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9. Ein weites Ziel – Gefahren zu Wasser und zu Land

Wir hatten uns vorgenommen, an dem neuen Reisetag bis zum Geysir zu gelangen.

»Geysir« ist der Name, auf den sich bei vielen Fremden die ganzen Kenntnisse über Island beschränken.

Wie oft habe ich das nicht erfahren! – Es zeigt aber wenigstens, daß der Geysir sich einer gewissen Berühmtheit erfreut; ja man kann wohl mit Recht sagen, daß er weltberühmt ist.

Der Geysir also, dieses Weltwunder, war jetzt unser nächstes Reiseziel. Allein wir sollten es an diesem Tage nicht mehr erreichen.

Ein unvergeßliches Abenteuer stand uns statt dessen bevor.

Das Wetter war außergewöhnlich schön; kein Wind regte sich, keine Wolke war am Himmel. In voller Pracht schien die Sonne, licht und klar.

 

Der Weg führte diesmal durch sehr schöne, üppige Gegenden. Tausende von fetten Merinoschafen grasten überall auf den grünen Höhen.

.

Die Merinoschafe leben im Innern des Landes den ganzen Sommer hindurch in vollständiger Freiheit, niemand hütet sie oder schaut nach ihnen; das einzige, was man tut, ist dies, daß man sie wieder in die Berge hinaufjagt, wenn sie zu nah an die Höfe herabkommen.

Die Schafe sind neben dem Fischfang Islands Haupteinnahmequelle.

Im Sommer leben im Innern des Landes in unbewohnten Gegenden durchschnittlich über eine halbe Million Schafe auf der Weide; überall sahen wir sie auf unserer Reise: unten in den tiefen Tälern auf Feldern und Wiesen, oben zwischen hohen Felsen, auf den höchsten fernen Berggipfeln, selbst in der Nachbarschaft des ewigen Schnees.

Ihre runden, vollen Leiber zeigen, daß sie keinen Mangel an Nahrung leiden. Im Gegensatz zu andern Schafen haben sie alle Hörner: ein Schaf ohne Horn ist eine seltene Ausnahme. Ihr Schwanz ist dagegen nur einige Zentimeter lang.

 

Die Landschaft, durch die wir hier ritten, war frei und schattenlos. Nach 12 Uhr begann die brennende Hitze recht unbehaglich für uns und für die Pferde zu werden. Die guten Tiere waren schweißbedeckt, aber dennoch immer willig. Froh waren sie, wenn ein Bach oder ein Fluß kam, den sie durchwaten konnten. Gewöhnlich machten sie dann in der Mitte halt und tranken nach Herzenslust in langen Zügen mit Zwischenpausen.

Wir ließen das natürlich jedesmal ruhig geschehen und warteten geduldig, bis sie wieder anfingen, weiterzuwaten. – So viel Rücksicht verdienten sie mindestens für die Dienste, die sie uns erwiesen.

Zuletzt wurde es geradezu tropisch heiß. Wir konnten es kaum noch aushalten. Wir mußten ein Kleidungsstück nach dem andern ablegen, bis wir fast wie Indianer aussahen. Verschiedene Ober- und Unterkleider, Halstuch und Weste lagen bereits zusammengerollt auf unserem Packpferd.

Es war nahe zum Krankwerden in der unerträglichen Hitze. Wie uns schien, mußte es über dreißig Grad haben.

Dazu kam noch eine andere Plage:

Der Thingvallasee ist nicht nur reich an Forellen, er züchtet auch unzählige Mücken und sendet sie meilenweit in die Umgegend.

Jedoch wir wollen diese Plagegeister nicht schlechter machen, als sie sind; sie sind nämlich nicht blutdürstig und stechen deshalb nicht; sie begnügen sich damit, einem zu Hunderten, vielleicht freundschaftlich liebkosend, um Augen, Ohren, Nase und Mund zu krabbeln, bis man schließlich ganz nervös wird.

