Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ein gelungener Scherz

I

Der Schriftsteller Mario Samigli war fast sechzig Jahre alt. Vor vierzig Jahren hatte er einen Roman veröffentlicht, den man wohl mit Recht hätte tot nennen dürfen, wenn sterben könnte, was nie gelebt hat. Mario indessen erfreute sich trotz seiner weißen Haare noch immer eines beschaulichen Daseins, soweit ihm sein Beruf die Zeit dazu ließ. In seiner bescheidenen Stellung hatte er freilich keinen Anlaß, über zuviel Arbeit zu klagen, und sein Einkommen war zwar nicht bedeutend aber doch sicher. Ein solches Leben ist gesund, und es wird noch gesünder, wenn es von einem so schönen Traum begleitet und gewürzt wird wie das Marios. Er hatte nämlich, obgleich doch wirklich nicht mehr jung an Jahren, den Glauben noch immer nicht verloren, daß er vom Schicksal zum Ruhme ausersehen wäre. Nicht etwa, weil er meinte, etwas Besonderes geleistet zu haben, auch nicht, weil er hoffte, noch etwas Besonderes leisten zu können, sondern nur deshalb, weil ein gewisser Mangel an Entschlossenheit ihm jede Auflehnung gegen sein Geschick verwehrte und ihn hinderte, eine Überzeugung mühsam wieder zu zerstören, die er sich vor so vielen Jahren gebildet hatte. Und so erwies es sich, daß auch die Macht des Schicksals ihre Grenzen hat. Das Leben hatte Mario wohl diesen oder jenen Knochen brechen können, die wichtigsten Organe aber waren unversehrt geblieben: die Achtung vor sich selbst und auch ein wenig Achtung vor den Mitmenschen, von denen der Ruhm doch letzten Endes abhängig ist. Und so begleitete ihn auf seinem Lebenswege stets ein Gefühl innerer Zufriedenheit.

Wenige Menschen nur ahnten etwas von Marios Einbildung, denn er wußte sie mit jener fast unbewußten Schlauheit des Träumers zu verheimlichen, die ihm hilft, seinen Traum vor dem Zusammenprall mit der harten Alltäglichkeit zu bewahren. Manchmal freilich ließ er doch etwas von seinen Träumen durchsickern, und dann bestärkte ihn, wer ihm wohlgesinnt war, in dieser unschuldigen Anmaßung, während die andern wohl lachten, wenn sie Mario über tote oder lebende Autoren mit entschiedenen Worten urteilen oder gar sich selber den Wegbereiter einer neuen Zeit nennen hörten, ihre Heiterkeit aber zügelten, sobald sie ihn erröten sahen. Denn auch ein Sechzigjähriger kann wohl noch erröten, wenn er ein Schriftsteller ist, und wenn es ihm wie dem armen Mario ergeht. Aber auch das Lachen ist gesund und keine schlechte Sache. So waren denn alle ganz zufrieden: Mario, seine Freunde und selbst seine Feinde.

Mario schrieb nur äußerst wenig, ja, lange Zeit hatte er mit dem Schriftsteller nichts weiter gemein als die Feder und das immer weißbleibende Papier, das aufnahmebereit auf seinem Schreibtisch lag. Diese Jahre waren die glücklichsten seines Lebens. Sie waren reich an schönen Träumen und frei von jeder beschwerlichen Mühewaltung. Sie waren wie eine zweite fröhliche Kindheit und köstlicher selbst als die Reifezeit des glücklicheren Schriftstellers, der, von dem Worte mehr gefördert als gehemmt, alles zu Papier zu bringen weiß und dann einer leeren Schale gleicht, während er noch immer glaubt, eine schmackhafte Frucht zu sein.

