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VI

Es begreift sich, daß die Zeit der Erwartung den Fabeln nicht günstig war, aber wenn sich auch in den langen Tagen, die nun folgten, nichts von Bedeutung ereignete, waren sie doch in keiner Weise eintönig, denn nicht ein Tag glich dem vorangegangenen oder dem folgenden.

Brauer ging verschiedene Male nach der Bank. Als die erwartete Mitteilung noch immer nicht eintreffen wollte, riet er Mario, an den Verlag zu telegraphieren, um sich auf dem kürzesten Wege Gewißheit zu verschaffen. Aber Mario befand es nicht für gut, den Rat des Geschäftsmannes zu befolgen, da er der Meinung war, daß man im literarischen Geschäftsverkehr nicht so verfahren dürfe. Er wußte aus schmerzlicher Erfahrung, wie gefährlich es ist, die Herren Verleger mit Mahnungen zu belästigen. Daher ließ er sich wohl von Zeit zu Zeit überreden, sich auf den Weg zur Bank zu machen, um das Telegramm abzusenden, aber stets trat ihm, ehe er seinen Entschluß ausführen konnte, das Schreckensbild des erzürnten Westermann entgegen, der sich vielleicht entschließen konnte, auf seinen Roman zu verzichten. Denn ein Roman läßt sich ja schließlich nicht mit anderen Handelsartikeln vergleichen, und Mario fürchtete, wenn er diesen Käufer verlöre, würde er wieder vierzig Jahre warten müssen, ehe sich ein neuer fände.

Wenn er sich übrigens auch entschlossen hätte, das unhöfliche Telegramm abzusenden (telegraphierte Höflichkeit ist zu kostspielig), hätte er doch erst Gaias Einverständnis einholen müssen. Aber Gaia war unauffindbar. Da man sich jetzt wieder frei bewegen konnte, hatte er seine Besuche bei der Kundschaft in dem benachbarten Istrien wieder aufgenommen. Mario hörte wohl von diesem oder jenem, er hätte Gaia in Triest gesehen, aber weder in seinem Hause noch im Geschäft traf er ihn jemals an. Es war eine harte Zeit für Mario. Wien schickte kein Geld, und weder Westermann noch sein angebeteter und verhaßter Kritiker ließ etwas von sich hören. Gewiß: der Vertrag und die Bankanweisung waren unterschrieben, aber wer bürgte dafür, daß der häßliche Mann in dem großen Pelz Westermanns Willen richtig ausgelegt hatte? Im Grunde war dies Individuum, das kein Wort Italienisch verstand, nur eine Übersetzung Gaias ins Deutsche. Er konnte sich also sehr wohl geirrt haben.

Mario hatte sich eine gewisse Erfahrung in geschäftlichen Dingen angeeignet, und es läßt sich nicht leugnen, daß er auch eine gewisse literarische Erfahrung besaß. Was ihm aber völlig fehlte, war die Kenntnis, wie man literarische Erzeugnisse geschäftlich verwertet. Nur deshalb kam er nicht auf den Gedanken, daß Gaia ihn zum Narren gehabt hatte. Hätte es sich nicht gerade um einen Roman gehandelt, würde er niemals geglaubt haben, daß ein so erfahrener Geschäftsmann, wie es Westermann zweifellos war, eine so große Summe hätte bieten sollen, wo er die Sache doch viel billiger – etwa für die kleine von Brauer vorgestreckte Summe – hätte haben können. Diese Summe schuldete Mario jedenfalls, und deshalb wollte er sich nicht eingestehen, daß er den Roman auch ganz umsonst hergegeben hätte. Aber die Verleger mochten wohl aus anderem Stoffe sein als die Leute, die mit anderen Waren handelten. Vielleicht waren sie weniger Geschäftsmänner als vielmehr großherzige Mäzene.

Und Giulio half von seinem unschuldigen Bette aus, Marios Zweifel zu zerstreuen. Er sagte, wie er sich Westermann vorstelle, müsse er ein Mann sein, dem es auf zweihunderttausend Kronen mehr oder weniger nicht ankommen könne. Aber was hatte es für einen Sinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob der Verleger sich vielleicht geirrt hatte? Wenn der verschlagene Gaia ihn übers Ohr gehauen hatte, dann um so besser.