Bald sahen wir uns daher genötigt, dünne, flatternde Tücher uns um den Kopf zu binden; nur Augen und Nase wurden frei gelassen. Um aber auch sie einigermaßen zu schützen, mußten wir beständig mit beiden Armen gegen die Mücken fechten. –

Nach einiger Zeit trafen wir eine kleine Karawane, die uns entgegenkam. Die Leute hatten sich in der Kleidung ungefähr gleich wie wir eingerichtet; um den Kopf hatten sie ebenfalls Tücher gebunden: eine Erfindung, von der wir geglaubt hatten, wir allein hätten sie ausgedacht.

Nähere Bekanntschaft, wie es sonst gewöhnlich geschah, machten wir mit den Fremden nicht; wir begnügten uns, mit einem » Saelir verid thér!« zu grüßen und ritten wie sie unseres Weges weiter.

Schuld an dieser kurzen Begrüßung waren wohl die quälenden Mücken.

 

Die Gegend war hier an manchen Stellen geradezu hinreißend schön. Gletscher und gewaltige, steile Berge ragten hoch in den Himmel hinauf, die Ausblicke wechselten beständig; nie wurde es da langweilig oder eintönig.

Jeder Tag brachte etwas Besonderes: neue Gletscher und Berge, neue Seen und Flüsse, neue Täler und Fluren. Nicht nur wilde, romantische Lava- und Eisfelder sah man, sondern auch eine Menge lichtgrüner Strecken und üppiger, anmutiger Talsenkungen.

Ich glaube, man könnte monatelang hier reisen, ohne dieser Naturschauspiele überdrüssig zu werden, so überwältigend und so verschieden ist das von allem, was man in andern Ländern zu sehen gewohnt ist.

Wer freilich nur kurz im Innern Islands gereist ist, könnte wohl auf den Gedanken kommen, daß alles übrige diesem flüchtig Gesehenen gleichen werde. Aber das ist nicht der Fall; das Land ist vielmehr geradezu unendlich reich an Abwechslung und Überraschungen.

Natürlich gilt das nur, wenn das Wetter schön ist.

Der erwähnte dänische Arzt aus Kopenhagen, der die Schweiz und Schottland bereist hatte, sagte von mehreren dieser Ausblicke, daß er weder im Berner Oberland noch in den schottischen Hochlanden oder sonstwo je eine solche Pracht gesehen habe. Engländer, die ich traf und die zum dritten oder vierten Male auf Island waren, versicherten mir, sie würden noch öfter wiederkommen.

 

Infolge der brennenden Hitze mußte fast jeder Bach, den wir durchschritten, für unsern Durst ein wenig von seinem wohlschmeckenden, kristallklaren Wasser liefern, besonders den schweißtriefenden Pferden.

Endlich, nach einem sechsstündigen Ritt, fanden wir eine passende, einladende Stelle zum Ausruhen. Ein turmhoher Lavablock spendete wohltuenden Schatten.

Wir versorgten die müde und hungrig gewordenen Pferde und setzten uns dann in dem grünen Grase nieder, um ebenfalls das Mittagsmahl einzunehmen. Unsere »Vorratskammer« wurde geöffnet und alles mögliche daraus entnommen.

Der gesündeste Appetit und die frische freie Luft würzten uns die Speisen.

 

Sehr lange aber durften wir nicht rasten. Unser Ziel war ja der Geysir, und wir hatten erst den halben Weg zurückgelegt.

So mußten wir zeitig wieder aufbrechen.

Die Landschaft veränderte sich jetzt von neuem, wir ritten eine gute Stunde durch weitgedehnte grüne, blühende Wiesen.

Plötzlich sahen wir vor uns den »Laugarvatn«, den »See der warmen Quellen«, der zwar weder so groß noch so schön wie der Thingvallasee, aber dafür um so eigenartiger ist. Man denke sich nur Folgendes: Vor uns auf der grünen Ebene dampfte eine große Quelle neben der andern und bildete gewaltige schneeweiße Säulen, ungefähr so wie die Dampfmassen, welche die Lokomotiven zuweilen ausstoßen.

Hier beginnt bereits das Gebiet der warmen Quellen. Bis zum eigentlichen, großen Geysir ist es aber noch weit; was man in dieser Gegend sieht, sind gewissermaßen nur seine entfernteren, kleinen Verwandten.

