch eine Schuld zu finden sein.

Darum zürnte ich meiner Frau, deren Benehmen uns diese Demütigung zugezogen hatte. Selbst der letzte der Hochzeitsgäste konnte sich uns nun überlegen fühlen. Sogar die Kinder meiner Schwägerin am untern Ende der Tafel hatten aufgehört miteinander zu schwatzen. Sie steckten die Köpfe zusammen und tauschten Bemerkungen über das Vorgefallene aus. Ich packte mein Glas und überlegte, ob ich es leeren oder an die Wand oder gar durch das Fenster werfen sollte. Schließlich entschied ich mich dafür, es in einem Zuge zu leeren. Diese Handlung war am eindrucksvollsten, weil sie meine Unabhängigkeit kundtat. Den ganzen Abend hatte der Wein mir nicht so vortrefflich geschmeckt. Ich tat ein Übriges, indem ich das Glas noch einmal füllte und ein wenig daran nippte. Aber die freudige Stimmung wollte sich nicht einstellen, und die gesteigerte Intensität, die mich belebte, war nichts anderes als Groll. Ich verfiel auf einen seltsamen Gedanken. Meine Auflehnung genügte nicht, um alles zu klären. Konnte ich nicht die Braut dazu gewinnen, sich mit mir zu verbünden? Zufälligerweise blickte sie gerade in diesem Augenblick den Bräutigam an, der sich voller Hingebung über sie neigte. Ich dachte: »Auch sie weiß es noch nicht, und doch glaubt sie es zu wissen.«

Ich entsinne mich noch, daß Giovanni sagte: »Aber laßt ihn doch trinken. Der Wein ist die Milch der alten Leute.« Ich blickte ihn an und verzog mein Gesicht zu einem Lächeln, aber ich konnte ihn nicht lieben. Ich wußte, daß ihm nichts anderes am Herzen lag, als die Wiederherstellung der heiteren Stimmung, und daß er mich beruhigen wollte, wie man ein eigensinniges Kind beruhigt, das die Unterhaltung der Erwachsenen stört.

Ich trank nur noch wenig und immer nur dann, wenn sie nach mir hinsahen, und sagte kein Wort mehr. Die andern waren alle sehr vergnügt, und ihr lautes Gerede war mir äußerst lästig. Ich wollte nicht zuhören, aber es war sehr schwer, die Ohren zu verschließen. Alberi und Giovanni waren sich in die Haare geraten, und es machte allen viel Spaß, den Fettwanst mit seinem spindeldürren Gegner streiten zu hören. Um was es ging, weiß ich nicht mehr, aber ich hörte von beiden sehr ausfallende Bemerkungen. Giovanni lag mit seinen zweiundeinemhalben Zentner bequem in einem Liegestuhl, den man ihm, um ihn zu necken, hingeschoben hatte, als das Mahl zu Ende ging, und er spähte, wie ein guter Fechter, aufmerksam nach einer Blöße des Gegners, der sich weit über den Tisch beugte und ihn mit seinen Brillengläsern anfunkelte. Auch Alberi machte keine schlechte Figur, denn, wenn er auch sehr mager war, so strotzte er doch von Gesundheit, war behende und von munterem Geiste.

Ich entsinne mich auch noch der vielen Glückwünsche und des endlosen Abschiednehmens, als die Gäste aufbrachen. Die Braut küßte mich mit einem Lächeln voll mütterlicher Güte. Ich nahm ihren Kuß zerstreut entgegen und fragte mich im stillen, wann ich wohl einmal Gelegenheit finden würde, mit ihr über die Rätsel des Lebens zu sprechen.

 