Giulios kluge Darlegungen genügten, um Mario für einige Stunden Erleichterung zu verschaffen, aber bald verfiel er wieder in den erregenden Zustand des Wartens, der an die Zeit nach der Veröffentlichung seines Romans erinnerte. Auch damals hatte das Warten auf den Erfolg – der ihm anfangs ebenso sicher erschienen war wie jetzt der Vertrag mit Westermann – sein Leben zu einer Qual gemacht, die noch in der bloßen Erinnerung unerträglich war. Doch damals war er jung und stark gewesen, und daher hatte die Erwartung ihm wenigstens nicht den Schlaf und den Appetit rauben können. Heute lag die Sache anders. Wenn der arme Mario auch fest an seinen Erfolg glaubte, mußte er doch die Erfahrung machen, daß es der Gesundheit eines Sechzigjährigen nicht zuträglich ist, sich noch mit Literatur zu befassen.

Daß man nur einen Scherz mit ihm getrieben haben könnte, kam ihm nie ernstlich in den Sinn, aber irgendwo in seinem Gehirn regte sich wohl doch ein leiser Zweifel, denn für einen Schaffenden sind die Dinge dieser Welt nur dazu da, daß man über sie lacht oder weint. So mag man denn die folgende Fabel in gewissem Sinne als eine Prophezeiung nehmen: In einer Vorstadtstraße lebten viele Sperlinge, die sich fröhlich von dem Pferdemist nährten, den sie dort reichlich fanden. Eines Tages aber ließ sich ein wohlhabender Mann in jener Straße nieder, dem es Vergnügen machte, ihnen Brotkrumen zu streuen, soviele sie nur wollten. Der Pferdemist aber blieb unbeachtet auf der Straße liegen. Einige Monate später – es war mitten im Winter – starb der reiche Herr, und seine reichen Erben gönnten den Sperlingen auch nicht ein Krümchen mehr. Da die verlassenen Vöglein nun nicht mehr in ihre alten Gewohnheiten zurückfinden konnten, gingen sie fast alle elendiglich zugrunde, und über ihren verstorbenen Wohltäter hörte man in der Vorstadt manch tadelndes Wort.

Eine Zeitlang war es Giulio gelungen, sich seinen Schlummer durch schlaue Einfälle zu sichern. Eines Abends aber unterbrach Mario plötzlich die Lektüre und holte geschwind ein Wörterbuch herbei, um sich über den Gebrauch eines Wortes zu vergewissern. Giulio, der sich schon auf der sanft geneigten Ebene befand, auf der man fast unmerklich in den Schlaf hinübergleitet, wurde dadurch so völlig ermuntert, daß er sich entschließen mußte, seinen Schlummer mit der gewohnten Verschlagenheit zu verteidigen. Er murmelte: »Für die Übersetzung ins Deutsche ist das ohne Belang.« Aber Mario, in dessen Geist der Erfolg von Tag zu Tag immer gewaltiger wurde, glaubte sich schon auf die zweite italienische Ausgabe seines Romans vorbereiten zu müssen und legte daher das Wörterbuch nicht so schnell wieder aus der Hand. Da er nun einmal seine Nase hineingesteckt hatte, las er mit der Ehrerbietung, die jeder brave Schriftsteller für dieses Buch empfindet, gleich eine ganze Seite durch. Nun ergeht es einem bei der Lektüre eines Wörterbuchs nicht viel anders als bei einer Autofahrt über einen Sturzacker, und, um das Unglück vollzumachen, fand Mario auf dieser Seite einen Hinweis, dem er entnahm, daß er sich an einer andern Stelle seines Romans im Gebrauch eines Hilfsverbs geirrt hatte. Entsetzlich! Ein Irrtum, der der Nachwelt überliefert werden sollte! Mario suchte aufgeregt nach der fraglichen Stelle, konnte sie aber nicht finden und rief Giulio zu Hilfe.

Giulio erkannte sofort, daß die Zeit vorüber war, in der er sich mit klugen Einfällen vor der nachgerade unerträglich gewordenen Literatur hatte schützen können, aber er glaubte aus langer Erfahrung zu wissen, daß Mario für seine Gesundheit alles zu tun bereit war, was man von ihm verlangte, deshalb sagte er – rührend aufrichtig, aber mit der etwas mürrischen Stimme eines Menschen, der plötzlich aus der Welt des Traumes in die Welt des Schmerzes und der Langeweile zurückgerufen wird –, es wäre nun Zeit für ihn, an das Schlafen zu denken. Am Morgen erwarte ihn seine Medizin, nach deren Einnehmen er noch zwei Stunden still im Bett liegen müsse, bevor er frühstücken dürfe. Wenn er nicht bald einschliefe, würde der folgende Tag durch eine Verschiebung sämtlicher Mahlzeiten ein völlig verändertes Aussehen bekommen.