Wir reiten in Eile an den vielen dampfenden, kochenden Quellen vorbei, denn wir dürfen keine Zeit verlieren.

Allmählich merken wir, daß die Hitze abnimmt; es wird etwas kühler. Wir ziehen daher Weste, Jacke und Rock wieder an. Die lästigen Mücken haben uns vollständig verlassen.

Unsere Pferde laufen, so schnell sie können.

Es zeigen sich schon Gehöfte. Die Leute arbeiten emsig auf den Feldern. Bei jedem Hof, in dessen Nähe wir kommen, wollen unsere Pferde, alle drei auf einmal, vom Wege abschwenken; aber sie bekommen jetzt keine Erlaubnis dazu.

Plötzlich stehen wir an einem Fluß. Wir müssen an ihm hinabreiten, um eine Furt zu finden, denn da, wo wir sind, ist es zu tief.

Mitten auf dem Wasser schwimmen ganze Familien von Wildenten, Scharen von jungen Entchen mit ihren Müttern. Sie schießen hurtig in den brausenden Bergwassern hin und her. Als wilde Freiluftwesen übertreffen sie in vielem ihre zahmen Anverwandten auf unsern Teichen. –

Hinter den leuchtenden weißen Gletschern ging bereits die Sonne unter; über die Erde begann sich feiner Nebel zu breiten: eine natürliche Folge der großen Wärme des Tages.

Wir ritten voran auf Pfaden, die hier schmal und kaum erkennbar waren.

Auf einmal machten unsere Pferde alle zugleich halt.

Vor uns lag eine grüne Wiese, ungefähr von derselben Art wie die vielen andern, über die wir soeben galoppiert waren.

Wenigstens schien es uns so. Die Wiese machte einen durchaus unschuldigen Eindruck auf uns.

Wir drängten daher die stehengebliebenen Pferde, endlich ihren uns unbegreiflichen Eigensinn aufzugeben.

» Farðu veginn!« (»Geh auf dem Weg!«), riefen wir dem Packpferd zu.

Aber diesmal schüttelt es ganz entschieden den Kopf. – Es will nicht. – Alle drei Pferde bleiben starr und unbeweglich und wollen keinen Schritt mehr vorwärts tun.

Wir gebrauchen unsere kleinen Peitschen; die Pferde gehen ein paar Schritte, bleiben dann aber wiederum stehen und schütteln von neuem den Kopf.

Wir suchen sie nun mit Gewalt voranzutreiben.

Allein sie schnüffeln nur verdächtig an der Erde; ja sie kehren jetzt auf das bestimmteste um und gehen nach der entgegengesetzten Richtung.

Schließlich verstanden wir, was ihnen da im Wege war:

Wir hatten Moorgrund vor uns, den die vorsichtigen Tiere mit Recht ganz besonders fürchten.

Wir waren vom rechten Weg abgekommen!

Als wir nun kehrtmachten, fanden wir bald einen guten Fußpfad. Jetzt zeigten die Pferde keine Spur von Scheu mehr, sondern sie eilten im Gegenteil wieder frisch voran.

Das sichere Gefühl der guten Tiere hatte uns gerettet, wenn auch vielleicht nicht aus Lebensgefahr, so doch vor ernstlichen Schwierigkeiten.

 

In Nebel und Halbdunkel kamen wir dann zu einem großen, steil ansteigenden Berg, bewachsen mit Birkenwald. Der Weg führte schroff hinauf, der Nebel wurde dichter.

Es fing an, ungemütlich zu werden.

Der Sicherheit halber sprengte ich nach dem nächsten Gehöft, um mich über den weiteren Weg zu erkundigen, ehe wir den unsicheren Aufstieg unternahmen.

»Wie weit ist es bis zum Geysir?« fragte ich.

»Zum Geysir? – Da kommen Sie heute nacht nicht mehr hin!« sagten die Leute. »Aber Sie können über den Berg reiten. Der Weg durch den Wald ist überall gut und deutlich zu erkennen. In vier Stunden kommen Sie dann zur Bruará (Brückenfluß), die überschreiten Sie gleich oberhalb des Wasserfalls. Auf dem ersten Hof, den Sie jenseits des Flusses finden, können Sie einkehren.«

Ich dankte und wollte eilends wieder davon. Jedoch da hatte ich, ganz unbewußt, eine schlimme Unhöflichkeit gegen die liebenswürdigen Leute begangen:

Sie riefen mich freundlich, aber bestimmt zurück, und ich mußte jetzt noch mit allen großen und kleinen Neuigkeiten herausrücken, in deren Besitz ich war.

