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IV

Der 3. November 1918 war für Triest ein Tag von geschichtlicher Bedeutung und daher für einen Scherz nicht eigentlich gut gewählt.

Es war gegen acht Uhr abends. Auf Wunsch Giulios, der von der Landung der Italiener gehört hatte und deshalb in seinem Bett nach weiteren Neuigkeiten hungerte, begab Mario sich nach seinem Kaffeehause, wo er jenes mit Sacharin gesüßte Gepansch zu trinken pflegte, das man als Kaffee anzusehen sich gewöhnt hatte.

Von seinen Bekannten fand er dort nur Gaia, der sich auf einem Sofa ausruhte, nachdem er ein paar Stunden auf den Beinen gewesen war. Es läßt sich leider nicht leugnen, daß Gaia wirklich wie der Geist des Bösen aussah. Dabei war er aber keineswegs häßlich. Die weißen Haare des erst Fünfundfünfzigjährigen hatten einen metallischen Glanz, in dem sich das Licht spiegelte, während der Bart, der die schmalen Lippen bedeckte, vollkommen braun war. Gaia war mager und ziemlich klein. Man hätte ihn daher wohl für flink und beweglich halten können, wenn seine Haltung nicht gar so schlecht gewesen wäre, und wenn sein kleiner, schwächlicher Körper nicht die Last eines Bäuchleins hätte tragen müssen, eines Bäuchleins, das in gar keinem Verhältnis zu dem Körper stand und mehr nach unten hing, als es bei Leuten, die ihre Körperfülle der Untätigkeit oder dem Appetit verdanken, der Fall zu sein pflegt. Kurz, es war einer jener Bäuche, die man in Deutschland, wo man es doch wissen muß, der Wirkung des Biers zuschreibt. Seine kleinen schwarzen Augen funkelten von fröhlicher Bosheit und Selbstzufriedenheit. Er hatte die Stimme eines Säufers, und da er den Grundsatz hatte, immer etwas lauter zu sprechen als sein Unterredner, klang sie bisweilen wie ein heiseres Bellen. Er hinkte wie Mephistopheles, aber, im Gegensatz zu diesem, nicht immer auf demselben Bein, da ihn sein Rheuma bald auf der rechten Seite packte, bald auf der linken.

Mario war zwar älter als Gaia, aber trotz seines vollkommen weißen Haares machte er mit seinem rosigen, heiteren, frischen Gesicht einen sehr jugendlichen Eindruck, wie es zumeist bei Leuten der Fall ist, die stets ein geordnetes Leben geführt haben.

Gaia erzählte aufgeregt von den Erlebnissen des Vormittags. Er sprach mit rednerischer Begeisterung, denn nun war der Augenblick gekommen, wo er seinen Patriotismus, der vor der Ankunft der Italiener nicht sehr groß gewesen war, ein wenig aufblasen mußte. Darauf aber verstand er sich vortrefflich, denn er mußte ja immer bereit sein, sich für jeden beliebigen Gegenstand zu begeistern, sobald es denen, die seine Kunden waren oder werden konnten, so gefiel.

Wenn man die Worte, die Mario damals sagte, so viele Jahre später vernimmt, könnte man meinen, daß auch sie nicht frei von Rhetorik waren. Man darf aber nicht vergessen, daß an jenem Tage selbst die Worte – besonders im Munde aller, deren Schicksal es gewesen war, untätig zu bleiben – die Pflicht hatten, kräftig und heroisch einherzuschreiten. Mario versuchte daher, sich der Situation gewachsen zu zeigen, und da fiel ihm begreiflicherweise ein, daß er ein Schriftsteller war. Seine besten Kräfte wurden wach, als er sich der geschichtlichen Bedeutung der Stunde bewußt wurde. Er sagte wörtlich: »Ich wünschte, ich könnte beschreiben, was ich heute fühle.« Und nach kurzem Zögern: »Man müßte die Worte mit einer goldenen Feder auf illuminiertem Pergament aufzeichnen.«