Dieser glückliche Zustand konnte nur so lange Bestand haben, wie es bei dem bloßen Bemühen blieb, ihn aufzugeben, und Mario bemühte sich ständig, wenngleich er keine allzu gewaltsamen Anstrengungen machte. Zu seinem Glück gelang es ihm aber nie, einen Weg zu finden, der ihn in das Ungewisse geführt hätte. Noch einmal etwa einen Roman zu schreiben wie in seinen jungen Jahren, als er noch das Leben jener Leute bewunderte, die an Besitz und Rang so hoch über ihm standen, daß er nur mit Hilfe eines Fernrohrs zu ihnen emporzublicken vermochte, wäre ein unmögliches Unterfangen gewesen. Zwar liebte er seinen Roman noch immer, denn dazu bedurfte es ja keiner besonderen Anstrengung, und er schien ihm ebenso lebensfähig wie alles auf dieser Welt, das vorgibt, einen Anfang und ein Ende zu haben. Wenn er sich aber aufs neue daranmachen wollte, jenen Schattengestalten durch die Macht des Wortes ein papiernes Leben einzuhauchen, empfand er einen heilsamen Schauder. Die volle, wenngleich unbewußte Reife seiner sechzig Jahre verbot ihm ein derartiges Werk. Das Leben gewöhnlicher Sterblicher aber zu beschreiben, etwa das eigene, das vorbildlich tugendhaft und in seiner schlichten und stillen Selbstbescheidung nicht ohne Größe war – das kam ihm nicht in den Sinn. Denn dazu fehlte ihm die technische Sicherheit und die Liebe zum Gegenstande. Gewiß war dieser Mangel richtiger Selbsteinschätzung bedauerlich, aber man weiß ja, daß er sich bei denen häufig findet, die niemals auf den Höhen des Lebens wandeln durften. Schließlich interessierten ihn die Menschen – mochten sie auf den Höhen oder in den Niederungen des Lebens wandeln – überhaupt nicht mehr. Jedenfalls glaubte er, sein Interesse hätte sich von ihnen abgewandt, um sich nun ganz den Tieren zuzuwenden. Er begann also Fabeln zu schreiben, und so entstanden in seinen Mußestunden kleine, leblose Geschöpfe seiner Phantasie, die freilich eher einbalsamierten Mumien als mit Verwesungsgeruch behafteten Leichen glichen. Kindlich wie er war – nicht etwa wegen seines Alters, denn er war es immer gewesen –, hatte er an diesen Fabeln seine Freude, und er erblickte in ihnen einen neuen Anfang, eine gute Übung, eine Vervollkommnung und fühlte sich jünger und glücklicher denn je.

Anfangs wiederholte er den Fehler seiner Jugendarbeit. Denn er schrieb von Tieren, die er wenig kannte, und seine Fabeln erdröhnten von dem Gebrüll des Löwen und dem Trompetengeschmetter des Elefanten. Dann wurde er menschlicher, wenn man so sagen darf, und nun schrieb er von Tieren, die er zu kennen glaubte. So lieferte ihm die Fliege eine stattliche Anzahl von Fabeln und zeigte sich auf diese Weise nützlicher, als man glauben sollte. In einer seiner Fabeln bewunderte er die Schnelligkeit dieses Zweiflüglers, die wahrhaft vergeudet ist, da sie weder dazu dient, die Beute zu erjagen noch sich selber vor Schaden zu bewahren. Die Moral dieser Geschichte legte er einer Schildkröte in den Mund. In einer anderen Fabel lobte er die Fliege, weil sie die schmutzigen Dinge vernichtet, die sie so liebt. In einer dritten wunderte er sich darüber, daß die Fliege, das augenreichste aller Tiere, so unvollkommen sieht. In einer vierten endlich ließ er einen Mann, der eine lästige Fliege zerquetscht hatte, zu der Ermordeten sagen: »Ich habe dir eine Wohltat erwiesen, denn siehe, nun bist du keine Fliege mehr.« – Auf diese Weise war es nicht schwer, täglich bis zum Morgenkaffee eine neue Fabel fertig zu haben. Der Krieg mußte kommen, um ihn zu lehren, daß die Fabel ein Ausdruck seiner eigenen Seele werden konnte. Da erwachte die Mumie aus ihrer Starre und wurde ein wesentlicher Bestandteil seines Lebens.

Beim Ausbruch des italienischen Krieges fürchtete Mario, daß die kaiserliche und königliche Polizei in Triest nichts Eiligeres zu tun haben könnte, als ihm, einem der wenigen italienischen Schriftsteller, die in der Stadt geblieben waren, den Prozeß zu machen, der vielleicht damit enden würde, ihn an den Galgen zu bringen. Dieser Gedanke war voller Schrecken, barg aber zugleich eine süße Hoffnung, so daß er bald frohlockte, bald vor Angst erblich.

