Auguste Suppper
Leut'
Auguste Suppper

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Mein Nachtquartier

Das Wandern ist des Müllers Lust« hatte ich gesungen, und »Drauß' ist alles so prächtig« und »Der Mai ist gekommen«. Kein weiteres Wanderlied wollte mir in den Sinn und in die Kehle kommen, da schritt ich denn stumm, aber mit wanderfrohem, leichtem Herzen fort über die einsame, weltabgeschiedene Höhe, auf die ich nach langem Marsch geraten war. Der letzte fahle Schein eines rasch verglühenden Abendrots lag rings gebreitet. In der Ferne sah ich Fichtenwälder schwarz und schweigend stehen; aus den weiten Flächen blühenden Heidekrautes ragten einzelne zerstreute Birken und da und dort ein dunkler Wacholderbusch, die Zypresse des Schwarzwalds. Den steinigen Pfad, den ich ging, säumten Schlehenbüsche, in deren kahlem Dornengestrüpp Tausende von Raupennestern hingen. Bisweilen überkletterte 118 ein dichtes, stacheliges Geranke von Brombeeren den wohl selten begangenen Weg.

Ich griff jetzt schneller aus. Freudenberg, das ich erreichen wollte, mußte vor mir im Tal liegen, und den Abstieg an der waldigen Berglehne dort drüben hätte ich gern noch bei ausreichendem letztem Tageslicht gemacht. Aber der ferne schwarze Waldgürtel kam mir nicht näher. Weithin dehnte sich die öde Höhe und die Nacht sank rasch. Wie schwarzgraues, fast greifbares Schleiergewoge kam sie hernieder. In den einsamen Birken schienen Fetzen dieser Schleier zu hängen, und die Schlehen- und Wacholderbüsche verzerrten sich zu abenteuerlichen Gestalten. Jetzt stand mir der Sinn nicht mehr nach Wanderliedern. Nicht daß mir bange geworden wäre. Aber die laute, überquellende Fröhlichkeit, die beim Wandern im hellen Sonnenlicht aufgeblüht war, sie schloß den Kelch, wie's manche Blumen tun, wenn der Abend kommt.

Eine tiefe, große Feierlichkeit war um mich her. Das leise Knirschen meiner Tritte schien mir wie eine plumpe Störung. Wieder und wieder blieb ich stehen und tauchte in der dunkeln heiligen Stille unter, die zart umsäumt war von dem kaum hörbaren Rascheln des Windes im Heidekraut. Mir schien es, als sei ich jetzt der einzige Mensch auf der Welt, und diese weite, dunkelnde Welt sei ein Tempel des Ewigen, der überall ist. 119

Und wie ich da einmal wieder stehen blieb und meinen einsamen Weg zurücksah, da kam hinter einem Waldsaum der Mond empor. Er war bald voll und sah grinsend herüber, als wolle er mich lachend grüßen. Ich glaube, ich habe auch ihm zugelacht, so wie man einem trauten Wandergesellen zulacht, den man von ferne kommen sieht.

Wieder schritt ich dahin, aber jetzt nicht mehr allein. Mein langer schwarzer Schatten vor mir, der grinsende Geselle hinter mir – das war ein vergnügliches Wandern. Und dann mußte ich mich jäh umsehen. Seit wann hört man denn Schritte im Doppelklang, wenn nur der Mond und der eigene Schatten mit einem wandern! Überrascht blieb ich stehen. Hinter mir, schon ziemlich nahe, kam ein hochgewachsener Mann gegangen. Scharf hob sich die dunkle Gestalt auf der freien, mondhellen Höhe ab. Wo war er denn auf einmal hergekommen, der nächtliche Wanderer? Ich hatte mich doch so oft schon umgesehen und war immer allein gewesen auf der öden Hochebene. Erwartungsvoll sah ich ihm entgegen, der da mit weiten, steifen Bauernschritten gegangen kam. Nicht weit von mir blieb der Mann plötzlich stehen. Scharf umrissen sah ich seine Gestalt in der rasch zunehmenden Helle des Mondes.