Plötzlich fiel ein Name. Es war der Name einer Freundin meiner Frau, die früher auch meine Freundin gewesen war: Anna. Ich weiß nicht, wer diesen Namen nannte, noch auch, aus welchem Anlaß, aber ich weiß, daß es der letzte Name war, den ich hörte, bevor die Gäste endlich gingen. Seit Jahren pflegte ich sie oft bei meiner Frau zu sehen, und ich begrüßte sie dann so freundschaftlich gleichgültig, wie es bei Leuten üblich ist, die keinen Grund haben, sich dagegen zu verwahren, daß sie etwa zu der gleichen Zeit und in derselben Stadt geboren wurden. Doch nun fiel mir plötzlich ein, daß sie vor vielen Jahren das Opfer der einzigen Untreue meines Lebens gewesen war. Ich hatte ihr fast bis zu dem Tage, an dem ich meine Frau heiratete, den Hof gemacht. Dann hatte ich sie rücksichtslos verlassen und gar nicht einmal den Versuch gemacht, meinen Verrat auch nur mit einem einzigen Worte zu beschönigen, und wir hatten auch später nie davon gesprochen, weil sie sich bald darauf ebenfalls verheiratet hatte und sehr glücklich geworden war. Sie hatte unsere Einladung zu der Hochzeit nicht angenommen, weil sie wegen einer leichten Influenza das Bett hüten mußte. Das war von keiner Bedeutung. Sonderbar aber und sehr bedenklich war es, daß mir nun plötzlich das Unglück, das ich ihr zugefügt hatte, auf die Seele fiel und mein Gewissen, das schon genügend beunruhigt war, noch mehr belastete. Ich hatte das Gefühl, daß ich nun die Strafe für das erleiden sollte, was ich damals gefehlt hatte. Ich hörte, wie mein Opfer, das doch aller Wahrscheinlichkeit nach der Genesung entgegenschlief, mir von seinem Bett aus in die Ohren schrie: »Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, darfst du nicht glücklich sein.« Tief bedrückt ging ich in mein Schlafgemach. Meine Gedanken lagen miteinander im Widerstreit, denn es schien mir doch eigentlich nicht ganz gerecht, wenn gerade meine Frau dazu ausersehen war, die zu rächen, die sie doch selber verdrängt hatte.

Emma kam, mir gute Nacht zu sagen. Sie sah frisch und rosig aus und lächelte. Ihren Kummer hatte sie schon ganz vergessen und strahlte von Lebenslust, wie es für ein junges und gesundes Mädchen ja auch nur natürlich war. Seit einiger Zeit hatte ich gelernt in den Seelen zu lesen, und mein Töchterchen war so durchsichtig wie klares Wasser. Mein Wutausbruch hatte ihr vor allen Leuten eine Bedeutung verliehen, die sie in voller Naivität genoß. Ich gab ihr einen Kuß und dachte bei mir, daß ich froh sein konnte, sie so heiter und zufrieden zu sehen. Gewiß hätte ich, im Interesse ihrer Erziehung, die Pflicht gehabt, ihr vorzuhalten, daß sie es mir gegenüber an dem nötigen Respekt hatte fehlen lassen. Aber ich fand nicht die richtigen Worte und schwieg. So ging sie denn fort, und mein Versuch, etwas Passendes zu finden, hatte keine anderen Folgen, als daß ich die Gedanken, die nun einmal in Bewegung gesetzt waren, aber trotz aller Bemühungen keine klare Entscheidung brachten, nicht wieder loswerden konnte. Um mich zu beruhigen, dachte ich: »Ich werde morgen mit ihr sprechen und ihr meine Gründe auseinandersetzen.« Aber es nützte nichts. Ich hatte sie gekränkt, und sie hatte mich gekränkt. Aber sie fügte zu der alten eine neue Kränkung, weil sie alles schon vergessen hatte, während ich noch immer daran dachte.

Auch Ottavio kam, sich von mir zu verabschieden. Ein seltsamer Junge. Fast schien es, als sähe er mich und seine Mutter gar nicht, als er uns eine gute Nacht wünschte. Er hatte das Zimmer schon verlassen, als ich hinter ihm herrief: »Freust du dich aufs Kino?« Er blieb stehen und dachte einen Augenblick über meine Frage nach. Dann sagte er trocken: »Ja!« und ging eilig davon. Er war sehr müde und schläfrig.

Meine Frau reichte mir die Pillenschachtel. »Sind es die richtigen?« fragte ich, während mir kalter Schweiß auf die Stirn trat.

»Ja, gewiß«, sagte sie freundlich. Sie blickte mich forschend an, und, da sie den Sinn meiner Frage nicht erriet, fügte sie zögernd hinzu: »Fühlst du dich auch wohl?«

»Sehr wohl«, antwortete ich mit fester Stimme und zog meine Stiefel aus. In diesem Augenblick spürte ich ein entsetzliches Brennen in meinem Magen. »Das hat sie nur gewollt«, dachte ich mit einer Logik, die mir erst heute etwas zweifelhaft erscheint.