Dieser Wunsch ging ins Leere, denn, wie vieles andere, fehlten goldene Federn und illuminierte Pergamente damals in Triest durchaus. Aber Gaia faßte die Sache ganz anders auf, und er geriet in eine richtige Säuferwut. Es schien ihm ungeheuerlich, daß Samigli es wagte, angesichts eines Ereignisses von geschichtlicher Bedeutung seiner eigenen Feder auch nur Erwähnung zu tun. Er preßte die Lippen aufeinander, als wollte er im Munde eine grobe Beleidigung verbergen, die sich dort ganz von selber formte. Dann öffnete er die Faust, die sich ohne sein Wissen geschlossen hatte, während er die rosige Nase des Literaten betrachtete. Aber wirksamer als Worte und wirksamer als die Faust war ein Gedanke, der schon lange in ihm geschlummert und dem nur noch die Reife gefehlt hatte, zu der es sorgsamer Erwägung bedarf, und wie ein Explosivstoff, den ein Zufall in die Nähe des Feuers brachte, entlud sich nun das Unheil über dem Haupte des armen Mario. So machte Gaia die Erfahrung, daß auch ein Scherz improvisiert werden kann wie jedes andere Kunstwerk. Er glaubte freilich nicht an einen Erfolg, und deshalb schickte er sich bereits an, sich selber zu entlarven, nachdem er dem eingebildeten Literaten auf diese Weise seine Verachtung bewiesen hatte. Mario aber hatte so gut angebissen, daß es viele Mühe gekostet hätte, ihn von der Angel wieder zu befreien. Gaia ließ also den Scherz am Leben, da er bedachte, wie wenig Unterhaltung man in Triest doch eigentlich hatte. Man mußte sehen, daß man sich für die gar zu lange Zeit ernster Lebensführung etwas schadlos hielt.

Er eröffnete den Angriff mit Ungestüm: »Ich habe ganz vergessen, dir etwas zu sagen. Aber an einem solchen Tage vergißt man ja alles. Weißt du, wen ich in der begeisterten Zuschauermenge gesehen habe? Den Vertreter des Verlages Westermann in Wien. Ich näherte mich ihm, um ihn zu necken. Er, der nicht ein Wort Italienisch spricht, tat nämlich ganz begeistert. Aber statt sich getroffen zu fühlen, sprach er plötzlich von dir. Er fragte mich, wie weit du an den Verleger deines Romans ›Eine Jugend‹ vertraglich gebunden wärest. Wenn ich nicht irre, hast du ihm dein Buch verkauft?«

»Keineswegs!« ereiferte sich Mario. »Es gehört mir, mir ganz allein! Ich habe die Druckkosten bis auf den letzten Centesimo bezahlt, und von dem Verleger habe ich nie etwas erhalten.«

Der Geschäftsreisende schien dem, was er da hörte, große Bedeutung beizumessen. Er wußte wohl, was für ein Gesicht man machen muß, wenn sich einem plötzlich, ohne daß man etwas ahnte, die Möglichkeit eröffnet, ein gutes Geschäft zu machen. Er machte nämlich mindestens einmal täglich dieses Gesicht. Er krümmte sich zusammen wie ein Bogen, als ob er im nächsten Augenblick los springen wollte. »Dann besteht also die Möglichkeit, den Roman zu verkaufen?« rief er. »Wie schade, daß ich das nicht gewußt habe! Wenn man nun den Deutschen heute noch ausweist? Dann ist es Essig mit dem Geschäft. Denke dir, bloß um mit dir zu verhandeln, ist er nach Triest gekommen!«