Mein Reisegefährte Friedrich, den meine Abwesenheit wohl etwas lang dünkte, hatte inzwischen zu seiner Unterhaltung den schönen dänischen Gesang angestimmt:

»König der Könige, du allein
Kannst schirmen das liebe Vaterland ...«

Als ich wieder zu ihm kam, ritten wir beide singend den beschwerlichen Weg bergan.

Oben auf dem bewaldeten Rücken, wo es dann geradeaus ging, liefen unsere Pferde, so schnell sie es mit ihren kleinen Beinen nach der Anstrengung des Aufstiegs vermochten. Sie wünschten jetzt augenscheinlich bald an ein Ziel zu gelangen.

Die Pferde werden überhaupt immer williger, je weiter der Tag vorrückt.

Schon wurde es dunkler und immer dunkler; wir sahen kaum noch mehr als zehn bis zwanzig Meter weit.

Wegen der feuchten, kalten Luft auf diesem unheimlichen Bergrücken mußten wir jetzt sogar absteigen, unsere Ölkleider wieder anziehen und die Südwester auf den Kopf setzen.

Welch ein Unterschied von der vorausgegangenen Hitze dieses Tages!

 

Nachdem wir etwa vier Stunden so geritten waren, hörten wir vor uns ein ungewöhnlich starkes, dumpfes Brausen. Es war wie von der Brandung des Meeres, ungefähr so, wie wenn Tausende von Wogen unablässig gegen Felswände schlügen.

Hier stand uns offenbar ein neues Abenteuer bevor!

Und was war es?

Wir befanden uns wieder an einer von Islands merkwürdigen Stätten: nahe am Bruaráfluß mit dem Wasserfall, über den wir nun hinüberreiten sollten – ganz allein, in Dunkelheit und Nebel!

Wir befanden uns tatsächlich in einer abenteuerlichen, bedenklichen Lage.

Wäre Hans Christian Andersen hier gewesen, der Dichter, er hätte von dem, was nun kommen sollte, einen ganzen Band neuer Geschichten schreiben können.

Unsere Pferde waren jetzt kaum noch zu halten und zu zähmen. Friedrich ritt eine Zeit lang voraus an der Spitze. Oft sah ich von ihm nichts mehr als seinen gewaltigen Südwester, wie er über dem Birkengebüsch dahinhüpfte; alles übrige, Pferd und Knabe, war verhüllt von den dichten Zweigen.

Das Brausen des Flusses nahm fortwährend zu. Zuletzt übertäubte es alles andere.

Endlich halten unsere drei Pferde an; wir sind zu der höchst eigentümlichen Furt gelangt.

Der Fluß mag gegen achtzig Fuß breit sein. In der Mitte seines Bettes stürzt sich die ganze Wassermasse tosend in einen Abgrund, und über diesen Abgrund sollen wir hinwegreiten!

Es ist ein Wasserfall eigener Art. Mitten im Flußbett ist nämlich ein tiefer, ziemlich breiter Spalt, der in der gleichen Richtung verläuft wie der Fluß selbst. In diesen Spalt stürzt das Wasser von beiden Seiten des Bettes hinunter, und eine Holzbrücke, die erst kurz davor beginnt, führt hinüber. Die Brücke ist vom Ufer aus unsichtbar; sie liegt ein wenig tiefer als der Wasserspiegel.

Ein Stück weiter abwärts stürzt sich die ganze Wassermasse des Flusses wieder über eine Felsenwand hinab und bildet dort einen neuen Wasserfall, jedoch einen der gewöhnlichen Art.

Wir schauten also vom Ufer über den Fluß hin und fingen an zu stutzen.

Diesmal taten es auch die Pferde. Sie waren offenbar hier noch nie gewesen; ich mußte die Peitsche gebrauchen, um sie ins Wasser hineinzubringen.