Ich spülte die Pille mit einem Schluck Wasser hinunter und verspürte eine kleine Erleichterung. Ich küßte meine Frau mechanisch auf die Wange. Die Pille bot mir einen passenden Anlaß dazu, und ich konnte mir den Kuß nicht ersparen, wenn ich Diskussionen und Erklärungen vermeiden wollte. Ich konnte mich aber nicht zur Ruhe legen, ohne vorher deutlich zu erkennen gegeben zu haben, wie ich mich in dem Kampf, der für mich noch keineswegs zu Ende war, zu stellen gedachte. So sagte ich denn, während ich mich niederlegte: »Ich glaube, die Pillen haben eine bessere Wirkung, wenn sie nicht mit Wasser, sondern mit Wein genommen werden.«

Dann löschte ich das Licht, und bald verkündete mir ihr regelmäßiger Atem, daß sie ein ruhiges Gewissen hatte, das heißt also (war mein nächster Gedanke), daß ihr alles, was mich betraf, vollkommen gleichgültig war. Ich hatte sehnsüchtig auf diesen Augenblick gewartet, denn nun durfte ich doch endlich so geräuschvoll atmen, wie es mein körperlicher Zustand zu erfordern schien. Ich durfte sogar schluchzen und meinem Kummer freien Lauf lassen. Aber er wurde dadurch nur um so größer. Und außerdem stand mir doch gar nicht frei zu tun, was mir beliebte. Denn wie sollte ich dem Zorn Luft machen, der mich ganz erfüllte? Ich konnte nichts weiter tun, als darüber nachbrüten, was ich am nächsten Tage zu meiner Frau und Tochter sagen würde: »Seid ihr nur dann um meine Gesundheit besorgt, wenn es sich darum handelt, mich vor allen Leuten bloßzustellen?« Hatte ich denn nicht vollkommen recht? Da lag ich nun, von Schmerzen geplagt, und sie schliefen seelenruhig. In meinem ganzen Innern spürte ich ein heftiges Reißen und Ziehen, und meine Kehle brannte wie Feuer. Auf dem Tischchen neben meinem Bett mußte die Wasserflasche stehen. Ich streckte die Hand aus, um sie erreichen zu können. Aber ich stieß an das leere Glas, und dieses leichte Klingen genügte, um meine Frau zu wecken. Sie pflegte mit einem offenen Auge zu schlafen.

»Fühlst du dich nicht gut?« fragte eine leise Stimme. Sie wußte nicht recht, ob sie sich nicht vielleicht getäuscht hätte, und wollte mich nicht wecken. Das war leicht zu erraten, aber ich hörte seltsamerweise noch etwas anderes aus ihrer Frage heraus, nämlich die freudige Erwartung, ich möchte eingestehen, daß sie recht gehabt hätte. Deshalb verzichtete ich auf das Wasser und legte mich ganz sachte wieder hin. Sogleich verfiel sie wieder in ihren leichten Schlummer, der ihr gestattete, mich zu überwachen.

Wenn ich in dem Kampf mit meiner Frau nicht unterliegen wollte, mußte ich also versuchen zu schlafen. Ich schloß die Augen, legte mich auf die eine Seite und krümmte mich zusammen. Ich mußte diese Stellung aber gleich wieder aufgeben. Doch zwang ich mich, die Augen geschlossen zu halten. Aber ich mochte mich legen, wie ich wollte, immer hatte ein Teil meines Körpers darunter zu leiden. Ich dachte: »Mit einem solchen Körper kann man nicht schlafen.« Ich war vollkommen wach und in Bewegung. Wer aber in Bewegung ist, kann nicht schlafen. Ich hatte das Gefühl, als ob ich liefe. Daher kam auch meine Atemnot und daher das Getrampel meiner Schritte, das Stampfen schwerer Schuhe, das mir im Ohr dröhnte. Ich dachte, vielleicht bewege ich mich im Bett zu vorsichtig, als daß ich sofort und mit allen Gliedern die richtige Stellung finden könnte. Man durfte sie nicht suchen. Man durfte nichts dagegen tun, daß alles den Platz fand, der seiner Form entsprach. So warf ich mich denn heftig herum. Doch sogleich hörte ich meine Frau flüstern: »Fühlst du dich schlecht?« Hätte sie andere Worte gebraucht, würde ich ihr geantwortet und sie um Hilfe gebeten haben. Aber auf diese Worte, die mich kränkten, weil sie auf unseren Streit anspielten, wollte ich keine Antwort geben.