Mario war empört. Und man muß mit einiger Überraschung feststellen, daß die Empörung sein erstes Gefühl war, als er von seinem unerwarteten Erfolge hörte, während er in den langen Jahren vergeblichen Wartens die Empörung nie kennengelernt hatte. Wie hatte Gaia nur glauben können, daß der Roman ihm nicht mehr gehörte? Wer hatte in all den Jahren jemals gefragt, ob er ihn erwerben könne? Er fühlte einen furchtbaren Zorn, der um so unerträglicher war, weil ihm plötzlich klar wurde, daß er ihn nicht zeigen durfte. Er war nun ganz in Gaias Händen, und er sah ein, daß er ihn nicht beleidigen durfte. Aber der Gedanke schmerzte ihn, daß er sich in den Händen eines Menschen befand, der ihn mit seinem Leichtsinn zugrunde zu richten drohte.

Man bedenke, wie die Welt in jenen Tagen völlig aus den Fugen geraten war. Wenn der Vertreter des Verlages in der Menge verschwunden war und nicht von selber wieder auftauchte – was unwahrscheinlich war, da er doch des Glaubens sein mußte, daß ein anderer schon das Geschäft gemacht hatte, das er selber hatte machen wollen –, würde man unmöglich seine Spur wiederfinden können. Niemals hatte die Welt eine solche Menschenmenge in Bewegung gesehen, wie sie sich damals zwischen Triest und Wien an die wenigen Eisenbahnzüge anhängte oder wie ein unendlicher Strom auf den Landstraßen dahinwälzte. Zu dem fliehenden Heere gesellten sich Bürger, die auswanderten oder in ihr Vaterland zurückkehrten, und alle waren unbekannt und namenlos wie Scharen wilder Tiere, die vor dem Feuer oder der Hungersnot fliehen.

Nicht einen einzigen Augenblick zweifelte Mario daran, daß Gaias Mitteilung völlig auf Wahrheit beruhte. Da sein Roman jeden Abend im Zimmer seines Bruders Triumphe feierte, mußte er um so eher zur Leichtgläubigkeit geneigt sein. Und als er, viel später, von dem Komplott erfuhr, das zu seinem Schaden angezettelt worden war, entwarf er, um seine Gutgläubigkeit vor sich selber zu entschuldigen, jene Fabel, in der erzählt wird, daß viele Vögel umkamen, weil zwei Menschen sich an demselben Orte niederließen, von denen der eine gut und mildtätig, der andere aber schlecht war. Zuerst streute der gute Mensch den Vögeln eine lange Zeit Brot, dann aber kam der schlechte Mensch mit seinem Vogelleim – genau so, wie es in einem kleinen Buch beschrieben wird, das mit wissenschaftlicher Gründlichkeit lehrt, den Gefiederten Fallen zu stellen. Natürlich werden wir es hier nicht nennen.

Gaia verstand es meisterhaft, sich Marios Seelenzustand, der sich vor ihm hüllenlos zeigte, zunutze zu machen. Wenn er sich aber für sehr schlau hielt, so irrte er sich. Er war nicht schlauer als ein ganz gewöhnlicher Jäger, der die Gewohnheiten des zu jagenden Wildes kennt. Vielleicht übertrieb er sogar in dem Bestreben, recht schlau zu Werke zu gehen. Bevor er sich auf die Suche nach jener so überaus wichtigen Persönlichkeit machte, die vielleicht schon im Begriff war, Triest zu verlassen, verlangte er von Mario eine schriftliche Erklärung, in der ihm eine Provision von fünf Prozent zugesichert wurde. Mario fand die Forderung angemessen, aber da man warten mußte, bis der langsame Kellner die Feder und das Papier herbeigeschafft hatte, schlug er, um nur ja keine Zeit zu verlieren, Gaia vor, sofort aufzubrechen. Er würde inzwischen die Erklärung aufsetzen und sie ihm am nächsten Tage aushändigen. Aber Gaia war damit nicht einverstanden. Um sicher zu gehen, müßte man Geschäfte ordnungsgemäß abschließen. So wurde die Erklärung denn mit aller erdenklichen Sorgfalt aufgesetzt. Mario verpflichtete sich und seine Rechtsnachfolger, Gaia die Provision für jeden Betrag zu zahlen, der ihm für jetzt oder in Zukunft von dem Verlage Westermann zukommen würde. Aus freien Stücken fügte Mario noch einen Ausdruck seiner Dankbarkeit hinzu, der aber eine Lüge war, da nur der Wunsch, seinen Groll zu verbergen, ihn dazu veranlaßte. Denn erstens und vor allem zürnte er Gaia wegen der Leichtfertigkeit, mit der er seine Interessen gefährdet hatte, und zweitens grollte er ihm – wenn auch bei weitem nicht in gleichem Maße – wegen des Mißtrauens, das er gezeigt hatte, als er auf einer sofortigen Aushändigung der Erklärung bestand.

