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VIII

Als Mario aber am nächsten Morgen frühzeitig aufwachte, hatten sein Schmerz und sein Zorn im Schlafe neue Kräfte gesammelt. Draußen tobte noch immer der Sturm. Der Himmel war dicht mit Wolken verhangen, und die Welt, in der es keinen Westermann gab, erschien ihm düster und leer.

Giulio schlief noch. Mario trat an seine Tür und lauschte. Nach der mehrstündigen Ruhe ging der Atem des Kranken viel ruhiger und geräuschloser. Mario lächelte zufrieden und sagte leise: »Bald kehre ich ganz zu dir zurück. Denn du hast mich lieb.«

Mühsam gegen den Sturm ankämpfend, begab er sich geradenwegs nach Gaias Wohnung, die in einer der zu dieser Stunde noch verlassen daliegenden Straßen in der Nähe des Kanals lag. Er schickte sich schon an, die Treppe hinaufzusteigen, als er sich eines andern besann und kehrtmachte. Eine solche Auseinandersetzung durfte keine Zeugen haben. Er mußte verhüten, daß der Scherz – wenn es sich denn wirklich um einen Scherz handelte – allgemein bekannt wurde. Daher beschloß er, vorläufig auf der Straße zu warten, um Gaia, wenn es nötig sein sollte, zu veranlassen, ihm an einen abgelegenen Ort zu folgen, wo er die Strafe vollziehen konnte, ohne sich zu blamieren. Wie die Orte wohl aussehen mochten, an denen man bestrafen konnte, ohne sich zu blamieren? Mario wußte es nicht. Aber als geborener Theoretiker glaubte er, es würde sich schon alles ordnen, wie es sich gebührte. Es kam nur darauf an, Gaia zu finden.

Er hatte Glück. Als er schon anfing unter der starken Kälte zu leiden, sah er den Geschäftsreisenden aus dem Hause treten. Er schien es sehr eilig zu haben. Da er wie gewöhnlich später heimgekehrt war, hatte er bis zur letzten Minute im Bett gelegen und mußte nun laufen, um nicht zu spät ins Geschäft zu kommen.

Mario, dem die Zähne klapperten (er wußte nicht, ob vor Kälte oder vor Aufregung), ging ihm entgegen, während er sich schnell noch einmal die sehr gemäßigten Worte durch den Kopf gehen ließ, mit denen er um eine Aufklärung bitten wollte. Aber da Gaia es unglücklicherweise so eilig hatte, fragte er Mario kurz, ohne ihn zu grüßen und ohne abzuwarten, was er von ihm wollte: »Hast du von Westermann etwas gehört?«

Die Worte, die Mario sich so genau überlegt hatte, waren plötzlich verschwunden, und er konnte keine andern finden. Er war wie ein Bogen, der in den langen Stunden des Wartens bis an die Grenze der Widerstandskraft gespannt worden war. Nun sprang die Sehne los. Mario versetzte Gaia eine so gewaltige Ohrfeige, daß er sich selber wunderte, wo sein Arm, der seit so vielen Jahren keine heftige Anstrengung mehr gemacht hatte, die Kraft dazu hernahm. Die Hand tat ihm weh, und er hätte fast das Gleichgewicht verloren.

Gaia war der Hut vom Kopfe geflogen. Der Wind bemächtigte sich seiner und trug ihn hoch durch die Luft davon. Nun ist der Besitz eines Hutes – besonders, wenn ein so kalter Wind weht – gewiß nicht zu unterschätzen. So kam es, daß Gaia, der ihn mit den Blicken verfolgte und überlegte, ob er ihm nicht nachlaufen sollte, den letzten Rest von Entschlußfähigkeit, der ihm geblieben war, verlor und es versäumte, sich zur Wehr zu setzen. Dieser scheinbare Gleichmut brachte Mario ganz aus der Fassung. Vielleicht hatte er sich doch geirrt? Vielleicht existierte Westermann tatsächlich? Wie hätte er dann dagestanden! Er schwankte zwischen Furcht und Hoffnung. Sein Auge blitzte noch drohend, und doch überlegte er schon, ob er sich nicht im nächsten Augenblick Gaia zu Füßen werfen müßte.