Es konnte doch nicht so schwer sein, ruhig im Bett zu liegen. Warum sollte das wohl schwierig sein? Ich dachte an alle die schwierigen Dinge, die uns zu schaffen machen, und sagte mir, mit ihnen verglichen, müßte es doch die leichteste Sache von der Welt sein, im Bett zu liegen, ohne etwas zu tun. Jeder Tote kann doch ruhig liegen. Ich war also fest entschlossen, mich nicht mehr zu bewegen und erfand eine komplizierte, aber unglaublich zweckmäßige Stellung. Ich schlug die Zähne in das obere Ende des Kopfkissens und krümmte mich derart zusammen, daß auch die Brust auf dem Kissen ruhte, während das rechte Bein über dem Bettrand hing und fast den Boden berührte, das linke aber sich fest im Laken verankerte und mich trug. Ja: ich hatte ein neues System entdeckt. Nicht ich hielt mich am Bett, sondern das Bett hielt mich. Diese Überzeugung von meiner eigenen Untätigkeit bewirkte, daß ich meine Stellung nicht veränderte, als die Beklemmung immer unerträglicher wurde. Als ich aber schließlich nachgeben mußte, tröstete mich der Gedanke, daß doch nun wenigstens ein Teil dieser furchtbaren Nacht überstanden war. Auch wurde ich für meine befreiende Tat, die mich von dem Bett unabhängig gemacht hatte, dadurch belohnt, daß ich mich erleichtert fühlte, wie ein Kämpfer, der sich aus der Umklammerung des Gegners gelöst hat.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich ruhig liegen blieb. Ich war müde. Mit Verwunderung bemerkte ich hinter meinen geschlossenen Augenlidern den seltsamen Widerschein von lodernden Flammen, die wohl von dem Brande herrühren mußten, der in meinem Innern wütete. Es waren aber keine wirklichen Flammen, sondern nur scheinbare. Sie fingen an, durcheinander zu gleiten und sich zu rundlichen Körpern oder vielmehr Tropfen einer zähen, dicken Flüssigkeit zusammenzuschließen. Sie waren von einem sanften Blau, aber leuchtend rot umrandet, und sie hingen irgendwo hoch oben, zogen sich in die Länge, lösten sich los und stürzten in die Tiefe, wo sie verschwanden. Ich hatte von Anfang an den Eindruck, daß diese Tropfen mich sehen konnten. Aber, um mich besser sehen zu können, verwandelten sie sich in lauter kleine Augen. Noch während sie sich, kurz vor dem Sturz in die Tiefe, in die Länge zogen, glitt der blaue Schleier zur Seite und legte ein wirkliches Auge voller Bosheit und Tücke frei. Unaufhörlich tropften die Augen hernieder, und ich merkte wohl, daß sie es auf mich abgesehen hatten. Voller Angst warf ich mich in meinem Bett herum und stöhnte: »Oh, mein Gott!«

»Ist dir schlecht?« fragte meine Frau.

Ich konnte nicht gleich antworten, denn ich bemerkte, daß ich nicht mehr in meinem Bette lag, sondern mich auf einer steilen Anhöhe zu halten suchte, während ich doch langsam abwärts glitt. Ich rief: »Ja, mir ist schlecht, mir ist sehr schlecht!«

Meine Frau hatte eine Kerze angezündet und stand in ihrem rosafarbenen Nachthemd neben mir. Das Licht beruhigte mich, und ich hatte ganz deutlich das Gefühl, geschlafen zu haben und gerade in diesem Augenblick aufgewacht zu sein. Das Bett stand wieder horizontal gerichtet, und es machte mir keine Mühe, darin zu liegen. Ich betrachtete meine Frau verwundert, denn da ich nun wußte, daß ich geschlafen hatte, schien es mir durchaus nicht mehr sicher, daß ich überhaupt um Hilfe gerufen hatte. »Was willst du?« fragte ich. Sie sah mich schlaftrunken mit müden Augen an. Mein Ruf hatte wohl genügt, sie aus dem Bett zu jagen, aber nicht, ihr das Verlangen nach Ruhe zu nehmen. Und deshalb legte sie im Augenblick auch keinen Wert darauf, recht zu haben. Um nur schnell wieder ins Bett zu kommen, fragte sie: »Willst du von den Tropfen, die der Doktor dir für den Schlaf verordnet hat?«