Nun hatte es plötzlich auch Gaia sehr eilig, und er rannte fort, da er das dringende Verlangen spürte, sich endlich einmal ordentlich auszulachen. Mario hätte ihm gern beim Suchen geholfen, um die qualvolle Zeit des Wartens abzukürzen, aber Gaia wünschte es nicht. Zuerst mußte er im Geschäft vorsprechen, dann wollte er zu einem Kunden laufen, um von ihm vielleicht die Adresse des Deutschen zu erfahren, und schließlich wollte er einen gewissen Ort aufsuchen, an den ihn der keusche Mario zweifellos nicht würde begleiten wollen, wo er aber den Deutschen sicher finden würde, wenn er Triest noch nicht verlassen hätte.

Bevor er sich von Mario trennte, suchte er ihn wieder heiter zu stimmen, indem er ihm bewies, daß der Fehler, den er gemacht hätte, nicht von Belang wäre. Es fiele ihm eben ein, erklärte er, daß der Vertreter Westermanns zwar deutsche Eltern habe, daß er selber aber in Istrien geboren sei. Er sei also auf Grund seiner Geburt italienischer Staatsangehöriger geworden und könne daher nicht ausgewiesen werden.

Dies war das einzigemal im Verlaufe der ganzen Angelegenheit, daß Gaia zeigte, wie gerissen er war. Er hatte nämlich wohl gemerkt, daß Mario sehr böse war, und dieser Augenblick schien ihm wenig geeignet, ihn nutzlos zu reizen.

Als Mario daher das Kaffeehaus verließ und in die dunkle Nacht hinaustrat, zweifelte er nicht mehr an seinem sicheren Erfolge. Das wäre nicht der Fall gewesen, wenn er noch Grund gehabt hätte zu fürchten, daß der Deutsche vielleicht gezwungen worden wäre, Triest zu verlassen. Er atmete die kühle Nachtluft in vollen Zügen ein, und noch nie hatte sie ihn so köstlich gedünkt. Er versuchte die große Aufregung, die ihm den Atem benahm, etwas herabzumindern und bemühte sich, das ganze Abenteuer als etwas gar nicht so Ungewöhnliches zu betrachten. Er verdiente einfach den Erfolg, und daß er ihm nun zufiel, war doch die natürlichste Sache auf der Welt. Sonderbar war nur, daß er ihm nicht schon früher zugefallen war. Die ganze Literaturgeschichte war ja voll von berühmten Männern, die doch nicht etwa schon von Geburt an berühmt gewesen waren. Eines Tages war der wirklich bedeutende Kritiker (weißer Bart, hohe Stirn, durchdringender Blick) gekommen, oder auch ein gerissener Geschäftsmann, ein Gaia etwa, der doch schließlich etwas bedeutender war als ein Brauer – da dieser durch die jahrelange Tätigkeit in abhängiger Stellung zu schwerfällig geworden war, um schöpferisch wirken zu können –, und plötzlich waren sie berühmt. Denn es genügt nicht, daß ein Schriftsteller den Ruhm verdient. Wenn er berühmt werden will, ist er auf die Mithilfe eines oder mehrerer anderer angewiesen, die ihren Einfluß auf die stumpfe Masse geltend machen. Diese liest dann, was die andern ihr ausgewählt und empfohlen haben. Das ist zwar etwas lächerlich, läßt sich aber nicht ändern. Es kommt auch vor, daß der Kritiker von dem Handwerk anderer Leute nichts versteht und der Verleger (der Geschäftsmann) nichts von seinem eigenen. Das Ergebnis ist das gleiche. Wenn aber beide sich verbünden, ist das Glück des Autors, auch wenn er es nicht verdient, für längere oder kürzere Zeit gemacht.