Der Geschäftsreisende blickte noch immer seinem Hut nach. Erst hatte der Wind ihn in die Höhe gerissen, dann war er plötzlich auf den Boden gefallen. Nun rollte er auf dem Bürgersteig noch ein Stück weiter und verschwand dann um die nächste Ecke. Gaia wußte, daß er auf den Kanal zurollte und daher für ihn unwiederbringlich verloren war. Er trat auf Mario zu, vor dem er nach der Ohrfeige zurückgewichen war, und Mario erblaßte, als er sah, daß Gaia reden wollte statt zu handeln. Bei allen intelligenten Tieren pflegt ein starker physischer Schmerz das Schuldbewußtsein zu wecken. Um gegen die Ohrfeige protestieren zu können, mußte Gaia ein Geständnis ablegen. »Was fällt dir ein?« sagte er. »Es war doch nur ein harmloser Scherz.«

Nun wußte Mario, daß Westermann nicht existierte. Er war entrüstet, aber zugleich ein wenig erleichtert. Jedenfalls bestätigte er zunächst einmal seine erste Ohrfeige durch eine zweite. Sicher hätte er sich damit begnügt, wenn seine angeborene Gutmütigkeit Zeit gehabt hätte, sich ins Mittel zu legen. Hat aber jemand, dem es an Übung mangelt, einmal angefangen, aus Leibeskräften zu schlagen, dann kann er schwer wieder aufhören. So geschah es, daß der arme Geschäftsreisende noch zwei weitere, nicht minder kräftige Ohrfeigen einstecken mußte, die ihm Mario diesmal mit der linken Hand versetzte, da die rechte zu sehr schmerzte.

Jetzt endlich begriff Gaia, daß er sich zur Wehr setzen mußte, da man sonst nicht wissen konnte, wie lange Mario ihn noch weiter ohrfeigen würde. Er trat drohend auf Mario zu, doch war er so schwach, daß ein neuer Schlag ihn mitten ins Gesicht traf, obwohl er abwehrend den Arm erhoben hatte. Ein heiserer Schrei, den Mario dabei ausgestoßen hatte, und der von einer unbeschreiblichen Wut zu zeugen schien, nahm ihm vollends allen Mut. Er konnte ja nicht wissen, daß Mario aufgeschrien hatte, weil er sich wieder der verstauchten rechten Hand zum Schlagen bedient hatte. Gaias Nase blutete. Unter dem Vorwande, mit dem Taschentuch das Blut zu stillen, wich der arme verprügelte Spaßmacher ein paar Schritte zurück.

Nun hatte Mario sich nicht gerade einen sehr geeigneten Ort für die Vollstreckung der Strafe ausgesucht. Aber er merkte nichts davon. Eine tief vermummte, rundliche kleine Frau mit einem Henkelkorb am Arm blieb stehen und sah sich das Schauspiel an. Mario hatte inzwischen endlich den Gebrauch der Sprache wiedergefunden und überhäufte den Geschäftsreisenden mit Beleidigungen wie: »Trunkenbold! Schamloser Lügner!« Gaia schämte sich. Er suchte nach einem mannhaften Wort, das seinen Rückzug decken konnte. Denn er fühlte sich sehr schlecht und beunruhigt. Er wußte wohl, daß Mario ihn ins Gesicht geschlagen hatte, aber weshalb hatte er Stiche in der Seite? Wenn ihm nur der Kopf weh getan hätte, wäre er weniger besorgt gewesen. Mit schwacher Stimme sagte er: »Wir wollen uns doch nicht wie Packträger benehmen. Ich stehe dir jederzeit zur Verfügung.«

»Was redest du da von Ehre?« höhnte Mario. »Fühlst du denn gar nicht die Schande, daß du dich von mir hast ohrfeigen lassen?« Und nun endlich kamen ihm die Worte in den Sinn, mit denen er die Auseinandersetzung hatte eröffnen wollen: »Laß dir eins gesagt sein: wenn du den Scherz, den du dir mit mir erlaubt hast, weitererzählst, werde ich dafür sorgen, daß die ganze Stadt erfährt, was hier soeben geschehen ist, und ich werde dich dann noch einmal verprügeln, aber nicht mit den Fäusten allein, sondern auch mit den Füßen.« Da ihm bei diesen Worten einfiel, daß man ja auch Fußtritte austeilen kann, beeilte er sich, dem armen Gaia auf der Stelle eine Kostprobe zu geben.

Gaia sagte noch einmal, er stünde Mario jederzeit zur Verfügung.

