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22. Das isländische Volk

Ich kann mich noch lebhaft erinnern, wie es auf unserem Dampfer »Botnia« zuging, als wir in Reykjavik, der Hauptstadt Islands, ankamen.

Nachdem wir in dem großen Hafen Anker geworfen hatten, wurde unser Schiff von einer Menge kleiner isländischer Boote umringt. Die Passagiere, besonders die, welche zum ersten Mal nach Island kamen, betrachteten neugierig diese Boote und ihre Besatzung.

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Das war etwas ganz Natürliches; denn die Leute standen hier plötzlich einem unbekannten Volke gegenüber, über das es so viele merkwürdige, aber auch höchst widersprechende Berichte gibt.

Mehrere unserer Mitreisenden hatten gemeint, die isländische Bevölkerung müsse der färöischen gleichen, die wir auf der Herfahrt von Dänemark kurz kennen gelernt hatten. Aber darin täuschten sie sich sehr, denn unter den Isländern findet man kaum einen einzigen Menschen, der einem Färinger gleicht.

Die Isländer sind meist hochgewachsen. Ihr Äußeres ist wenig übereinstimmend: man trifft Leute mit blondem Haar, blauen Augen und ovalem Gesicht; andere dagegen haben eine eigentümlich dunkle Haut- und Haarfarbe, rundes Gesicht und kohlschwarze Augen mit stechendem Blick; bei wieder anderen sind Haar und Bart rötlich, das Gesicht rund und voll.

Auch häßlichen, schwerfälligen Menschen begegnet man; aber zugleich mindestens ebensovielen wohlgestalteten mit feinen, ansprechenden Zügen, Männern wie Frauen.

Die isländischen Frauen stehen sogar in einem gewissen Ruf der Schönheit. Eine Eigentümlichkeit bei ihnen ist das üppige, kastanienbraune Haar.

Der Grund dieser Ungleichheit in der äußeren Erscheinung des isländischen Volkes ist gewiß folgender:

Die ursprünglichen Isländer waren sehr verschiedener Abstammung. Die Hauptmasse der ersten Bewohner der Insel waren Normannen aus Norwegen, ein ungewöhnlich schöner, kräftiger, leiblich wie geistig hochentwickelter Volksschlag. Aber sie hatten nach Island zahlreiche Sklaven mitgebracht, die größtenteils nicht Normannen, sondern Kelten waren, meist Kriegsgefangene Leute aus Irland und von den britischen Inseln, bisweilen auch aus weiter südlich gelegenen Ländern.

Die Kelten wurden gern Westmänner genannt, wovon noch heute die Bestmanna-Inseln ihren Namen haben.

Die jetzige isländische Bevölkerung ist also eine Mischung dieser ursprünglichen, sehr verschiedenen Bestandteile: eines normannischen und eines keltischen.

Die meisten Isländer sind gesunde, frische Leute. Ich sprach eines Tages mit einem isländischen Apotheker, der klagte darüber, daß er so schlechte Geschäfte mache, obwohl er der einzige Apotheker am Ort sei:

»Die Menschen hier sind eben kerngesund«, sagte er wehmütig, als ob das ein betrübender Zustand wäre.

 

So viel über das Äußere des isländischen Volkes.

Von seinen inneren Eigenschaften glaube ich nach meinen eigenen Erfahrungen Folgendes sagen zu können:

Die Isländer sind größtenteils überaus ehrlich, zuvorkommend und liebenswürdig im Umgang. Ihre Höflichkeit ist von fremden Reisenden schon oft mit der der Italiener verglichen worden. Sie besteht zumeist nicht in äußerem Schliff, sondern liegt im inneren Wesen, in der Gesinnung, in einem feinen Taktgefühl, in Aufmerksamkeit und Herzensgüte gegen andere.

Mit Recht berühmt ist die daraus entspringende Gastfreiheit der Isländer, die unter den zivilisierten Völkern vielleicht einzig dasteht.

Häufig haben Reisende ihre Verwunderung darüber ausgedrückt, mit welcher Liebenswürdigkeit und Feinheit, mit welcher Aufopferung und Freundlichkeit man in Island auch auf einfachen Bauernhöfen behandelt wird.

Hat zum Beispiel ein Bauer einen Fremden zu Gast, so stellt er sich ihm vollständig zur Verfügung. Aber er versteht es zugleich sehr wohl, sich sofort zurückzuziehen, wenn seine Anwesenheit stören könnte. Doch hält er sich dann beständig in einem anstoßenden Zimmer auf, um augenblicklich bei der Hand zu sein, wenn seine Hilfe benötigt wird.

Und das alles tut er selbst in der drängendsten Arbeitszeit, wie etwa mitten in der Heuernte!

Die meisten Reisenden, die über Island geschrieben haben, erklären, daß sie eine so edle, geradezu rührende Handlungsweise kaum zu schildern vermöchten.

Allerdings erwartet der Isländer Entsprechendes auch bei dem Fremden. Findet er es nicht, sondern begegnet er einem groben, eigennützigen, mißtrauischen oder unehrlichen Verhalten, so verwandelt er sich leicht in einen ganz andern Menschen. Sein Herz verschließt sich dann und wird sich in den meisten Fällen nie mehr dem öffnen, der ihn längere Zeit so behandelt und mißbraucht hat.

Ähnlich schreibt ein deutscher Professor aus persönlicher, genauer Beobachtung auf Island: Wenn das Vertrauen eines Isländers gründlich enttäuscht wird, wenn man ihn durch übles Benehmen abstößt, so ist das selten wieder gutzumachen.


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