Mario, der noch vor einer Woche ein ihm mißfallendes Wort Giulios aus Gutmütigkeit ohne Widerspruch hingenommen hätte, war empört, aber er hielt es für seine Pflicht, Gleichgültigkeit zu heucheln und nicht merken zu lassen, wie verletzt er war. Er nahm seinen Roman und das Wörterbuch unter den Arm und verließ das Zimmer, ohne daran zu denken, die Tür zu schließen. Erkünstelte Gleichgültigkeit pflegt den Groll nur noch zu steigern. Während er hinausging, dachte er: »Das ist auch so einer, der erst meinen Erfolg sehen muß, um zu wissen, wer ich bin.«

Giulio aber verbrachte eine schlechte Nacht. Da die Tür offen geblieben war, hörte er nicht nur, wie der Sturm an den Fensterläden rüttelte, sondern auch das Quietschen der Korridortüren in ihren Angeln. Der Kranke glaubte, die Nacht in einem Wörterbuch verbracht zu haben, dessen nach dem gleichen Anfangsbuchstaben geordnete Wörter zu tönen begannen und dann plötzlich einen seltsamen, unerwarteten Schrei ausstießen. Am nächsten Abend blieb Mario nach dem Essen noch einige Minuten bei seinem Bruder, dann räumte er den Tisch ab und entfernte sich, ohne mit einem einzigen Worte seines Grolles Erwähnung getan zu haben. Da er dem Kranken dienstbeflissen die Speisen zugereicht hatte, glaubte er, hinreichend seine Pflicht getan zu haben. Hatte er dem Bruder nicht gegeben, was er beanspruchen konnte? Aber darüber hinaus wollte er auf keinen Fall noch etwas tun. Giulio paßte das Wörterbuch nicht, das er so dringend brauchte? Gut, dann mußte Giulio sich eben selber etwas vorlesen, wenn er nach Lektüre Verlangen trug. Ohne Reue hatte er vernommen, daß er dem Kranken durch seine Unachtsamkeit die Nachtruhe verdorben hatte. Was hatte das zu sagen? Schlief er selber vielleicht besser in Gesellschaft der Spukgestalten, die Westermann und seine Vertreter vorstellten?

Aber Giulio spürte ein dringendes Verlangen, den Frieden wiederherzustellen. Da Mario sehr schweigsam geworden war, mußte er nun sogar auf die Tagesneuigkeiten verzichten, die in das einförmige, reizlose Leben des Kranken etwas Abwechslung und Spannung gebracht hatten. Er war der ältere, Mario aber der Beleidigte. Daher beschloß er, im Bewußtsein seiner Schwäche, die ersten Schritte zu tun. In seiner Einsamkeit dachte er einen ganzen Tag darüber nach, und vielleicht griff er so daneben, weil er zuviel überlegt hatte. Wenn man gar zu lange nachdenkt, sieht man schließlich sein eigenes Recht und die einem widerfahrene Kränkung in einem helleren Lichte, und das trägt natürlich nicht gerade dazu bei, einen nachgiebiger zu stimmen.

Er sprach mit Mario als Bruder und vertraute ihm an, was er zum Leben, das heißt zur Erhaltung seiner Gesundheit, brauchte. Unter anderem brauchte er eine ruhig dahinfließende Lektüre, die friedliche Vorstellungen erweckte und auf seinen leidenden Organismus wie eine sanfte Liebkosung wirkte. Weshalb sollten sie also nicht zu ihren alten Autoren – De Amicis und Fogazzaro – zurückkehren?

Eine unbegreifliche Naivität bei einem schwachen Kranken, der doch ganz auf seine Schlauheit angewiesen war! Hatte er denn wirklich ganz vergessen, welche Begeisterung vor Jahren sein Vorschlag erweckt hatte, De Amicis und Fogazzaro für immer liegenzulassen und durch das Werk seiner Bruders zu ersetzen?