Dann zog er sich, das Gesicht in seinem Taschentuch vergraben, mit drohenden Blicken, aber völlig kampfunfähig, nach seinem Hause zurück. Mario verfolgte ihn nicht, sondern wandte ihm angeekelt den Rücken.

Er fühlte sich jetzt bedeutend besser. Siege mit geistigen Waffen sind ja eine ganz schöne Sache, aber ein mit den Muskeln errungener Sieg ist doch sehr gesund. Das Herz gewinnt neues Vertrauen zu dem Körper, in dem es schlägt, und sein Schlag wird regelmäßiger und kräftiger.

Mario ging in sein Geschäft. Der Wind war so heftig, daß er auf der Brücke, die über den Kanal führte, einen Augenblick stehenbleiben mußte, um frische Kräfte zu sammeln, bevor er weiter gegen den Sturm ankämpfte. Da genoß er ein Schauspiel, das ihn herzhaft erfreute. Gaias Hut segelte in ziemlich schneller Fahrt dem Meere entgegen. Ein Stück der Krempe ragte aus dem Wasser heraus und bildete ein Segel, in das der Wind sich mit voller Kraft hineinlegte.

Nun fühlte er sich Manns genug, vor Brauer zu treten und ihm zu gestehen, daß er einem Scherz zum Opfer gefallen war. Der Augenblick war weniger peinlich, als er gefürchtet hatte. Brauer hörte ihm zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Er war keineswegs überrascht, denn er erinnerte sich noch sehr wohl, wie überrascht er gewesen war, als er hörte, man hätte für einen Roman eine derartige Summe geboten. Als Mario ihm von der ersten Ohrfeige erzählte, die er Gaia verabfolgt hatte, bekundete er laut seinen Beifall. Bei der zweiten schloß er Mario in seine Arme.

Dann geschah etwas Unerwartetes. Brauer machte eine Entdeckung. Auch dem nüchternsten und erfahrensten Geschäftsmann, der die Entwicklung eines Ereignisses aus nächster Nähe verfolgt und genau studiert, mag es wohl geschehen, daß er plötzlich, starr vor Staunen, ein Resultat dieser Entwicklung vor Augen sieht, das er hätte vorausberechnen können, wenn er nur einige Ziffern auf ein Blatt Papier geschrieben hätte. Gewisse Tatsachen verschwinden eben im Dunkel der Nacht, weil andere neben ihnen in einem zu hellen Lichte stehen. Bisher hatte sich alles Licht auf den Roman konzentriert, der jetzt in das Nichts versank, und erst in diesem Augenblick kam es Brauer in den Sinn, daß er ja für Marios Rechnung zweihunderttausend Kronen zum Kurse von fünfundsiebenzig gekauft hatte. Die österreichische Valuta war aber in den letzten Tagen so stark gefallen, daß Mario, wie sich herausstellte, durch diesen Verkauf siebzigtausend Lire gewonnen hatte. Das war genau die Hälfte von dem, was er erhalten hätte, wenn der Vertrag mit Westermann kein Scheinvertrag gewesen wäre.

Als Mario das hörte, rief er: »Ich will das schmutzige Geld nicht haben!« Aber Brauer war erstaunt und entrüstet. Ein Literat mochte wohl imstande sein, einen Geschäftsbrief aufzusetzen, über die Zulässigkeit einer geschäftlichen Transaktion aber zu urteilen, das kam ihm nicht zu. Wenn Mario das Geld zurückwies, zeigte er damit nur, daß man mit ihm unmöglich noch länger geschäftlich zusammenarbeiten konnte.

Als Mario den großen Gewinn einkassiert hatte, war er über die Maßen verwundert. Wie seltsam und geheimnisvoll war doch das Leben! Mit dem Geschäft, das Mario ohne sein Wissen und Wollen gemacht hatte, begannen die großen Überraschungen der Nachkriegszeit. Die Valuten fielen und stiegen ohne Gesetz und Regel. Noch manch anderer, der ebenso ahnungslos war wie Mario, wurde für seine Ahnungslosigkeit belohnt, oder, wenn das Schicksal es wollte, grausam bestraft. Das war wohl auch schon früher vorgekommen, aber jetzt kam es so häufig vor, daß die Ausnahme Regel geworden zu sein schien. Mario, dem das Geld auf diese unbegreifliche Weise in die Tasche geflossen war, wurde auf das Phänomen aufmerksam und begann es zu studieren. Ganz verwirrt sagte er schließlich: »Es ist doch leichter, das Leben der Sperlinge zu verstehen als das der Menschen. Vielleicht finden die Sperlinge unser Leben so einfach, daß sie glauben, es in Fabeln verwandeln zu können.«