Groß und breit in den Schultern war er, und auf diese Schultern fielen ungebräuchlich lange, 120 strähnige Haare, auf denen eine altväterische Schildkappe saß. Mehr altväterisch als bäurisch war auch der langschößige Rock; ein Leibrock, wie ihn unsere Urgroßväter zu Jabot und Schnallenschuhen trugen. Einen derben Stock, der aus einer beliebigen Hecke geschnitten sein mochte, trug der Mann in der Hand, und die Hosen steckten in niederen Schaftstiefeln.

Wie eigens für diese weltferne, wunderbare Nacht geschaffen kam mir der Wanderer vor; mir war, als könne man ihn, wie er so dastand, fragen nach Dingen, die mit keinem Alltag zu tun haben.

Sein Gesicht sah ich nicht, aber ich fühlte, daß er scharf zu mir herschaute, so scharf, daß mir fast unbehaglich ward.

»Guten Abend!« rief ich ihm zu, und der eignen Stimme Klang überraschte mich in dieser seltsamen Stille.

»'n Obed,« gab er zurück in der breiten, rauhen Sprache jener Höhen, aus der nicht viel Schönes herauszuhören ist, wenn man nicht zu lauschen versteht mit dem Herzen, das warm wird vom Klange der Heimat.

»Exkise,« fuhr er fort und trat ganz nahe zu mir her, »aber i han gmeint, der Schmied von Ertinge stand wieder do. Schon zweimal hot er mi do hobe gstellt.« 121

Ich konnte jetzt das Gesicht vor mir unterscheiden. Es war ein bartloses derbes Gesicht mit langer starker Nase und breitem Kinn, ein Gesicht, auf dem starre Willenskraft, ja Gewalttätigkeit zu lesen war.

»Ein Schmied bin ich nicht,« sagte ich jetzt, »nur ein Wandersmann, dem unversehens die Nacht auf den Hals gekommen ist, und der nach Freudenberg will.«

Der Fremde setzte seinen Knotenstock auf und schritt zu, als nehme er für selbstverständlich an, daß ich neben ihn trete. »Do send's no drei guete Stund,« sagte er beiläufig.

Ich war unangenehm überrascht. So weit hatte ich mir den Weg meiner Karte nach nicht mehr geschätzt. Die sieben oder acht Stunden, die ich heute schon gegangen, begannen in meinen Füßen zu rumoren.

»Unmöglich,« rief ich betroffen, »da hätte ich einen kolossalen Umweg gemacht. Auf meiner Karte steht's doch ganz anders.«

Mein Begleiter lachte kurz auf. »Se send halt am Herrgottsbühl vorbei und hänt kei Vaterunser betet.«

Ich weiß, wie in den waldigen Schluchten und Höhen dort hinten wirrer Aberglaube durcheinander wuchert, und ich weiß auch, wie unklug es ist, darüber zu lachen. Kein Würzelchen des tollen 122 Gerankes lockert sich durch wohlfeilen Spott; dagegen gehen die Herzen der Waldleute, die sich so schwer und mühsam öffnen, unwiderruflich zu. Wie die Igel, die an ihren Feldrainen hausen, so sind die Leute dort hinten: eine ungeschickte Bewegung, dann rollen sie sich zusammen und starren von Stacheln.

Aber es war nicht nur aus Gründen der Klugheit, daß ich nicht lachte dazumal. Es schien mir, als könne der Mann, der da neben mir schritt, überhaupt nichts Törichtes, nichts Lächerliches sagen, als sei jedes Wort aus diesem strengen, bartlosen Mund vollwichtig und bedeutungsschwer. Ich stand still und zog meine Karte hervor, den Herrgottsbühl darauf zu suchen, und mein Begleiter hemmte neben mir den Schritt.

Silbrigweiß, fast als schiene es auf ein Schneefeld, lag das Mondlicht auf der öden Höhe; aber es reichte doch nicht hin, die feinen Linien auf der Karte zu lesen.