Ich zögerte mit der Antwort, wenngleich mich sehr danach verlangte, mir eine Erleichterung zu verschaffen. »Wenn du willst«, sagte ich, bemüht, den Eindruck zu erwecken, als wäre mir alles gleich. Tropfen zu nehmen bedeutete ja noch nicht, daß man zugab, sich elend zu fühlen.

Einige wenige Augenblicke genoß ich einen tiefen Frieden. Das dauerte so lange, wie meine Frau in ihrem rosafarbenen Hemde neben mir stand und bei dem schwachen Licht der Kerze meine Tropfen abzählte. Das Bett war ein richtiges, horizontales Bett, und wenn ich die Augenlider schloß, war jedes Licht ausgelöscht. Ich öffnete sie aber von Zeit zu Zeit, und das gedämpfte Rosa des Hemdes in dem sanften Licht der Kerze wirkte nicht minder beruhigend als die vollkommene Dunkelheit. Meine Frau hatte aber keine Neigung, mir ihren Beistand länger zu gewähren, als unbedingt notwendig war. So fand ich mich denn bald wieder der Nacht überantwortet und mußte allein meinen Kampf kämpfen, um Frieden zu erlangen.

Ich erinnerte mich, daß ich, als ich noch jung war, oft den Schlaf dadurch erzwungen hatte, daß ich mir eine recht häßliche alte Frau vorstellte, damit sie die schönen Gaukelbilder verjagte, die meinen Schlummer störten. Jetzt dagegen durfte ich gefahrlos die Schönheit beschwören, und sie würde mir sicher helfen. Das war der Vorteil – der einzige – des Alters. So rief ich denn verschiedene schöne Frauen, die ich in meiner Jugend begehrt hatte. Damals war an schönen Frauen kein Mangel gewesen. Aber sie kamen nicht. Sie gewährten sich mir auch jetzt noch nicht. Ich ließ nicht ab, sie aus der Vergangenheit heraufzubeschwören, bis endlich eine einzige schöne Gestalt der Nacht entstieg: Anna. Es war Anna, wie sie vor vielen Jahren ausgesehen hatte, aber ihr schönes, von Gesundheit leuchtendes Gesicht hatte einen traurigen Ausdruck und blickte mich vorwurfsvoll an. Sie wollte mir nicht den Frieden bringen, sondern die Qualen des schlechten Gewissens. Ich konnte sie nicht mißverstehen, und da sie nun einmal da war, begann ich mit ihr zu rechten. Gewiß, ich hatte sie verlassen, aber sie hatte sofort einen andern geheiratet. Das war ihr gutes Recht. Aber dann hatte sie ein Mädchen zur Welt gebracht, das jetzt fünfzehn Jahre alt war, und das wohl ihre zarte Haut und ihr goldenes Haar bekommen hatte, aber sonst dem Vater glich, den sie ihr ausgesucht hatte. Aus den sanften Wellen ihres Haares waren krause Locken geworden, die Wangen waren übermäßig groß, der Mund zu breit und die Lippen aufgeworfen. Die Züge der Mutter, mit denen des Vaters vermischt, waren wie ein schamloser Kuß vor aller Welt. Was wollte sie also noch von mir, da nun doch offenkundig war, wie oft sie ihren Gatten umschlungen hatte?

Nun glaubte ich, – zum erstenmal an diesem Abend – gesiegt zu haben. Anna blickte mich nicht mehr so vorwurfsvoll an, als sähe sie ein, mir Unrecht getan zu haben. Nun war sie mir auch nicht länger unwillkommen. Sie mochte gern bleiben. Ich glaubte sie überzeugt und konnte nun wieder ihre Güte und Schönheit bewundern. Bald schlief ich ein.