Brauer sagte: »Dieser Gaia ist ein Esel. Wenn er sich schon einmal einen Scherz mit dir erlauben wollte, hätte er dir ebensogut gleich fünfhunderttausend Kronen oder mehr für deinen Roman bieten können. Dann hättest du jetzt so viel Geld in der Tasche, daß du bis an dein Lebensende versorgt gewesen wärest.«

Mario protestierte: »Dann wäre ich gar nicht auf den Scherz hineingefallen, denn ich hätte nie geglaubt, daß man mir für meinen Roman eine solche Summe bezahlen könnte.« Brauer erwiderte nichts darauf.

»Wenn das Glück, das ich mit dem Gelde gehabt habe, nur nicht dazu dient, Gaias Scherz bekannt zu machen«, meinte Mario besorgt.

Brauer beruhigte ihn. Niemand würde etwas davon erfahren, da man ja auf der Bank keine Ahnung hatte, wie das Geschäft zustande gekommen war. Nicht einmal Gaia hatte etwas davon erfahren, denn sonst hätte er seine fünf Prozent Provision verlangt.

Das Geld kam den beiden Brüdern sehr zustatten. Da sie keine großen Ansprüche machten, konnten sie sich viele Jahre lang, vielleicht bis an ihr Lebensende, bedeutende Erleichterungen damit verschaffen. Und wenn Mario eine Grimasse geschnitten hatte, als er das Geld einkassierte, so schnitt er jedenfalls keine, als er es ausgab. Manchmal bildete er sich sogar ein, er verdanke das Geld seiner literarischen Tätigkeit, und ein solcher Lohn war schließlich auch nicht zu verachten. Indessen ließ sein Verstand, der es gewohnt war, sich klar und genau auszudrücken, sich doch nicht in dem Maße täuschen, wie es für sein Glück wünschenswert gewesen wäre.

Das beweist folgende Fabel, in der Mario seinem Gelde einen gewissen Glanz zu verleihen suchte: Die Schwalbe sagte zum Sperling: »Ich muß dich verachten, weil du dich von dem Unrat nährst, der auf der Erde liegt.« Der Sperling erwiderte: »Der Unrat, der meinem Fluge die Kraft gibt, steigt mit mir in die Höhe.« Um aber den Sperling, mit dem Mario sich verglich, noch wirksamer zu verteidigen, legte Mario ihm diese andere Antwort in den Mund: »Es ist ein Vorzug, sich auch von Dingen, die auf der Erde liegen, ernähren zu können. Du, der du es nicht kannst, bist zu einer ewigen Flucht verurteilt.«

Mario konnte offenbar keine endgültige Formulierung der Antwort des Sperlings finden, denn in einem Nachtrag, den er, der Tinte nach zu urteilen, sehr viel später niederschrieb, ließ er ihn sagen: »Du nimmst deine Nahrung im Fluge ein, weil du nicht gehen kannst.« Mario rechnete sich selber bescheiden zu den Tieren, die auf der Erde wandeln. Es sind nützliche Tiere, die ein Recht haben, Tiere zu verachten, die immer fliegen. Denn das Vergnügen am Fliegen hat ihnen jedes Verlangen nach einer andern Art der Fortbewegung genommen.

Aber die Fabel nahm kein Ende mehr. Jedesmal, wenn es Mario so recht zum Bewußtsein kam, wie angenehm es doch war, über so viel Geld verfügen zu können, mußte er an sie denken. Eines Tages stellte er die Schwalbe, die doch nur ein einziges Mal den Schnabel geöffnet hatte, zornig zur Rede: »Du willst dich vermessen, ein Tier zu tadeln, weil es anders beschaffen ist als du?«

So sprach der Sperling mit seinem kleinen Gehirn. Wenn aber jedes Tier sich nur um seine Angelegenheiten kümmern dürfte, statt seine eigenen Neigungen und sogar seine Organe den andern aufzudrängen, würde es auf der Welt keine Fabeln mehr geben. Daß Mario aber gerade das gewollt hätte, wird man gewiß nicht annehmen dürfen.


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