»Lasset des Zeugs weg,« sagte der Mann neben mir, »lasset des Zeugs weg, ihr Stadtleut! 's Bescht stoht doch net drinne.«

»Warum nicht gar,« bestritt ich. »Höhen und Täler, Flüsse, Bäche, Wege, Wälder, Felder und Heiden sind da eingezeichnet. Mehr braucht's doch nicht, daß ein Wandersmann sich zurechtfinde.«

»Jo, so wie Sie heut obed,« entgegnete der 123 andre trocken. Dann beschrieb er mit seinem Stock einen weiten Bogen. »Selt dromme hättet Se laufe müeße, no wäret Se jetzt scho lang z' Freudeberg. Aber weil Se am Herrgottsbühl kei Vaterunser betet hänt, no hot Se eifach 's bitter Fränzele nebe nauß gführt. Se send net d'r erscht.«

»Ich bin am Herrgottsbühl wahrscheinlich gerade zumarschiert, ohne auf meine Karte zu sehen,« warf ich ein.

»Was Kart!« schnitt mir der Mann kurz und höhnisch das Wort ab, »d' Kartemacher zeichnet d' Welt do na, wie wenn se so e Schlehebusch wär, in dem d' Raupe gehaust hänt – nix derhinter und nix dervor –«, er schlug mit seinem Stock gegen einen der Büsche am Weg; »aber wenn mer gnauer naguckt, no ist no ällerlei do, was mer net zeichne und net aufschreibe ka.«

Der Dänenprinz fiel mir ein, der ähnliches behauptet, und ich schritt schweigend neben meinem schweigenden Begleiter weiter. Unsre Schatten liefen tiefschwarz vor uns her, ein Käuzlein lachte in der Ferne in immer kürzer werdenden Zwischenräumen, um dann jäh zu verstummen.

Ich sah am Schatten, wie der Mann neben mir den Kopf hin und her wiegte. »'s wurd nix z'mache sei,« murmelte er dann so, daß ich's verstehen konnte, »der Vogel gfällt mer net.«

»Es war ein Waldkauz,« sagte ich. 124

»Mir heißet 'n de Totevogel. Er schreit schon e Woche drei um de kalte Hof rum. I glaub, d' Bäure treibt's nemme lange. Wenn's Gotts Will wär und des Weib käm zu ihrer Ruh; 's ist nemme schö, was die ausstehe mueß. Sie schickt wohl immer zu mir, und i komm jo au gern; aber für älles kann i au net sei, so wenig wie d'r Pfarrer vo Freudeberg, der ällbot au zur Nane komme mueß.«

»Ist ein Hof da in der Nähe?« fragte ich, von der Möglichkeit baldigen Ausruhens mehr ergriffen als von dem Leiden eines mir ganz fremden Weibes.

»Ha jo, d'r kalt Hof, selt dromme im Deich,« gab der Mann in einem Ton zur Antwort, als sei es Pflicht jeden Wanderers, vom kalten Hof zu wissen. »D' Nane hat mer verbotte, i soll heut no komme, 's sei wieder so arg als emol.«

Ich glaubte jetzt klar zu sehen: der Mann war einer der bäuerlichen Wundärzte, wie man sie vereinzelt dort in den Wäldern noch trifft, ein wunderliches Gemisch von Barbier, Chirurg, Hufschmied, Bauer, Tier- und Menschen-, Leib- und Seelenarzt.

»Ihr seid wohl der Doktor da oben?« fragte ich vorsichtig.

»I be d'r Fritz,« entgegnete der Mann kurz, als könne und müsse das jedem genügen. 125

Ich hütete mich wohl, Näheres zu erfragen. Man geht keinen Großen ungestraft um Vor- oder Zunamen, Stand oder Beruf an. »Goethe« – das genügt; warum sollte »d'r Fritz« nicht genügen, wenn es in solchem Ton ausgesprochen ward.

»Könnte ich nicht vielleicht auf dem kalten Hof einen Unterschlupf finden für diese Nacht?« fragte ich nach einer Weile.

Der Mann gab nicht sogleich Antwort. Mit seinen steifen, gleichmäßigen Schritten stapfte er neben mir dahin, um dann plötzlich wieder stehen zu bleiben. Dabei legte er mir die schwere Hand auf die Schulter und zwang mich dergestalt, ebenfalls Halt zu machen.