Es ist schon so: der Mensch nimmt, im Gegensatz zum Sperling, unbekümmert jegliche Gefahr auf sich, wenn er sich verschaffen will, was er sehnlich begehrt.

Mario mußte sich sehr zusammennehmen, daß er nicht von seinem Stuhl in die Höhe sprang, als er hörte, daß die beiden erfolgreichen Autoren ihn nun auch noch aus diesem bescheidenen kleinen Winkel verdrängten, in dem er bisher der Alleinherrscher gewesen war. In dem Augenblick, da die ganze Welt sich anschickte, ihm endlich den verdienten Erfolg zu bereiten, versetzten sie, die ihn stets beiseitegeschoben hatten, ihm noch schnell einen letzten Fußtritt. Und dazu benutzten sie den gichtgeschwollenen Fuß seines schwachsinnigen Bruders, den sie so zu ihrem Bundesgenossen und zu seinem Feinde machten.

Es wurde ihm schwer, Gleichgültigkeit zu heucheln, und seine Stimme bebte vor innerer Entrüstung, als er seinem Bruder erklärte, das Vorlesen strenge ihn seit einiger Zeit zu sehr an. Er müsse es daher mit Rücksicht auf seine Kehle einstellen.

Giulio erschrak. Er durchschaute seinen Bruder sofort und erkannte, welchen Fehler er gemacht hatte. Da eröffneten sich ja schöne Aussichten! Seine qualvolle Einsamkeit sollte sich nun auch noch auf die Abendstunden erstrecken, in denen er mehr noch der Liebe seines Bruders als des Vorlesens bedurfte, um einschlafen zu können. Er mußte seinen Fehler auf der Stelle wiedergutmachen. »Wenn du es willst, wollen wir deinen Roman weiterlesen. Ich bin ganz damit einverstanden. Ich wollte mir nur die anstrengende Lektüre des Wörterbuchs ersparen.«

Der arme Giulio wußte nicht, daß es nur ein Mittel gibt, eine ungewollte Beleidigung abzuschwächen: indem man so tut, als hätte man sie gar nicht bemerkt und als glaube man, der andere habe sie ebensowenig verstanden. Jeder Versuch, die Beleidigung zu erklären, dient nur dazu, sie zu erneuern und zu bekräftigen. Aufs tiefste verletzt rief Mario: »Habe ich denn nicht gesagt, daß es sich um meinen Hals handelt? Für den Hals macht es keinen Unterschied, wer das Buch geschrieben hat, ob De Amicis, Fogazzaro oder ich.«

Das war natürlich eine Lüge, aber Giulio hätte klug getan, sie gelten zu lassen. Statt dessen sagte er beschwichtigend: »Du weißt, daß ich deine Prosa jeder anderen vorziehe. Höre ich sie mir denn nicht schon so viele Jahre Abend für Abend an, obwohl ich sie doch längst auswendig weiß? Nur die Verbesserungen verdrießen mich. Wir gewöhnlichen Sterblichen sehen gern, daß etwas endgültig ist. Wenn man in unserm Beisein ein Wort herausnimmt und durch ein anderes ersetzt, kommt uns die ganze Seite unwahr vor.«

Der Kranke hatte bewiesen, daß er ein gewisses kritisches Talent besaß, aber gleichzeitig auch grenzenlos naiv war. Er hatte Mario also einen Roman vorlesen lassen, den er schon auswendig kannte? War das nicht ein ganz ungeheuerlicher Vorwurf? Kein Wunder, daß Marios Zorn sich gewaltsam Luft machte. Als er aber erst einmal angefangen hatte, redete er sich in eine immer größere Wut hinein, wie es Schriftstellern oft geschieht, da das Wort ihnen nicht Erleichterung, sondern Anregung verschafft. Er rief mit einer vor Empörung zitternden Stimme: »Du schluckst also die Lektüre mit derselben Grimasse hinunter, mit der du deine Salizylsäure verschluckst? Das ist einfach beleidigend! Man hat wohl ein Recht, seine Gesundheit zu pflegen, aber alles hat seine Grenzen. So wichtig darf man sein Leben denn doch nicht nehmen, daß man, um es ein wenig zu verlängern, alles, was es Großes und Schönes auf der Erde gibt, in ein Klistier verwandelt.«