Mario war einsichtig genug, die Dinge so zu sehen, weniger Einsicht aber bewies er, als er ruhig hinzufügte: »Es ist nur gut, daß die Dinge in meinem Falle denn doch ein wenig anders liegen.«

Weshalb war zu ihm der Geschäftsmann und nicht der Kritiker gekommen? Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß sicher ein Kritiker Westermann zu diesem Geschäft geraten hatte. Und solange der Scherz dauerte, träumte er von diesem Kritiker. Er versuchte, sich sein Äußeres und seinen Charakter vorzustellen. Er überhäufte ihn dergestalt mit guten und schlechten Eigenschaften, daß er über das Maß gewöhnlicher Sterblicher weit hinauswuchs. Sicher war er keiner von jenen Kritikern, die in die eigene Person verliebt sind, und die, wie man es häufig findet, beim Lesen den Schatten der eigenen mißgestalteten Nase auf jede Seite fallen lassen. Er schwatzte nicht. Er handelte. Und das war doch sicher bemerkenswert bei einem Manne, dessen ganze Tätigkeit darin bestand, daß er über das, was andere gesagt hatten, seine Meinung kundtat. Er konnte sein Urteil mit einer größeren Sicherheit abgeben als die gewöhnlichen Kritiker, denn ihm konnte nur ein einziger (allerdings schwerer) Fehler unterlaufen, während sich mit den Irrtümern der andern mehrere Spalten einer Zeitung anfüllen ließen. Er war eine Macht! Er war das ästhetische Gewissen des Verlegers, sein immer offenes Auge, das ihn davor behüten sollte, etwa unechte Steine als echte zu kaufen, wie es wohl – nach Ansicht Marios, der davon nichts verstand – den Juwelieren ergehen mochte. Und dabei war er ohne Leidenschaft, wie eine Maschine, die nur eine einzige Bewegung kennt. In seiner Hand erlangte das Werk einen Kaufwert und weiter nichts. Es wurde zu einer toten Ware, die durch die Hände eines Zwischenhändlers geht und dabei nur eine Summe Geldes hinterläßt. Es löste keine Empfindungen aus. Es wurde ergriffen, gemessen und gewogen, in andere Hände weitergegeben und vergessen, damit es nicht etwa die Arbeit der Maschine störte, die sich sofort wieder in Bewegung setzte. Nachdem der Kritiker Samiglis Roman gelesen hatte, war er zu Westermann gegangen und hatte zu ihm gesagt: »Hier ist etwas für Sie. Ich empfehle Ihnen, sofort an Ihren Vertreter in Triest zu telegraphieren, daß er das Buch zu jedem Preis erwirbt.« Damit war seine Arbeit getan. Und doch hätte es ihn so wenig Mühe gekostet, Samigli eine Postkarte zu schicken und ihm die klugen Worte zu sagen, die er allein zu sagen wußte! So, genau so war der beste Kritiker der Welt beschaffen. Ob es wohl überhaupt der Mühe lohnte, Bücher zu schreiben, nur damit ein solches Ungeheuer auf der Welt existieren konnte?