Unwillkürlich sah ich zu ihm auf und fand, daß sein Gesicht, das er halb dem hellen Mond zuwendete, wie in starren Ernst getaucht war.

»Wenn's Ihne nix ausmacht,« sagte er langsam und schwer, »no bleibet Se halt in Gottes Name uf em Hof. Aber sell ka i Ihne sage: wenn i einer wär, wo kei guets Gewisse hot, oder wo de Herrgott fürchte mueß, no ging i lieber weiter und wenn mi meine Füeß kaum meh trage tätet.«

Die Hand auf meiner Achsel ward mir plötzlich unbehaglich. Sie war wie eine Hand, die gleich anfangen wird zu schütteln. Ich trat zurück und – soll ich's leugnen – ich suchte blitzschnell 126 mein Inneres durch, ob da etwas wäre, was mich vom kalten Hof hätte fernhalten müssen.

Die bleierne Müdigkeit in meinen Füßen stumpfte die Feinheit meines Gewissens etwas ab. Die Neugier, dieses gesegnete Laster, das schon so manches Dunkel hat lichten helfen, tat das übrige, so daß ich mich für den kalten Hof entschied.

»Ich gehe mit Euch,« sagte ich möglichst leicht und schritt wieder aus, »wenn Ihr meint, daß mir die Nane ein Obdach gibt.«

»Die – –« entgegnete der Mann gedehnt, »die kümmert sich um so Dengs nemme; i glaub äls, die wurd sich heut nacht selber e Plätzle suche; 's ist m'r grad so, wie wenn's heut nacht no wär; aber 's Bäbele und d'r Jakob sind do.«

Nun ist's gerade nicht verlockend, als fremder, ungebetener Gast auf einen Hof zu kommen, auf dem eben die Bäuerin sterben will; aber ich dachte nur an ein Plätzchen auf irgend einer Streu, wo ich meine müden Glieder würde strecken können, bis die frühe Morgensonne mich zu neuem Wandern riefe.

Unser Pfad, den immer noch das Buschwerk säumte, bog jetzt leicht gegen links ab. Ein plumpes Steinkreuz sah ich da am Wege ragen. Es war kaum als solches zu erkennen. Es mochte eine ungeschickte Hand gewesen sein, die es vor langer Zeit zurechtgehauen hatte. Mein Begleiter trat an das Kreuz und strich mit der freien Hand über 127 den Stein. Nichts von Scheu und auch nichts von Ergriffenheit lag in diesem Streicheln. Es war eine ganz nüchterne, fast geschäftsmäßige Sache.

»So, bleib jetzt no liege, Schmied,« sagte er dabei halblaut, »brauchst de nemme z' molestiere, i han se verbrennt, die Teufelsgert, die verflucht!«

Damit trat er zurück von dem Stein und stieß hart am Wegrand mit dem Stock auf den Boden. »Do ischt's gwe, grad do,« wandte er sich halb an mich.

»Was war da?« fragte ich.

»Ha, die Gschicht mit 'm Ertinger Schmied,« entgegnete er kurz, als müsse jeder diese Geschichte wissen.

»Was war's mit dem?« fragte ich weiter.

»Ha no, der hot am Karfreitich nachts, wo der Mo vollworde ist – des passiert bloß älle hundert Johr e mol –, do hot 'r noch Gold grabe, oder was weiß i! Seis Vaters Schwester, des ischt e ganz Letze gwe, von dere hat 'r e Rut ghät, wo eim d' Plätzle zeigt.

»Meis Vaters Vater, des ischt e Sinnierer gwe, der ist gern über d' Öde gloffe. Sellmols ist do no kei Weg gwe. Und der hot em Ostersonntich morge de Schmied tot in dem Loch gfunde, wo er hot g' grabe ghät. In d'r eine Hand hot 'r d' Rut ghät, in d'r andere e giftige Natter. Dere hot 128 'r de Hals zudruckt ghät, daß se 's Maul ganz aufgsperrt hot.«

»Mei Ähne hot no de Schultheiß gholt und de Pfarrer; aber d' Rut hot er vorher 'm Schmied aus d'r Hand to. Net, daß er hätt an Schatzgrabe wölle, mei Ähne – er ist e christlicher Ma gwe –, er hot bloß net wölle han, daß des Teufelszeug no weiter Elend anstift. Er hot se mit heimgnomme und hot se hinter d' Bibel nomgsteckt, und dort ist se gsteckt bis heut obed.