 

Ein gräßlicher Traum. Ich befand mich in einem komplizierten Bau, den ich aber sofort verstand, wie wenn ich selber ein Teil von ihm gewesen wäre. Es war eine sehr weite Grotte mit rohen Wänden und ohne jene phantastischen Gebilde, die die Natur in ihrer Laune zu schaffen liebt, und daher war sie sicher ein Werk von Menschenhand. Es war sehr dunkel in der Grotte. Ich saß auf einem hölzernen Dreifuß neben einem Gehäuse aus Glas, das ein schwaches Licht ausstrahlte. Denn einen andern Ursprung des Lichtes, das von ihm ausging, vermochte ich nicht zu entdecken, und so mußte es wohl selber eine Eigenschaft des Gehäuses sein. Es war aber das einzige Licht in der weiten Grotte, und es beleuchtete nur mich selber und eine Wand aus großen, unbehauenen Steinen auf zementiertem Untergrunde. Wie ausdrucksvoll sind doch die Bauwerke des Traumes! Man wird sagen: sie sind so ausdrucksvoll, weil man natürlich leicht verstehen kann, was man selber geschaffen hat. Das ist wohl richtig. Aber das Merkwürdige ist, daß der Baumeister gar nichts davon weiß, daß er sie geschaffen hat, und daß er nicht einmal, wenn er wieder wach ist, sich darauf besinnt. Daher wundert er sich wohl darüber, daß man in jener Welt, in der er eben noch weilte, und in der die Bauwerke so leicht aus dem Nichts emporsteigen, alles ohne Mühe und ohne erklärende Worte versteht.

So war mir denn ohne weiteres klar, daß die Menschen diese Grotte gebaut hatten, um sie für Heilzwecke zu verwenden. Ich wunderte mich auch keineswegs darüber, daß die Kulthandlung, zu der sie sich versammelt hatten (es mußten ihrer sehr viele sein), ein Opfer erforderte, und daß dieses Opfer den Tod erleiden mußte, damit die andern geheilt werden konnten.

Ich erriet auch ohne Mühe, daß sie mich neben das gläserne Gehäuse gesetzt hatten, in dem das Opfer den Erstickungstod erleiden sollte, weil ich dazu ausersehen war, für die andern zu sterben. Schon spürte ich die Schmerzen des furchtbaren Todes, der mich erwartete. Ich litt an Atemnot. Der Kopf tat mir weh, und er war so schwer, daß ich die Ellbogen auf die Knie stützen mußte, um ihn mit den Händen halten zu können.

Da hörte ich plötzlich, wie die Leute, die in der dunklen Grotte versammelt waren, zu sprechen begannen. Und nun bestätigten sie mir, was ich schon wußte. Meine Frau sprach zuerst. »Beeile dich«, sagte sie. »Du weißt doch, daß der Doktor gesagt hat, du sollst in das Gehäuse gehen.« Das schien mir zwar schmerzlich, aber durchaus begreiflich. Darum widersprach ich auch nicht, aber ich tat so, als hätte ich nichts gehört. Und ich dachte bei mir: »Die Liebe meiner Frau ist mir schon immer verdächtig gewesen.« Da erhoben sich viele andere Stimmen und riefen zornig: »Wird es nun bald? Werden Sie endlich gehorchen?« Ich erkannte deutlich die Stimme des Doktors Paoli. Darauf ließ sich nichts entgegnen, aber ich dachte: »Er tut es, weil er dafür bezahlt wird.«

Ich erhob das Gesicht, um noch einmal das gläserne Gehäuse zu betrachten, das mich erwartete. Da sah ich, daß die Braut auf dem Deckel saß. Auch an diesem Ort war ihre Miene ruhig und selbstbewußt. Ich hielt sie für sehr einfältig, aber ich merkte sofort, daß sie für mich von größter Wichtigkeit war. Das war nicht schwer zu erraten, da sie ja auf dem Werkzeug saß, das dazu dienen sollte, mich zu töten. Ich sah sie demütig an und hätte am liebsten wie ein Hündchen, das um sein Leben bittet, mit dem Schweif gewedelt. Welche Verirrung!