Man kann deshalb wohl sagen, daß Gaias Scherz eine große Bedeutung zu erlangen drohte, da er gleich von Anfang an das Aussehen der Welt verfälschte. Und als Mario seinen Irrtum einsehen mußte, ließ er in einer Fabel seinen ganzen Zorn an dem Kritiker aus, den seine Phantasie geschaffen, dem einzigen Kritiker, den er hätte lieben können. Es traf sich, daß ein hungriger Sperling eines Tages viele Brotkrumen fand. Er glaubte, sie der Freigebigkeit des größten Tieres zu verdanken, das er je gesehen hatte. Es war ein mächtiger Ochse, der auf einer Wiese in seiner Nähe weidete. Der Ochse wurde geschlachtet, das Brot blieb fort, und der Sperling beweinte seinen Wohltäter.

Aus dieser Fabel kann man lernen, wohin der Haß führt. Aus sich selber machte er einen dummen und blinden Sperling, nur um aus dem Kritiker ein großes, plumpes Tier machen zu können!

Mario war von seinem Erfolge so überzeugt, daß er einen Entschluß faßte, der letzten Endes dazu diente, die Wirkung des Scherzes abzuschwächen. Vorläufig wollte er niemand etwas von dem Glück, das ihm widerfahren war, verraten. Das Erscheinen seines Buches in deutscher Sprache würde, meinte er, in der Stadt und im ganzen Lande nur um so größere Verwunderung erregen, wenn es unerwartet käme. Und ihm, der so viele Jahre auf den Erfolg gewartet hatte, konnte es sicher nicht schwer fallen, noch einige Zeit länger zu warten.

Giulio äußerte anfangs einigen Zweifel an der Wahrheit der Mitteilung Gaias. Da er aber unwillkürlich bei jeder überraschenden Neuigkeit einen Zweifel zu äußern pflegte, legte er ihm selber keine Bedeutung bei, und als er sah, daß er der Freude seines Bruders damit Abbruch tat, beeilte er sich, ihn selbst aus seinen Gedanken zu verbannen. Er kannte ja Gaia nicht, und deshalb war sein Zweifel natürlich völlig unbegründet. Seine lebhaften Augen lugten unter der Nachthaube hervor und erlabten sich an Marios Glück. Neuigkeiten pflegten ihn sonst aufzuregen, und er glaubte nicht, daß sie seiner Gesundheit zuträglich wären, aber er mußte doch die Freude des Bruders teilen. Als Mario indessen von ihrem künftigen Reichtum sprach, vermochte er die Bedeutung dieses Wechsels nicht recht einzusehen. Wärmer als jetzt würde sein Bett auch nicht sein, und wenn sie sich erlesenere Speisen leisten könnten, würde die Versuchung, mehr zu essen, als seiner Gesundheit dienlich war, nur um so größer sein.

Für ihn war schon der erste Abend sehr viel weniger angenehm als die früheren. Jetzt, wo der Roman wieder zum Leben erwacht war, rief er Marios beunruhigende Kritik hervor. Jeden Augenblick unterbrach sich der Vorleser, um zu fragen: »Könnte man das nicht besser anders ausdrücken?« Und er schlug neue Worte vor und verlangte, daß der arme Giulio ihm bei der Entscheidung helfen sollte. Es kam zu keinen gewaltsamen Ausbrüchen, aber es genügte doch, um der Lektüre den Charakter des Schlummerliedes zu nehmen. Um auf Marios Fragen zu antworten, riß Giulio zwei oder dreimal die Augen groß und erschrocken auf, als wollte er beweisen, daß er die Worte wohl hörte, die an ihn gerichtet waren. Dann hatte er einen Einfall, der ihm für diesen Abend den Schlaf sicherte. »Mir scheint,« murmelte er, »daß man niemals an einer Sache etwas ändern sollte, die so, wie sie ist, Erfolg hat. Wenn du an deinem Roman etwas änderst, wird Westermann ihn vielleicht nicht mehr haben wollen.«

Dieser Einfall war ebenso gut, wie es jener andere gewesen war, der so viele Jahre seinen Schlaf geschützt hatte. An diesem Abend jedenfalls war die Wirkung vollkommen. Mario verließ das Zimmer, aber er war weniger aufmerksam als sonst, und er schlug die Tür so heftig zu, daß der arme Kranke in seinem Bett in die Höhe fuhr.