»Weil mi der Schmied scho zweimol gstellt hot, han i heut obed, eh i wieder auf de Weg be, die Teufelsgert verbrennt. Jetzt bleibt er scheint's doch liege, d'r Schmied.«

Befriedigt sah der Mann zurück nach dem Kreuz, das plump und still, von breiten flachen Büschen der Silberdistel umstanden, hinter uns blieb und seinen verzerrten Schatten über den Weg warf.

Ich ging stumm neben meinem Begleiter weiter. Es wäre mir unendlich deplaciert, ja es wäre mir läppisch vorgekommen, in dieser wunderlichen, silbrigen Nacht gegen das Wunderliche anzukämpfen, das so gut, so selbstverständlich hereinpaßte.

Ein fast wohliges Gefühl kam über mich, ein müdes Erschlaffen, dem ich nachgab, wie der Schwimmer, der sich auf den Rücken legt und sich von der Strömung treiben läßt, wer weiß wohin.

In der Ferne sah ich jetzt etliche breite Dächer 129 über eine Art von dunklem Wall ragen. Der Weg senkte sich stärker. Der kalte Hof lag im Deich, wie ein Rebhuhngelege in der Furche.

Der Mann an meiner Seite deutete mit dem Stock darauf hin. »Wenn d' Stei schwätze könntet,« sagte er kurz.

»Hätten denn die Mauern dort so viel zu erzählen?« fragte ich dagegen.

»Die –« machte er gedehnt, »die könntet tagweis fortverzähle, aber net viel Guets. Meis Vaters Vater, grad der, wo de Ertinger Schmied gfunde hot, hot scho ällerlei erlebt auf 'm kalte Hof, und dem hot no wieder sei Ähne verzählt, wie's bös zugange sei domols im Dreißigjährige Krieg. Von dem werdet Se doch au scho ghört han? Dozumol ischts jo wege 'm Glaube agange. Do häb d'r Bauer vom kalte Hof emol e ganze Herd vertriebene Leut en seim große Backofe versteckt. Und weil 'n d'r Teufel gritte hot, häb er no de Backofe azündt, so daß älle elend verstickt send oder verbrennt, oder was weiß i. Und no häb er aufgmacht und häb guckt, ob se kei Geld und Sach bei sich häbet; aber 'r häb kein lumpige Kreuzer gfunde, bloß e Weib häb no e bißle glebt, und die häb en Strick in d'r Hand ghät und häb gsagt: ›Nimm ihn, Bauer, nimm ihn, er ist lang genug, daß Kinder und Kindeskinder daran hängen können!‹ No ischt se gstorbe.« 130

Mein Begleiter schwieg jetzt und blieb stehen. Er hatte das Fluchwort des gemarterten Weibes in einer seltsam fremden Art gesprochen, wie ein guter Schauspieler; das gab seiner krassen Erzählung etwas unheimlich Lebensvolles.

Mit sonderbarer Scheu sah ich auf die Dächer, die im Mondschein lagen. Wo mochte er gestanden sein, der Backofen, in dem der Greuel geschah?