Er stellte sich vor, daß seine Richter – ein ganzes Kriegsgericht, das sich aus Vertretern aller militärischen Rangstufen vom General abwärts zusammensetzte – verpflichtet wären, seinen Roman zu lesen, und, wenn sie über ihn ein Urteil fällen wollten, aufmerksam zu studieren. Dann würde zweifellos ein etwas schmerzlicher Augenblick kommen. Aber wenn das Kriegsgericht nicht aus lauter Barbaren bestand, war wohl zu hoffen, daß man ihm, zum Dank für die genußreichen Stunden der Lektüre, das Leben schenken würde. Deshalb schrieb er fleißig, solange der Krieg dauerte, und er schwebte immer zwischen Furcht und Hoffnung wie ein Schriftsteller, der weiß, daß er ein Publikum hat, das auf sein Wort wartet, um darüber zu Gericht zu sitzen. Aber er war vorsichtig genug, nur Fabeln zu schreiben, deren Sinn nicht eindeutig war, und zwischen Furcht und Hoffnung erwachten seine kleinen Mumien aus ihrer Todesstarre zu wirklichem Leben. Sicher hätte das Kriegsgericht ihn nicht leicht verurteilen können, weil er etwa die Fabel von dem starken Riesen schrieb, der auf sumpfigem Boden gegen Tiere kämpfte, die leichter waren als er, bis er, immer siegend, in dem Boden versank, der ihn nicht tragen konnte. Wer hätte wohl beweisen wollen, daß Deutschland gemeint war? Und weshalb mußte unbedingt Deutschland mit dem Löwen gemeint sein, der immer siegte, weil er sich nicht zu weit von seiner großen, schönen Höhle entfernte, bis man eines Tages entdeckte, daß die große, schöne Höhle sich ganz vortrefflich dazu eignete, ihn auszuräuchern?

So gewöhnte sich Mario daran, alles, was er erlebte und fühlte, in das Gewand der Fabel zu kleiden. Diese Entwicklung seiner literarischen Fähigkeiten verdankte er der Polizei, die indessen von den einheimischen Schriftstellern nicht die geringste Notiz nahm. Solange der Krieg dauerte, blieb Mario daher unbehelligt, was ihn zwar beruhigte, zugleich aber auch ein wenig enttäuschte.

Einen weiteren Fortschritt machte Mario insofern, als er sich nun geeignetere Helden für seine Fabeln aussuchte: nicht mehr Elefanten, die in fernen, unbekannten Ländern lebten, nicht mehr Fliegen, die mit ausdruckslosen Augen in die Welt blickten, sondern die kleinen Sperlinge, die er in seinem Hofe mit Brotkrumen fütterte – was zu jener Zeit in Triest eine unerhörte Verschwendung war. Täglich pflegte er eine Weile ihrem Treiben zuzuschauen, und dieser Teil des Tages war der schönste, weil er so ganz von Poesie erfüllt war – wie vielleicht nicht einmal die Fabeln, die ihm doch ihre Entstehung verdankten. Er war in seine kleinen Freunde so verliebt, daß er sie am liebsten abgeküßt hätte. Wenn er sie des Abends auf den Dächern der Nachbarhäuser und auf dem verkümmerten Bäumchen des Hofes zwitschern hörte, dachte er, daß sie sich nun, bevor sie das Köpfchen zum Schlafe auf den Rücken legten, erzählten, was sie am Tage erlebt hatten. Des Morgens dasselbe lebhafte und melodische Geplauder. Dann erzählten sie sich wohl, was sie in der langen Nacht geträumt hatten. Wie er selber, kannten auch sie ein doppeltes Erleben: das des wirklichen Lebens und das der Träume. Sie waren doch schließlich Tiere, in deren Köpfchen Gedanken wohnen konnten. Dazu waren sie hübsch gezeichnet und sehr drollig in ihren Bewegungen. Sie waren so schwach, daß sie einem leid tun konnten, dafür aber hatten sie Flügel, um die man sie beneiden mußte. Es waren ungemein lebendige Tiere. Die Fabel freilich blieb noch immer eine kleine Mumie, die in Axiomen und Theorien erstarrte. Aber man konnte sie nun doch wenigstens mit einem Lächeln schreiben.