Mario meinte, Giulio stünde ihm nicht so zur Seite, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Ließ er ihn denn nicht allein mit seinem Erfolge, der, beunruhigender als eine Drohung, fast in greifbarer Nähe lag? Er ging zu Bett, aber der Dämmerzustand, der dem Schlummer vorausgeht, war an diesem Abend fürchterlich. Er mußte es mit ansehen, wie sein Erfolg, in Gestalt des Vertreters Westermanns, weit, weit nach Norden geschleppt und dann von einer bestialischen Menge ermordet wurde. Welch fürchterliches Schauspiel! Mario mußte das Licht wieder anzünden, und da fiel ihm glücklicherweise ein, daß wohl der Vertreter Westermanns sterben konnte, nicht aber Westermann selbst, denn der war ja eine Aktiengesellschaft, über die der physische Tod keine Macht hatte.

Als das Licht wieder brannte, suchte Mario seine Empfindungen in einer Fabel zum Ausdruck zu bringen. Indem er bedachte, wie töricht er doch eigentlich war, daß er sich nicht still seines Glückes freuen konnte, sagte er zu den Sperlingen: »Da ihr nicht für die Zukunft sorgt, wißt ihr offenbar auch nichts von dieser Zukunft. Wie könnt ihr aber fröhlich sein, wenn ihr doch nichts erwartet?« Er selber glaubte vor übergroßer Freude nicht schlafen zu können. Aber die Vöglein waren besser unterrichtet: »Wir leben für die Gegenwart«, sagten sie. »Bist du, der du für die Zukunft lebst, vielleicht fröhlicher?« Mario gab zu, die Frage falsch gestellt zu haben, und er nahm sich vor, zu passenderer Zeit eine neue Fabel zu schreiben, in der er seine Überlegenheit über die Vöglein schon beweisen würde. Mit einer Fabel kann man alles ausdrücken, was man will, wenn man nur zu wollen weiß.

Als Mario am nächsten Tage Brauer sein Abenteuer erzählte, zeigte dieser sich überrascht, da er aber wußte, daß es Waren gibt, die plötzlich, von einem Tag zum andern im Werte steigen, nachdem man sie nicht nur vierzig Jahre sondern ganze Jahrhunderte gering geachtet hatte, fand er sich schnell damit ab. Von der Literatur verstand er zwar nicht viel, aber er wußte wohl, daß sie sich mitunter – wenngleich sehr selten – bezahlt macht. Ein Gedanke aber machte ihn besorgt: »Wenn du nun in der Literatur dein Glück machst, wirst du wohl deine Stellung hier aufgeben?«

Mario bemerkte bescheiden, er glaube nicht, daß sein Roman ihm ein gesichertes Leben verschaffen könne. »Allerdings«, fügte er, nicht frei von Hoffart hinzu, »werde ich verlangen, daß man mir eine Stellung gibt, die meinem Werte besser entspricht.« In Wahrheit dachte er gar nicht daran, eine Stellung aufzugeben, die so wenig beschwerlich war, aber die Herren Literaten lieben es, gewisse Worte zu sagen. Das gilt ihnen als eine Art Ersatz für die Unterbewertung ihrer Leistung.

In diesem Augenblick wurde Mario ein Brief von Gaia gebracht, in dem dieser ihn einlud, sich Punkt elf Uhr im Café Tommaso einzustellen. Der Vertreter Westermanns war gefunden. Mario machte sich sofort auf den Weg, doch vergaß er trotz seiner Eile nicht, Brauer zu bitten, er möchte die Neuigkeit noch nicht weiterverbreiten.

 


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