Der Mann neben mir schritt jetzt wieder aus. »Seit domols,« fuhr er ruhig, fast trocken fort, »seit domols hot sich no e jeder Bauer vom Hof ghängt. Bei eim oder zwei häb's gheiße, sie seiet im Bett gstorbe wie ander Leut; aber wenn mer dernoch guckt häb, no häbet au die en Streife um de Hals ghät wie von eme Strick.«

Ich hörte dem erzählenden Manne zu in einer ganz eigentümlichen Benommenheit. Es war mir, als schreite da einer neben mir her, der kalt und unbeteiligt, partei- und gefühllos, sachlich und wahrhaftig wie ein mechanischer Apparat das wiedergebe, was er aufgenommen hat aus der ruhelosen Welt des Geschehens. Da gab's kein Davon- und kein Dazutun. Es war keine Spur von Geflunker, ja es war kaum Anteilnahme herauszuhören. So spricht der große, unkritische, felsenstarre Glaube und Aberglaube, dem seine innerliche Welt aus Quadersteinen gefügt ist, an die nichts heran kann, ohne zu zerschellen. 131

Dieser Mann wartete gar nicht darauf, daß ich irgendwie Stellung nehme zu dem, was er sagte. Und so hörte ich denn zu, wie man rauschenden Wassern zuhört, denen auch niemand widerspricht.

Ich sah jetzt, daß der dunkle Wall der den Hof umgab, eine dichte, hohe Fichtenhecke war. Still, wie ausgestorben lag das Gehöft, nicht einmal ein Fenster sah ich erleuchtet; nur der Mond spiegelte sich in etlichen kleinen Scheiben, welche die von dunklem Gebälk durchzogene Front unterbrachen.

»Und der jetzige Bauer,« fragte ich »der Mann der kranken Nane?«

Mein Begleiter sah mich überrascht an, als traue er seinen Ohren nicht.

»Ha, wisset Se denn des net?« fragte er nach einer Pause des Staunens, »des ist doch d'r Christoph gwe, d'r lang Christoph!«

Ich wagte nicht zu sagen, daß ich nie etwas von einem langen Christoph gehört hatte. Den Leuten dort oben ist die waldumschlossene Heimat die Welt. Und welcher Mensch würde nicht mit Zurückhaltung und Mißtrauen auf ein Wesen blicken, das durch ein ungeschicktes Wort verrät, daß es aus einer ganz andern Welt stammt.

Der Mann neben mir hob jetzt den Stock und schüttelte ihn drohend: »So Lumpe wenn's viel hätt auf 'm Erdsbode!« murmelte er erbost. 132 »Hundert Morge de schönste Hochwald hot 'r versoffe, verspielt und verlüderlicht. Wie älles hi gwe ist, goht er her und hängt sich in der Scheuer. Sei eiges Weib hot 'n gfunde. Taused Mol han i's 'm vorghalte! Taused Mol han i gsagt: ›Christoph, so und so; Gottes Mühlen mahlen langsam.‹ – ›Halt dei Maul, Fritz,‹ hot 'r gsagt ›um de Strick komm i doch net num.‹ Lieber Herrgott em Himmel, was ischt's doch ebbes Args um den Spruch: ›Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern.‹ Ebbes Ärgers gibt's net auf der Welt als des! Mir graust's net leicht, Se könnet mer's glaube; aber wie i domols em lange Christoph sein Sarg uf Freudeberg gführt han – i han selber kutschiert, weil der Jakob, der Knecht, kei Kurasch ghät hot – und wie i domols – 's ist au e Nacht gwe wie heut und d'r Mo hot gscheint – des Gepolter und Gepockel en dem Sarg hinter mir drumme ghört han auf em ganze Weg, do, beim Blitz, hot mer's graust wie eme Schulerbube. Und seither ischt's au mit d'r Nane nemme recht. 's hot ällemol scho früher g'heiße, 's sei net älles recht auf 'm kalte Hof; aber seit dere Sach mit 'm lange Christoph ischt's no lumpiger worde.«

Wir waren jetzt dicht vor der Fichtenhecke. Ein niedriges Lattentor führte hindurch. Ich ließ meinen Begleiter vorangehen. Mir war fast, als 133 hätte ich klüger getan, nach Freudenberg weiter zu wandern trotz meiner müden Füße.

Die unbeschwerte Fröhlichkeit, die mir das Herz weit gemacht hatte, ehe der Mann da sich zu mir gesellte, sie lag weit zurück hinter all dem Dunkeln, Unbehaglichen, in das ich jetzt geraten war. Ich wollte lächeln über meine Benommenheit, ich rief meine ganze Aufgeklärtheit zu Hilfe, meine ganze Verachtung für all den tollen Bauernaberglauben. Aber was half's? Ein Alp drückt nicht weniger, wenn man weiß, daß es ein Alp ist.