Besonders verdächtig kam ihnen die draußen im Wasser halb verborgene Brücke vor, die über den doppelten brausenden Wasserfall führt. Aber gerade über sie mußten wir hinüber, sonst stürzten wir in die tiefe Lavaspalte hinab.

Das einzige, was mich ernstlich bekümmerte und mir eine gewisse Furcht einflößte, war der Gedanke an Friedrich; denn ich mochte im Notfall schreien, soviel ich wollte, hier hörte man keine Silbe.

Schon jetzt brachte ich mein Pferd nur mit großer Anstrengung neben das seinige. Ich mußte aber den Knaben beim Flußübergang unbedingt in meiner Nähe haben. Ich ergriff daher den Zaum des Packpferdes und die Zügel meines eigenen Pferdes und suchte sie mit der linken Hand zu halten; mit der rechten faßte ich den kleinen Reisegefährten am Arm.

So zwang ich die Pferde ins Wasser hinein.

Bei den ersten Schritten traten sie mit äußerster Vorsicht auf den steinigen Grund.

Als wir uns der Mitte des Flußbettes mit dem unheimlichen Spalt und der darüberführenden, unter dem Wasserspiegel halb verborgenen Brücke näherten, wurde das Packpferd unruhig. Es scheute und begann, rings um unsere beiden andern Pferde zu kreisen!

Augenblicklich mußte ich unsern Zug – draußen in dem tiefen Wasser! – stoppen und das erschreckte Tier so nahe wie möglich zu mir heranziehen, damit wir alle, auf einen Haufen gedrängt, über die verhängnisvolle Brücke kommen könnten.

Aber jetzt drückte das unruhig gewordene Packpferd die harten Koffer mit solcher Kraft gegen meine Beine, daß ich glaubte, sie würden zerquetscht werden!

Ich schrie laut vor Schmerz.

Aber weder Friedrich noch ich selbst hörten diesen Schrei; der Wasserfall brüllte hundertmal stärker.

Ja, das war eine verzweifelte Lage! Und alles gerade vor der unheimlichen Holzbrücke und nur ein kleines Stück über dem zweiten großen Wasserfall!

Trotz meiner Tierliebe begann ich jetzt in meiner Not – ich bitte alle guten Menschen um Verzeihung dafür! – unser Packpferd mit der Peitsche zu bearbeiten, um es zu veranlassen, daß es sich ein wenig von mir entfernte und hinter meinem Reitpferd herging.

Das glückte mir auch zuletzt; aber erst nach einem harten Kampf, draußen mitten in dem tobenden Fluß!

Dann bewegten wir uns endlich wieder langsam vorwärts, gegen die Brücke zu.

Die Pferde traten zitternd und vorsichtig darauf.

Mitten auf der Brücke sah man in die Lavaspalte hinunter. Wir befanden uns buchstäblich in einem schäumenden Wasserfall!

Als wir glücklich das andere Ufer erreichten, waren wir wie betäubt von all dem Tosen und Brausen.

 

Indessen war es gegen Mitternacht geworden, und wir dachten, wenn wir jetzt nur schnell ein Gehöft fänden, wo wir bleiben könnten!

Dieser Wunsch schien sich uns jeden Augenblick zu erfüllen; aber wir wurden jedesmal getäuscht, denn was sich da vor uns zeigte, waren immer nur große Lavablöcke, die im Nebel gerade wie Häuser aussahen.

Nach vielen solchen Enttäuschungen geschah es, daß plötzlich ein Pferd vor uns stand. – Jetzt, dachten wir, konnte auch der Hof nicht mehr weit entfernt sein. Und wirklich, fünf Minuten später sahen wir ihn.

Unsern Pferden gab es einen Ruck; sie wieherten und flogen im Galopp auf die Häuser zu.

Ein Mann, der noch im Freien war, kommt auf uns zu. – Wir bieten den Gruß und fragen ihn:

»Können wir hier übernachten?«

»Nein, leider nicht«, antwortet er; »wir haben kein Fremdenzimmer, und in der Badestube wollen Sie gewiß nicht schlafen?«

Ich frage darauf:

»Wie weit ist es bis zum nächsten Hof?«

»Eine halbe Stunde zu reiten«, sagt er.