Marios Leben war reich an solchem Lächeln. Eines Tages schrieb er:

»Mein Hof ist klein, aber wenn man Übung hat, könnte man dort zehn Kilogramm Brot täglich verfüttern.« Solche Träume kann nur ein Dichter träumen. Wie hätte man in jener Zeit wohl zehn Kilogramm Brot für die Vöglein beschaffen sollen, da sie doch keine Brotkarten bekamen? An einem andern Tage schrieb er: »Jeden Abend bricht auf dem kleinen Kastanienbaum in meinem Hofe der Krieg aus, wenn die Sperlinge den besten Platz für die Nacht suchen. Ich wünschte, ich könnte einmal Frieden stiften. Das wäre von guter Vorbedeutung für die Zukunft der Menschheit.«

Mario schenkte den armen Sperlingen so viele Gedanken, daß er ihre Schwäche darüber vergaß. Sein Bruder Giulio aber, der mit ihm zusammen wohnte, und der behauptete, seine literarischen Arbeiten zu lieben, liebte sie doch nicht genügend, um auch die Vögel in seine Liebe mit einzuschließen. Er meinte, es fehle ihnen an Ausdruck. Aber Mario erklärte, sie wären selber ein Ausdruck der Natur, eine Ergänzung dessen, das unbewegt liege oder sich auf dem Boden fortbewege, eine Ergänzung, die darüber schwebe, wie der Akzent über dem Worte, wie das Ausdruckszeichen über der Notenschrift.

Sie sind der heiterste Ausdruck der Natur: denn selbst die Furcht erscheint bei den Vögeln nicht so verächtlich wie bei den Menschen. Nicht etwa, weil sie sich hinter ihrem Federkleide verbürge, nein, sie tritt ganz offen zutage, aber sie ändert nichts an dem anmutigen Zusammenspiel ihrer Organe. Ihr kleines Gehirn scheint dabei gänzlich unbeteiligt. Das Auge oder Ohr fängt das Alarmzeichen auf und gibt es unmittelbar an die Flügel weiter. Ist das nicht etwas Wunderbares? Ein Gehirn ohne Furcht in einem Organismus auf der Flucht! Eins der Tierchen meldet Alarm, und alle fliehen, jedoch als sprächen sie: »Ein guter Anlaß, Furcht zu haben!«

Sie kennen kein Zögern. Es ist ja so einfach zu fliehen, wenn man Flügel hat. Und ihr Flug ist so unerhört sicher. Erst im letzten Augenblick weichen sie Hindernissen aus und schlüpfen durch das engmaschigste Gewirr von Baumzweigen, ohne sich aufzuhalten oder sich zu verletzen. Zu denken beginnen sie erst, wenn sie schon weit sind, und dann erst schauen sie sich um und suchen zu ergründen, weshalb sie eigentlich geflohen sind. Anmutig neigen sie das Köpfchen nach rechts und nach links und warten geduldig, bis sie ruhig nach dem Orte zurückkehren können, von dem sie geflohen sind! Wenn sie bei jeder Flucht Angst hätten, lebten sie schon längst nicht mehr. Und Mario hatte sie im Verdacht, daß sie sich absichtlich so viel Aufregung machten. Sie könnten doch in aller Ruhe das Brot verzehren, das man ihnen schenkt, und statt dessen schließen sie die verschmitzten Äuglein und sind überzeugt, daß jeder Bissen erstohlen ist. Das erst macht ihnen das trockene Brot richtig schmackhaft. Als echte Diebe essen sie das Brot niemals dort, wo es ihnen hingeworfen wird, und dort zanken sie sich auch nie, denn das wäre gefährlich. Der Streit um die Krümchen bricht erst aus, wenn sie sich nach der Flucht an einer andern Stelle wieder zusammenfinden.