Die Literatur fühlte sich angegriffen und rächte sich, indem sie die Krankheit beleidigte. Giulio fühlte sich so schwer getroffen, daß er noch nach Atem rang, um ein Wort der Erwiderung zu sagen, als Mario das Zimmer schon verlassen hatte. Diesmal vergaß er nicht, die Tür hinter sich zu schließen, aber der Kranke fand dennoch keinen Schlaf. Zuerst suchte er sich zu beweisen, daß man ihm aus seiner Krankheit keinen Vorwurf machen könnte, und das war nicht ganz einfach, da der Arzt wiederholt versichert hatte, seine Krankheit sei auf eine falsche Lebensweise und auf Fehler in der Diät zurückzuführen. Dann suchte er sich in einen Zorn auf seinen Bruder hineinzureden, der durch seine Verhöhnung der Maßnahmen, zu denen die Krankheit ihn zwang, doch nur bewiesen hatte, daß er seinen Tod herbeiwünschte. Aber Giulio verbrachte nicht die ganze Nacht damit, sich mit seinem Bruder auseinanderzusetzen. Denn noch nie zuvor hatte er die Nutzlosigkeit seines Lebens so klar erkannt. Jetzt endlich begriff er, daß er nicht den Tod, sondern das Leben betrog, das von einem Wrack ohne Nutzen und Wert nichts wissen wollte. Und diese Erkenntnis betrübte ihn tief in der Seele.

Noch ehe Mario mit seiner Strafrede zu Ende gekommen war, hatte er schon eine gewisse Unsicherheit und wohl auch ein wenig Reue gefühlt. Aber er führte sie trotzdem zu Ende und rundete sie sogar noch mit dem verächtlichen Ausfall gegen die Krankenpflege ab, indem er das Klistier zu ihrem Symbol erhob. Und er führte sie zu Ende, obwohl es ihm keineswegs entging, wie flehend Giulio ihn in seiner Ohnmacht anblickte, als er sich im letzten, verborgensten Winkel seiner Seele so schonungslos angegriffen sah. Aber Mario war nun einmal in dichterischen Schwung geraten. Das anschauliche Bild von dem Klistier gewährte ihm die gleiche Befriedigung wie eine gut gelungene Fabel.

Als er dann aber einsam in seinem Zimmer saß, kühlte seine Begeisterung sich merklich ab. Alle Bilder bekommt man einmal über, und der Vergleich mit dem Klistier erschien ihm doch gar zu armselig. Aber er zürnte weiter wie ein beleidigter Napoleon. Auch die Literatur hat ihre Napoleone. Wäre es nicht Giulios Pflicht gewesen, ihm bei seiner Arbeit zu helfen? Schließlich fing Mario sogar an, sich selber zu bedauern. Ihm blieb wirklich nichts erspart. Zu allem übrigen kam nun noch Giulios Dummheit, und obendrein mußte er sich noch Vorwürfe machen, daß er ihn gekränkt hatte.

Aber da er sich dem Kranken weit überlegen fühlte, wäre er trotz seines großen Zornes und trotz des Bewußtseins, Unrecht erlitten zu haben, gern zu Giulio gegangen, um sich zu entschuldigen. Aber er wußte wohl, daß er mit bloßen Worten nicht wiedergutmachen konnte, was er angerichtet hatte, zumal er doch seinem Bruder einen gewissen Vorwurf nicht ersparen konnte, wenn er die eigene Würde wahren wollte. Mit Worten kann man Wunden wohl schlagen, aber nicht heilen. Es ließ sich ja nicht bestreiten, daß Giulios Leben nicht wert war, gelebt zu werden, aber nachdem diese Wahrheit einmal ausgesprochen war, ließ sie sich nie wieder wegreden oder vergessen machen. Das Unausgesprochene scheint irgendwie weniger lebendig, hat das Wort es aber einmal zum Leben erweckt, dann kann kein anderes Wort ihm dieses Leben wieder nehmen. Mario beruhigte sich daher mit dem Vorsatz, die alten, liebevollen Beziehungen zu seinem Bruder wiederherzustellen, sobald sein großer Erfolg der Allgemeinheit bekannt geworden wäre. Dann würde sein Wort sicher genügend Wirkung haben, um alles durchzusetzen, was er wollte. An diesem Vorsatz hielt Mario streng fest, und er merkte nicht, daß es für den Frieden des Kranken besser gewesen wäre, wenn er nicht erst das Eingreifen des gar zu langsamen Westermann abgewartet hätte.