Wir grüßen und reiten weiter in den düsteren Nebel.

 

In einer isländischen »Badestube«, besonders auf einem kleinen unbekannten Hofe, schlafen, das läßt sich nicht gut machen. Badestube wird nämlich in Island das Wohnzimmer genannt, der Raum, wo alle sich bei Tag und Nacht aufhalten. Zum Baden wird sie kaum noch gebraucht.

Dieser Hauptraum des Hofes ist ungefähr so wie einst in Harald Schönhaars Tagen eingerichtet: An den Wänden hin stehen große, feste, entweder offene oder geschlossene Betten (»Rekkjur« und »Lokrekkjur«). Auf der einen Seite der Stube schlafen die Männer, auf der andern Seite die Frauen. Bisweilen aber gibt es doch zwei getrennte Schlafzimmer, eines für Männer und eines für Frauen. Jedes der sehr breiten Betten muß in der Regel so viele Menschen aufnehmen, als darin Platz haben. Es ist also vollständig, wie es im Mittelalter in den meisten übrigen europäischen Ländern war. Lüftung und Reinlichkeit sind manchmal ungenügend.

Hier wird vielleicht mancher denken, bei einer solchen Einrichtung müsse die Sittlichkeit leiden. Das scheint aber nicht der Fall zu sein, wenigstens nicht in merklicher Weise.

 

Im Hinblick auf die »Badestube« ritten wir also weiter, um das nächste Gehöft zu erreichen. Es hieß Vesturhlid.

Als wir ungefähr eine halbe Stunde lang geritten waren, tauchte in dem Nebel vor uns etwas wie der Schatten größerer Gebäulichkeiten auf, und sogleich rief Friedrich voll Begeisterung:

»Welch ein prächtiger Hof! Der hat ja mindestens fünf Stockwerke! Und dann sind noch zwei – drei – vier hohe Türme darauf!«

Wir hielten unsere Pferde an, ganz sprachlos vor Erstaunen. – Ein solcher Prachtbau hier – das war doch unbegreiflich!

Aber die mächtigen Gebäude hoben sich in der Tat majestätisch in die Luft hinauf, gerade vor uns. Sie glichen eher einem Schloß als einem Gehöft.

»Hier werden sie gewiß ein gutes Fremdenzimmer haben!« rief ich nun ebenfalls freudig dem kleinen Friedrich zu. – »Aber komm, laß uns auf die andere Seite reiten, der Eingang muß dort sein!«

Wir ritten näher.

Doch wie –? Was ist das –?

In wenigen Sekunden hatte sich das »Schloß« in einen mächtigen, düsteren, gespenstischen – Lavablock verwandelt!

Verblüfft und enttäuscht schauten wir an ihm empor. – Dann aber brachen wir beide, trotzdem wir sehr müde waren und endlich ein Unterkommen für die Nacht zu finden wünschten, in ein lautes Gelächter aus.

 

Kaum jedoch war das Lachen in der nebligen, stillen Nacht verhallt, da kam eine neue Überraschung: Ein kräftiges Hundebellen schallte uns entgegen, rechts von dem Gespensterschloß.

Nun war aber keine Täuschung mehr möglich. Durch unser Lachen hatten wir die Hunde auf einem Hof geweckt, der ohne Zweifel nur einige Minuten entfernt lag.

Unsere Pferde mit ihrem schärferen Sinn schlugen jetzt sofort von selbst die Richtung nach rechts ein und folgten einem kleinen Pfad, der durch die Wiesen unmittelbar zu den Häusern hinführte.

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Das war das richtige Vesturhlid.

Wir ritten gegen den großen Giebel und hielten auf dem Hofplatz, den Blick noch immer auf die Häuser gerichtet, da wir geneigt waren, eine neue Verwandlung zu befürchten.

Diesmal aber war und blieb es ein wirkliches Gehöft, das nichts mit einem Lavablock zu tun hatte.

Die Leute hatten bereits alle geschlafen. Erst auf das Bellen der Hunde und das Getrappel der Pferde waren sie aufgestanden und zeigten sich jetzt, einer nach dem andern, an einem großen Fenster über der Tür.