Aus all diesen Beobachtungen entstand fast von selber eine Fabel:

Ein freigebiger Mann hatte viele Jahre lang den Vöglein jeden Tag Brot geschenkt, und er war überzeugt, daß ihr Herz für ihn voller Dankbarkeit schlüge. Er hatte keine Augen im Kopfe, denn sonst hätte er bemerkt, daß die Vöglein ihn für einen Dummkopf hielten, weil sie ihm so viele Jahre lang das Brot hatten stehlen können, ohne daß es ihm gelungen wäre, auch nur eines von ihnen zu fangen.

Es scheint unmöglich, daß ein Mann wie Mario, der immer heiter war, eine solche Fabel schreiben konnte. So war er also nur nach außen hin heiter? Wie hätte er sonst dem heitersten Ausdruck der Natur so viel Bösartigkeit und Ungerechtigkeit anhängen können? Das hieß ja, ihn völlig zerstören! Mir scheint auch, daß Mario die Menschen schwer beleidigte, als er den Gefiederten eine solche Undankbarkeit andichtete, denn wenn schon die Vöglein, die doch nicht sprechen können, dergleichen Reden führen, wie würden sich dann wohl erst die Menschen ausdrücken, die mit einer langen Zunge begnadet sind?

Und alle seine kleinen Fabeln waren im Grunde tief traurig. Während des Krieges kamen nur sehr wenige Pferde durch Triest, und diese wenigen wurden ausschließlich mit Heu gefüttert. Daher fehlten auf der Straße jene schmackhaften Körner, die bei der Verdauung unversehrt bleiben. Und Mario fragte in einer Fabel seine kleinen Freunde: »Seid ihr verzweifelt?« – »Nein,« antworteten die Vöglein, »aber weniger zahlreich.«

Vielleicht wollte Mario sich daran gewöhnen, auch seinen eigenen Mißerfolg im Leben als eine Folge von Umständen anzusehen, die nicht von ihm abhängig waren? Vielleicht gelang es ihm so besser, sich schmerzlos darein zu fügen? Die Fabel ist nur so lange heiter, wie heiter ist, wer sie liest! Der Leser lacht über jenes dumme Vöglein, das die Verzweiflung, die es an manchem Tage aus unmittelbarer Nähe kennenlernte, vergessen hat, weil es selber noch nicht von ihr ergriffen wurde. Aber nachdem man darüber gelacht hat, muß man daran denken, wie gleichgültig die Natur ist, wenn sie ihre Experimente macht, und man erschaudert.

Oft behandelten Marios Fabeln die Enttäuschung, die jedes menschliche Werk begleitet. Vielleicht wollte er sich darüber trösten, daß er selber dem Leben fernblieb, indem er sich sagte: Daß ich nichts versuche, ist gut, denn so bleibt mir der Mißerfolg erspart.

Ein reicher Herr liebte die Vöglein so sehr, daß er ihnen ein großes Landgut schenkte, das ihm gehörte, und verbot, ihnen Fallen zu stellen oder sie auch nur zu erschrecken. Er baute ihnen gute, warme Zufluchtsstätten für den langen Winter und versah sie reichlich mit Futter. Es dauerte aber nicht lange, so nisteten sich auf dem großen Gute eine Menge Raubvögel, Katzen und sogar große Nagetiere ein, die den Vöglein nachstellten. Der reiche Herr weinte, aber von seiner Güte wurde er nicht geheilt, denn die Gutherzigkeit ist eine unheilbare Krankheit, und da er den Vöglein Nahrung geben wollte, konnte er sie den Falken und den andern Tieren nicht versagen.

Auch diese kaltherzige Verhöhnung der menschlichen Güte erdachte jener Mario mit dem rosigen, stets lächelnden Angesicht. Er bemerkte, die menschliche Güte könne wohl das Leben an einem bestimmten Orte vermehren, erreiche damit aber nur, daß das Blut dann dort erst recht in Strömen fließe. Und er schien das ganz in der Ordnung zu finden.