Aber die Braut begann zu sprechen. Ohne jede Erregung, als wäre es die natürlichste Sache von der Welt, sagte sie: »Onkel, dies Gehäuse ist für dich bestimmt.«

So mußte ich denn also allein um mein Leben kämpfen. Auch das erriet ich. Ich hatte das Gefühl, daß ich eine gewaltige Kraft ausstrahlen konnte, ohne daß jemand es merkte. Wie ich vorher die Fähigkeit in mir gespürt hatte, den Richter für mich günstig zu stimmen, so fühlte ich jetzt, ohne recht zu begreifen, wie, die Fähigkeit zu kämpfen, ohne mich von der Stelle zu bewegen, und so meine Gegner zu überfallen, ohne daß sie vorher gewarnt waren. Die Wirkung ließ nicht auf sich warten. Unversehens saß Giovanni, der große Giovanni, in dem leuchtenden Glasgehäuse, und zwar auf einem Dreifuß, der meinem ähnlich war, und in derselben Stellung wie ich. Da das Gehäuse zu niedrig war, mußte er sich vornüber neigen. Seine Brille hielt er in der Hand, damit sie ihm nicht von der Nase fiele. Es sah aber so aus, als habe er sie nur abgenommen, um den Blick nach innen zu kehren und ungestört darüber nachdenken zu können, wie er ein Geschäft, das er im Sinne hatte, am besten einfädeln sollte. Und wirklich konnte man in seinen Augen einen boshaften Schimmer bemerken, der verriet, daß er, obwohl schweißbedeckt und schon ziemlich atemlos, weniger an den nahen Tod dachte, als vielmehr daran, sich vermöge derselben Kraft, die ich mir vor kurzem dienstbar gemacht hatte, aus dem Gehäuse zu befreien. Deshalb bedauerte ich ihn auch keineswegs, sondern fürchtete ihn.

Auch Giovanni glückte sein Bemühen. Bald saß Alberi, der lange magere, zähe Riese, an seinem Platz und in derselben Stellung, die aber für ihn wegen seiner ungewöhnlichen Körpermaße noch viel unbequemer war. Er war richtig zusammengepreßt, und er hätte mir auch leid getan, wenn er, bei all seiner Atemnot, nicht so boshaft ausgesehen hätte. Er schielte nach mir mit einem tückischen Lächeln, denn er wußte wohl, daß es nur von ihm abhing, dem Tode zu entgehen.

Da begann die Braut, die auf dem Gehäuse saß, wieder zu sprechen: »Jetzt, Onkel,« sagte sie, »ist doch sicher die Reihe an dir.« Sie formte ihre Worte mit pedantischer Sorgfalt. Und ein anderer Ton gesellte sich dazu, der von fernher, aus der Höhe, ihre Worte begleitete. Aus diesem Ton, der, langgezogen, offenbar von jemand herrührte, der sich eilig entfernte, konnte ich entnehmen, daß sich am Ende der Grotte ein steiler Gang befinden mußte, der an die Oberfläche der Erde führte. Es war aber eigentlich mehr ein Zischen, das die Worte der Braut beifällig begleitete. Es kam von Anna, die mir auf diese Weise noch einmal ihren Haß bezeugen wollte. Sie hatte nicht den Mut, ihn in Worte zu kleiden, weil ich sie wirklich überzeugt hatte, daß sie gegen mich mehr gefehlt hatte, als ich gegen sie. Aber die Überzeugung hilft zu gar nichts, wenn man haßt.

Alle waren gegen mich. In Erwartung meines Opfertodes ging meine Frau mit dem Doktor in irgendeinem entlegenen Teile der Grotte auf und ab. Ohne sie sehen zu können, wußte ich, daß sie sehr zornig war. Sie bewegte aufgeregt ihre Hände und zählte alle meine Missetaten auf, den Wein, die Speisen, meine Grobheit gegen sie und meine kleine Tochter.

Ich fühlte, wie Alberis Blick, den er triumphierend auf mich gerichtet hielt, mich unwiderstehlich nach dem Gehäuse zog. Ich näherte mich ihm langsam mit meinem Sitze, und nur wenige Millimeter auf einmal, aber ich wußte, wenn ich nur noch einen Meter entfernt war (so wollte es das Gesetz), dann würde ich mit einem Sprunge drinnen sein und nach Luft schnappen.

Aber es gab noch eine Hoffnung auf Rettung. Giovanni, der sich von den Anstrengungen seines schweren Kampfes vollkommen erholt hatte, war neben dem Gehäuse erschienen. Er brauchte es nämlich nicht mehr zu fürchten, weil er schon drinnen gewesen war (auch dies war Gesetz). Er stand aufrecht im vollen Lichte und sah bald nach Alberi, der nach Luft schnappte und mich drohend anblickte, bald nach mir, der ich mich langsam dem Gehäuse näherte.