Ich grüßte, indem ich an meinen Südwester griff, und rief ihnen, ohne abzusteigen, den landesüblichen Gruß zu:

» Hér sé Gud!« (»Hier sei Gott!«)

Von drinnen antworteten alle im Chor:

» Gud blessi ykkur!« (»Gott segne euch!«)

Dann fragte ich:

»Können zwei Reisende hier übernachten?«

Die Leute sahen einander an und schienen zu beraten, was sie antworten sollten. – Endlich rief eine männliche Stimme:

»Kommt ihr vom Ausland?«

»Ja, wir kommen von Dänemark.«

Die Leute setzten ihre Beratung fort, während am Fenster immer mehr Gesichter: Männer, Weiber, Mädchen und Knaben, erschienen, die uns alle mit großer Neugierde betrachteten. Besonders die kleinsten unter den Kindern drängten sich vor und drückten ihre Näschen flach an die Scheiben.

Wir müssen den Leuten wohl vorgekommen sein wie ein paar unbekannte, verirrte Vögel, die mitten in der finsteren Nacht plötzlich auf ihren Hofplatz daherflogen. Alle schauten uns neugierig an in unsern gelben Lederkleidern und mit den großen Matrosenhüten auf dem Kopf.

Wir aber warteten geduldig auf den Ausgang der Verhandlungen.

Der arme Friedrich, der äußerst müde und schläfrig geworden war, meinte, er würde jetzt bald auf seinem Pferde einschlafen, wenn es noch lange dauerte oder wenn wir gar noch weiterreiten müßten.

Gleich darauf wurde aber die Tür geöffnet, und ein Mann im Nachtanzug kam heraus. Er ging auf uns zu und sagte:

»Ich bedaure, wir haben keine Fremdenzimmer. Mit dem Wohnzimmer werdet ihr wohl nicht vorliebnehmen wollen?«

Der kleine Friedrich, der den Sinn der isländischen Antwort erraten hatte, rief in seiner Müdigkeit:

»Ach, laßt uns doch in der Wohnstube schlafen!«

Allein so gern ich Friedrich helfen wollte, hier mußte ich leider hart sein. Ich sagte zu ihm:

»Wart ein wenig, ich will mit dem Manne reden.«

Dann fragte ich den Isländer:

»Ist es weit bis zum nächsten Hof?«

»Der nächste Hof«, erwiderte er, »ist Austurhlid; da hat man ausgezeichnete Fremdenzimmer und alles dabei. Zu reiten ist es noch eine Stunde.«

Diese Auskunft genügte mir. Mein Entschluß war gefaßt: Wir mußten eilends nach Austurhlid!

Der Mann bat uns, ein wenig zu warten. Er lief hinter die Häuser, und nach ein paar Minuten kam er auf einem kräftigen Pferd herangaloppiert, immer noch in seinem Nachtgewand: in Hemd und hellgelben Unterhosen!

»Ich will mit euch nach Austurhlid reiten«, sagte er. »Gebt mir das Packpferd und reitet hinter mir her. Ich kenne einen kürzeren Weg, den ihr in diesem Dunkel nicht finden würdet.«

Wir dankten dem Mann herzlich und riefen den vielen Gesichtern oben im Fenster Lebewohl zu. Sie nickten lebhaft; mehrere der Kinder warfen uns Kußhändchen entgegen.

Flugs ritten wir dann zum Hof hinaus, in der Richtung nach Austurhlid, der Bauer mit unserm Packpferd voran.

 

Nach einer guten halben Stunde kamen wir zu einem großen, schönen Hof. Unser Führer sprang vom Pferd, kletterte rasch auf das niedere Dach eines der Häuser und rief laut gegen ein kleines Fenster:

» Hér sé Gud!« (»Hier sei Gott!«)

Sogleich antwortete es von drinnen:

» Gud blessi ykkur!« (»Gott segne euch!«)

Dann sprang der Mann wieder vom Dach herunter und verabschiedete sich mit einigen wenigen Worten von uns. Das kleine Entgelt, das ich ihm für seinen so liebenswürdigen Dienst anbot, nahm er nur widerstrebend in Empfang.