Über einen mondhellen Hof schritten wir, auf dem ein hölzerner Brunnenschaft mit weit ausgerecktem Schwengel einen abenteuerlichen Schatten warf. Ein kleiner, schwarzer Spitzerhund kam irgendwoher gelaufen, umkreiste uns stumm und verschwand wieder. Er schien meinen Begleiter gut zu kennen. Und doch wäre es mir viel behaglicher, viel gemütlicher gewesen, wenn dieser Hund, wie es doch der gewöhnliche Brauch seiner Rasse ist, mit der bekannten heiseren Stimme ein unaufhörliches Gekläff angefangen hätte.

Unter die dunkle Haustür trat jetzt ein Mädchen, das eine Laterne hochhielt.

Sie schien nur meinen Begleiter zu sehen. »Kommet Ihr endlich, Fritz,« rief sie wie erleichtert. »O daß Gott, ischt des wieder e Nacht!«

Hinter dem Mädchen tauchte ein Mann auf, 134 ein junger, kräftiger Mensch, dem das dunkle, volle Haar ungewöhnlich tief in die Stirne wuchs, was dem bartlosen Gesicht etwas Stupides gab.

Er hatte, wie das Mädchen, keinen Gruß für uns.

»Des ischt mei letzte Nacht in dem Höft, in dem elende,« schrie er laut und erbost, wie jeder Bauer schreit, wenn er den entferntesten Widerspruch wittert, »die Schweinerei mach i nemme mit! Mer ist doch au e Christemensch.«

Mein Begleiter schob die zwei unter der Türe einfach zurück.

»Halt dei Maul, Jakob,« sagte er kurz und barsch, »und du, Bäbele, zeigscht dem Herre do e Plätzle, wo er schlofe ka heut nacht.«

Das Mädchen musterte rasch mein Gesicht. »So – wenn i e Plätzle wüßt –,« sagte sie beziehungsvoll und ging vor uns die steile weiße Holzstiege empor.

Oben war ein langer, sehr schmaler, grünlich getünchter Flur, in dem eine Lampe brannte. Ich sah schöne Geweihe und etliche ausgestopfte Nußhäher und Eichhörnchen an den Wänden.

Über einer Tür zur Linken hing ein Bild, auf das der Lampenschein besonders klar fiel. Es zeigte eine Darstellung der heiligen Dreieinigkeit, wie sie die vierschrötige Phantasie einer rohen Epoche sich 135 zurechtgezimmert hat: Gott der Vater sitzt als bärtiger Patriarch stumpfblickend zur Linken, Gott der Sohn schwebt mit der Siegerstandarte, die Weltkugel unter den Füßen, zur Rechten, und Gott der heilige Geist starrt als ein großes, etwa einem Stier entstammendes Auge über beide weg. Das Bild hatte gelbliche Flecken, wie von Alter oder Feuchtigkeit, und steckte in einem schwarzen, ganz flachen Rahmen.

In einer Ecke dieses Rahmens war ein Drudenfuß eingekritzelt oder aufgemalt. Deutlich hoben sich die bekannten ineinander geschobenen Dreiecke ab, die gegen Hexen und Unholde so unbedingten Schutz gewähren sollen, daß man sie noch aus dem Konterfei der höchsten Himmelsmächte als eine Art Verstärkung anbringt.

»Ischt d' Nane do drin?« fragte mein Begleiter und deutete auf die Tür unter dem Bild.

»Jo, se liegt im Bett,« entgegnete das Mädchen.

Der Mann tat die Tür auf, ohne anzuklopfen. Es schien ihm sehr zu eilen. Nach mir schaute er sich gar nicht mehr um. Die Tür ließ er hinter sich angelehnt.

Ich stand zögernd zwischen Knecht und Magd, die mich wenig freundlich, wie das Waldbauernart ist, betrachteten.