Denn Giulio litt wirklich. Auch als Mario wieder leutselig und gesprächig wurde, konnte er die Beleidigungen nicht vergessen, die er ihm zugefügt hatte. Das gewohnte abendliche Vorlesen hatte aufgehört, das schlimmste aber war, daß keine jener Aussprachen stattgefunden hatte, von denen sich die Schwachen (die stets Freunde von Worten sind) eine Beilegung jeglicher Meinungsverschiedenheit versprechen. Und doch fürchtete er eine Aussprache, weil er sich bei den früheren so schwach gezeigt hatte. Um die Situation aber zu klären, kam er auf den Gedanken, die Worte durch eine eindrucksvolle Handlung zu ersetzen. Er begann ganz offensichtlich die Vorschriften des Arztes außer acht zu lassen, da er hoffte, Mario würde es merken und sich darüber betrüben. Aber Mario merkte nichts. Vielleicht, weil die Kundgebung nicht lange genug dauerte. Da der Kranke sich schon nach dem ersten Versuche sehr viel schlechter fühlte, hatte er erschrocken nach seinen Medikamenten gegriffen. Aber leider zeigte es sich, daß sie nicht mehr so recht wirken wollten. Schließlich kann man aber auch von einer Medizin nicht verlangen, daß sie helfen soll, wenn sie verachtet wird. Giulio, der einsah, daß er zum Handeln unfähig war, kehrte also notgedrungen zum Gebrauch des Wortes zurück. Er benutzte es indessen nur, um auf jene versuchte, aber nicht zu Ende geführte Handlung zu sprechen zu kommen. Als er eines Abends das Essen unterbrach, um gewisse Pulverchen einzunehmen, sagte er, schwach lächelnd, ohne seinem Bruder ins Gesicht zu blicken: »Wie du siehst, nehme ich noch immer meine Medizin ein, obwohl es doch eigentlich jeder Vernunft Hohn spricht.« Mario, der, wie es sich für einen großen Mann – denn dafür hielt er sich – gebührte, ihrem Streit weniger Gewicht beilegte, da er doch außer der Annehmlichkeit, abends nicht mehr vorlesen zu brauchen, keine Spur hinterlassen hatte, wunderte sich und erklärte mit erhobener Stimme, es wäre Giulios Pflicht, die Medizin zu nehmen, damit er wieder gesund würde. Er schien also ganz vergessen zu haben, daß er vor wenigen Tagen erst genau das Gegenteil gesagt hatte.

Das war denn auch zu wenig, um Giulio zu versöhnen. Aber Mario merkte es nicht. Mit einem inneren Vergnügen beobachtete er seinen Bruder, der das Pulverchen in Wasser auflöste und es dann mit der Miene eines eigensinnigen Kindes hinunterschluckte, als wollte er sagen: »Jawohl, ich nehme meine Medizin. Das ist mein Recht und meine Pflicht.«

Wenn der Dichter eine Gestalt schafft, geht er oft von einem bestimmten Ausdruck aus, dem er erst nachträglich die erforderlichen Glieder und Gelenke gibt. Er erfindet seine Gestalt, aber er glaubt nicht, daß sie existiert. Ganz besonders liebt er sie, wenn sie sich in der realen Welt zu bewegen vermag, obwohl sie doch eine Gestalt seiner Phantasie ist. Existiert sie aber wirklich, dann erkennt er sie nicht, da sie in keiner Beziehung zu seiner Gedankenwelt steht. Mario, der von dem Ausdruck des Eigensinns ausging, schuf daraus eine Phantasiegestalt, die seinem Bruder Giulio wohl glich, auch ebenso krank, aber viel energischer war und laut in die Welt hinausschrie, sie habe ein Recht darauf, im warmen Bett zu liegen und die Hilfe der Medizin in Anspruch zu nehmen, ja, auch die Literatur müsse ihr dienstbar sein, wenn sie es verlange. Und Mario liebte das Zerrbild seines Bruders, das seine Phantasie geschaffen hatte. Mit seiner Schwäche, seinem Eigensinn und seiner Resignation war es ihm ein Abbild des armen, leidenden Lebens, das noch stark genug ist, um seine Armut und sein Leiden zu verteidigen.