»Reisenden pflegen wir ohne Bezahlung zu helfen«, bemerkte er.

 

Als er fort war, ging die Tür auf, und die Tochter des Bauern trat heraus. Ein Knabe folgte ihr. Beide grüßten uns sehr höflich. Als ich um Entschuldigung bitten wollte wegen der späten Störung, sagte das Mädchen freundlich:

»Es ist keine Ursache, davon zu reden.«

Und der kleine Junge, mit dem ganzen Gesicht lachend, fügte hinzu:

»Das ist gar keine Störung! Geben Sie mir nur Ihre Pferde und überlassen Sie mir alles ganz allein! Ich werde schon gut achtgeben! – Sollen die Koffer zu Ihnen ins Fremdenzimmer gebracht werden?«

»Ja, das wäre mir lieb; aber dabei will ich dir helfen.«

»Nein, das sollen Sie nicht«, wehrte er ab; »ich werde gleich dafür sorgen, daß sie hineinkommen.«

Ich mußte wohl oder übel nachgeben.

Die Tochter des Bauern bat uns, einen Augenblick zu warten, bis sie drinnen im Fremdenzimmer die Lampe angezündet habe. Dann kam sie wieder heraus und forderte uns in der liebenswürdigsten Weise auf, einzutreten.

Indes konnte ich es doch nicht unterlassen, schnell nachzusehen, wie der kleine Junge mit unsern Pferden zurechtkam.

Er war soeben daran, dem Packpferd Sattel und Koffer herunterzunehmen, und ich muß gestehen, daß er es sehr geschickt verstand, damit umzugehen. Die Pferde gehorchten ihm aufs Wort und wagten nicht, sich ohne sein Kommando zu rühren. –

Groß war unser Staunen, als uns die Tochter durch ein Vorzimmer in das Fremdenzimmer führte:

Das war ein vollständiger kleiner Kopenhagener Salon! Auf dem Boden lag ein hübscher Teppich, mitten in der Stube stand ein großer, runder Tisch von Mahagoniholz; ferner war da ein einladendes Sofa, schöne Schränke, eine prächtige Kommode, eine nette kleine Bibliothek usw.

Angesichts dieser Vornehmheit kehrten wir eiligst wieder ins Vorzimmer zurück, um dort unsere feuchten Reisekleider abzulegen. Die paßten allzu schlecht in die feine Stube. –

Wie schon gesagt, war es bereits lange nach Mitternacht, als wir ankamen. Und doch sollte jetzt noch unser Abendessen zubereitet werden!

Natürlich suchten wir da unserer diensteifrigen Wirtin ihre Arbeit, so gut wir konnten, zu erleichtern, indem wir ihr eine von unsern englischen Konservendosen zum Aufwärmen gaben.

Über den Tisch wurde mittlerweile ein schneeweißes Tuch gebreitet.

Schneller, als der Hungrigste hätte erwarten können, war das einfache Gericht fertig, und wir verspeisten es mit dem größten Appetit. Es war eine unter den gegebenen Umständen fast königliche Mahlzeit. –

Unterdessen war auch die Schwester unserer Wirtin aufgestanden. Sie machte in zwei verschiedenen kleinen Zimmern unsere Betten zurecht, und wir wurden sogar wieder gefragt, ob wir Eiderdaunen oder Decken wünschten.

Weil das Wetter gut und mild war, baten wir um Decken.

Nach einem kurzen Abendgebet begaben wir uns dann zur wohlverdienten, ersehnten Ruhe. Friedrich schlief in wenigen Sekunden wie ein Murmeltier.

Gesünder und erquickender als nach diesem angestrengten Tag mit seinen verschiedenen Erlebnissen und Abenteuern war unser Schlaf wohl selten. Wir schliefen bis weit in den nächsten Vormittag und träumten von Millionen Mücken, von einem halsbrecherischen Ritt über schäumende Wasserfälle und von der Belagerung himmelhoher Geisterschlösser, die sich bald in gewöhnliche Bauernhöfe verwandelten, wo hinter jeder Fensterscheibe Menschengesichter hervorschauten.


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