Ich schrie: »Giovanni! Hilf mir, ihn drinnen zu halten. Ich werde dir dafür viel Geld geben.« Die ganze Grotte hallte von meinem Geschrei wider, und es klang wie Hohngelächter. Da begriff ich, daß es keinen Zweck hatte zu bitten. Nicht wer zuerst in das Gehäuse gelangte, mußte sterben, auch nicht der Zweite, sondern der Dritte. Auch dies war ein Gesetz der Grotte, und, wie alle andern, kehrte es sich gegen mich. Es wurde mir schwer, einzusehen, daß es nicht erst in diesem Augenblick gemacht worden war, um mich zu vernichten. Giovanni antwortete nicht einmal. Er zuckte nur mit den Achseln, als wollte er sagen, es täte ihm leid, daß er nicht helfen und mir die Rettung verkaufen könnte.

Da schrie ich noch einmal: »Wenn es nicht anders sein kann, dann nehmt meine Tochter. Sie schläft nebenan. Es wird nicht schwer sein.« Auch diese Worte erweckten ein gewaltiges Echo. Das war sehr störend, aber ich schrie um so lauter, damit meine Tochter mich hörte: »Emma! Emma! Emma!«

Und wirklich ertönte aus der Tiefe der Grotte Antwort. Ich hörte Emmas noch so kindliche Stimme: »Hier bin ich, Papa. Hier bin ich.«

Ich glaube, es dauerte einige Zeit, bis ich antwortete. Denn plötzlich erfolgte eine völlige Veränderung, woraus ich schloß, daß ich in das Gehäuse gesprungen war. Ich dachte noch: »Daß dieses Mädchen doch niemals auf der Stelle gehorchen kann!« – Diesmal wurde ihr Säumen zu meinem Verhängnis, und ich zürnte ihr sehr.

 

Ich wachte auf. Das war die große Veränderung gewesen: der Sprung aus der einen Welt in die andere. Mein Kopf und Oberkörper hingen über den Bettrand hinaus, und ich wäre gefallen, wenn meine Frau nicht herbeigeeilt wäre, um mich zu halten. Sie fragte: »Hast du geträumt?« Und dann setzte sie gerührt hinzu: »Du hast deine Tochter gerufen. Siehst du wohl, wie lieb du sie hast?«

Ich war wie geblendet, als ich in die Wirklichkeit zurückkehrte, in der mir alles entstellt und gefälscht erschien. Ich sagte zu meiner Frau, damit auch sie die Wahrheit erkennen sollte: »Wie werden unsere Kinder es uns je verzeihen können, daß sie uns dieses Leben verdanken?«

Doch sie entgegnete in ihrer Einfalt: »Unsere Kinder sind glücklich, daß sie leben dürfen.«

Ich aber fühlte mich noch immer von dem Leben, das ich für das eigentlich wahre hielt – ich meine das Leben des Traumes –, befangen, und ich wollte die Wahrheit bekennen: »Weil sie noch nichts wissen.«

Dann schwieg ich und hing meinen Gedanken nach. Das Fenster neben meinem Bett wurde hell, und da begriff ich, daß ich mich meines Traumes schämen mußte, und daß er nicht das Licht des Tages vertrug. Ich durfte ihn nicht erzählen. Als die Sonne aber mit ihrem sanften und doch klaren Licht das Zimmer erfüllte, erkannte ich, daß ich mich nicht zu schämen brauchte. Denn das Leben des Traumes war nicht mein wahres Leben. Ich war nicht jener Schwächling, der sich aus Angst wie ein Hund entwürdigte, und der, um sich selber zu retten, bereit war, die eigene Tochter zu opfern.

Deshalb durfte ich aber auch niemals in jene furchtbare Grotte zurückkehren, und deshalb wurde ich folgsam und fügte mich bereitwillig den Vorschriften des Arztes. Sollte ich aber doch noch einmal, zwar ohne meine Schuld, also nicht infolge übermäßig genossenen Weines, sondern in den Fieberschauern der letzten Stunde, in jene Grotte zurückkehren müssen, dann würde ich, ohne zu zögern, in das gläserne Gehäuse springen und mich nicht wieder demütigen und an mir selber Verrat üben.


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