Ein merkwürdiges Bemühen, sich seine eigene Welt zu erfinden, statt sich in der realen Welt umzusehen! Aber immerhin klärten sich auf diese Weise seine Beziehungen zu seinem Bruder. Denn kaum hatte Mario jene Gestalt geschaffen, die ihm den wahren Giulio ersetzte – und, wie er glaubte, erst ins rechte Licht rückte –, so sah er sich, wie es die Dichter zu tun pflegen, nach weiteren Gestalten um, unter denen sie leben und von denen sie sich abheben konnte. Natürlich dachte er dabei zuerst an sich selbst. Wenn es sich aber um einen selber handelt, greift man nicht so leicht daneben, denn man schneidet dabei sofort ins lebendige Fleisch. Da kam ihm die Erkenntnis seiner Schuld. Wie gut war es doch, daß Giulio ihn nicht durchschauen konnte! Denn er, der große Mario, hatte wahrlich allen Grund sich zu schämen. Wie ein ganz gemeiner Mensch hatte er sich benommen. Den armen Kranken, den das Schicksal seiner Obhut anvertraut hatte, hatte er gekränkt und beleidigt, weil er es nur ein einzigesmal gewagt hatte, sein Werk abzulehnen. So also sah seine Größe aus! Sein Ehrgeiz hatte sich in eine lächerliche Eitelkeit verwandelt, und in seinem Hochmut hatte er geglaubt, die Gesetze der Gerechtigkeit und Menschlichkeit hätten wohl für gewöhnliche Menschen, aber nicht für ihn mehr Gültigkeit. Er dachte an die noch gar nicht weit zurückliegenden Zeiten, da er still und bescheiden und ohne Ehrgeiz oder Gewinnsucht in einer reinen Gedankenwelt gelebt hatte, und er fühlte Neid und Reue.

Es war nur ein kurzer Augenblick, aber dieser Gedanke ließ ihn nun nicht mehr los. Es kommt ja auch gar nicht darauf an, wieviel Zeit man dazu gebraucht hat, einen bedeutsamen Gedanken zu fassen: hat man ihn einmal gefaßt, dann bleibt er und läßt sich nicht wieder vergessen. Da Mario diesen Gedanken, der nur flüchtig aufgetaucht war, nicht sofort in dem Verlangen nach dem Glück, das der Erfolg verleiht, zurückgewiesen und verleugnet hatte, gewann er immer mehr an Stärke und konnte ihn später mit Stolz erfüllen und trösten.

Eines Tages machte Mario die schmerzliche Entdeckung, daß er über dem Erfolge die Liebe zu seinen Fabeln verloren hatte. Seit vielen Tagen hatte er keine mehr geschrieben, ja, er war überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, eine zu schreiben. Sein Erfolg ließ ihm für nichts anderes mehr Zeit. Immer wieder mußte er seinen Roman studieren, um ihn zu verbessern, zu ergänzen, mit neuen Farben, neuen Worten zu schmücken. Der Erfolg glich einem goldenen Käfig. Westermann hatte ihm kundgetan, welches Werk er von ihm wollte, und Mario mußte an dem Werke arbeiten, das man haben wollte. Für ein anderes blieb keine Zeit. Als er später erfuhr, daß alles nur ein Scherz gewesen war, leitete er die Rückkehr zu seinem früheren Leben mit der Fabel von jenem Kanarienvogel ein, der sich in seinem Käfig rühmte, die Natur zu besingen, und der doch von nichts anderem etwas zu sagen wußte als von dem Wassernäpfchen und dem Hirsenäpfchen, zwischen denen sein Leben sich abspielte. Und es tröstete ihn nicht wenig, daß es ihm nicht schwer wurde, die lächerliche Einbildung, er verdiene Beifall und Bewunderung, fahren zu lassen und sich mit seinem Schicksal abzufinden, das ja doch allgemein menschlich und keineswegs verächtlich war.

Vorläufig aber dachte er selbst in den wenigen hellsichtigen Augenblicken nicht daran, daß er es jemals fertigbekommen würde, den Erfolg, der sich ihm bot, zurückzuweisen. Vergebens mahnte ihn Epikur: »Lebe still und verborgen!« Seine Stimme klang wohl zu schwach aus der fernen Vorzeit herüber. Mario sehnte sich nach dem Ruhm wie alle, die glauben, ihn erringen zu können, und das lange, vergebliche Warten machte ihn ganz krank.

 


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