Marios Tage waren also stets heiter. Vielleicht entlud sich seine ganze Traurigkeit in seinen bitteren Fabeln und vermochte ihm daher nicht mehr das Antlitz zu verdüstern. Aber es scheint, daß diese Zufriedenheit ihn nicht in seine Nächte und in seine Träume begleitete. Sein Bruder Giulio schlief in einem Zimmer, das neben seinem lag. Für gewöhnlich schnarchte er selig während der Verdauung, die bei einem Gichtigen wohl krankhaft sein kann, aber doch recht gründlich ist. Wenn er indessen nicht schlief, drangen seltsame Töne aus Marios Zimmer zu ihm hinüber: tiefe Seufzer, die von Kummer zeugten und manchmal auch laute Schreie der Empörung. Man konnte kaum glauben, daß diese Töne, die klagend durch die nächtlichen Räume hallten, von demselben Manne herrührten, der im hellen Lichte des Tages so heiter und so sanft aussah. Mario hatte keine Erinnerung an seine Träume, und, von seinem tiefen Schlafe befriedigt, glaubte er, daß er in seinem Bette wenigstens ebenso heiter gewesen wäre wie unter den Mühsalen und Beschwerden des Tages. Als Giulio ihm besorgt seine sonderbare Art zu schlafen schilderte, glaubte er, es handele sich um nichts anderes als um eine neue Technik des Schnarchens. Da das Phänomen sich aber beständig zeigte, ist gewiß, daß diese Töne und Schreie der unverfälschte Ausdruck seines gemarterten Gemütes im Schlaf waren. Man könnte meinen, daß es sich um eine Erscheinung handelte, die die moderne, klug erdachte Traumtheorie widerlegte, nach der man im Schlafe ein befriedigtes Verlangen in Gestalt eines beglückenden Traumes genießt. Könnte man aber nicht auch meinen, daß der wahre Traum des Dichters der ist, den er wachend erlebt, und daß Mario deshalb wohl Grund hatte, am Tage zu lachen und in der Nacht zu weinen? Es gibt aber auch noch eine andere Erklärungsmöglichkeit, die sich aus jener Traumtheorie herleiten läßt. In Marios Falle konnte es sich um ein Verlangen handeln, das in der ungehinderten Äußerung seines Schmerzes Befriedigung fand. Konnte er doch im nächtlichen Schlummer die schwere Maske abwerfen, hinter der er am Tage seine Selbstüberhebung verbergen mußte, und mit seinen Seufzern und Schreien verkünden: Ich verdiene mehr, ich verdiene etwas ganz anderes! Ein solcher Herzenserguß kann wohl auch der Ruhe förderlich sein.

Als am Morgen die Sonne aufging, erfuhr Giulio zu seiner Verwunderung, daß Mario glaubte, die ganze Nacht, die so reich an Seufzern gewesen war, in Gesellschaft einer neuen Fabel verbracht zu haben. Er arbeitete schon seit mehreren Tagen an ihr, und im Grunde war sie recht harmlos. Der Krieg hatte dem Sperlingshof etwas ganz Neues gebracht – den Mangel, und der arme Mario hatte sich eine Methode erdacht, mit der er erreichen wollte, daß das knappe Brot länger vorhielte. Von Zeit zu Zeit erschien er im Hofe, um die Sperlinge wieder mißtrauisch zu machen. Es sind langsame Tiere, wenn sie nicht fliegen, und es dauert lange, bis sie ein Mißtrauen überwinden. Ihre Seele gleicht einer kleinen Wage: auf der einen Schale liegt das Mißtrauen, auf der andern der Appetit. Dieser wird immer größer, aber wenn auch das Mißtrauen sich stets erneuert, beißen sie nicht an. Wollte man Marios Methode streng durchführen, so könnte man sie dahin bringen, daß sie neben dem Brote verhungern. Wahrlich, ein trauriges Experiment, wenn man es zu Ende führt! Aber Mario setzte es nur so lange fort, wie er über die Sperlinge lachen konnte. Sie zu quälen, lag nicht in seiner Absicht. Die Fabel (ein Vöglein sagte zum Menschen: »Dein Brot wäre wohl schmackhaft, wärest nur du nicht da!«) blieb heiter – auch deshalb, weil die Sperlinge während des Krieges nicht abmagerten. Auf den Straßen von Triest fand sich immer noch genügend Abfall und Unrat, in dem sie Nahrung finden konnten.

 


 << zurück weiter >>