»Kann ich eine Kammer haben, oder eine Streu in Scheune oder Stall?« fragte ich die beiden. 136

Der Knecht kratzte sich im dichten Haar, lachte blöd und schaute die Magd an. Die schwenkte ihre Laterne ein klein wenig nach einer unbestimmten Richtung. »In d'r Scheuer hot's Platz genueg, do ka mehr dren schlofe und ka sich dren henke,« sagte sie mit einem sonderbar bitteren Zynismus, der keine Entrüstung herausforderte.

»Und im Stall,« fiel der Knecht ein, do könnet Se en mei Bett liege, i lieg heut nacht do nemme nei!«

»Und eine Kammer?« fragte ich; denn mit so bescheidenen Ansprüchen ich gekommen war – Scheune und Knechtsbett wollten mir auf einmal nicht recht behagen.

»D' Kammer, die ist do drenne, nebe d'r Bas ihrer Stub.«

Weder Knecht noch Magd machten weitere Anstalten mich unterzubringen. Hart und spröd wie ein Eichenklotz ist die Gastfreundschaft dort droben: nur wenn die anhauende Axt die günstigste Stelle trifft, ist ein Vorwärtskommen. Ich überlegte mir noch einen Augenblick, dann trat ich, ohne mich weiter um die beiden zu kümmern, in die Stube. Es war ein ungemein niedriges, aber weites Gemach, in das durch unverhangene Fenster der Mond schien. In einer Ecke auf einem hohen Schränkchen stand eine Lampe, deren trüber Schein 137 nicht ankam gegen das bläuliche Himmelslicht. Einen plumpen, viereckigen Tisch sah ich, auf dem etliche dicke Bücher lagen: Bibeln oder Predigtbücher mochten es sein. Ein hoher Lehnstuhl mit zerrissenem Polster auf dem Sitz und an den Ohrenklappen war zurückgeschoben, als sei eben jemand davon aufgestanden. Den größten Teil der Stube nahm eine Art Alkoven ein, eine erhöhte Nische, in der, von grellgeblümten Vorhängen umgeben, ein mächtiges Doppelbett stand. Vor diesem Doppelbett, in dem ich vorläufig nur einen Berg bunter Kissen unterscheiden konnte, sah ich meinen Wandergenossen stehen.

Überrascht hing mein Blick an diesem Mann. Das war nicht mehr der derbe Bauer, der mit den ungeschlachten Schritten und der ungeschlachten Sprache neben mir ging.

Etwas Würdevolles, ja etwas Ehrfurchtgebietendes lag um den Alten, der Hut und Stock weggelegt hatte. Die langen, strähnigen Haare fielen schlicht um das tiefernste Gesicht, die großen Hände, denen man die Arbeit ansah, hatte der Mann wie in Inbrunst vor der Brust gefaltet. Er blickte zu mir her, aber er schien mich nicht zu sehen; es lag nichts, was mir galt, in diesem Blick.

Und als ich näher treten wollte, da fing er an zu sprechen. Soll ich sagen, was er sprach? – Ich darf es nicht, ich kann es nicht. Es wäre wie 138 ein Verrat. Nein, es wäre wie eine Unkeuschheit. Ich meine, ich habe da eine splitternackte Seele gesehen. Ich sah sie stehen in starrer Fechterstellung. Und dann sah ich sie auslegen und anspringen. Ich sah ein Ringen, das mir den Atem benahm, ein Ringen, bei dem es war, als ob Blut aus heißen, schweren, tiefen Wunden fließe.

Da riß meine eigne Seele ihre schläfrigen Augen auf und suchte, wo denn der Gegner stünde. Und sie fand ihn nicht, sie sah ihn nicht. Eine große, qualvolle Unruhe kam über mich. Es war mir, als müßte ich an einer Binde zerren, die über meinen Augen liege und die ich nicht wegbrächte.

Jetzt noch, wenn ich mir am klaren, nüchternen Tag vorreden will, des alten Bauern Beten sei ein Beten gewesen wie ein andres Beten auch, dann klingt es aus irgend einer Tiefe mir entgegen: »Du belügst dich ja, es war ja etwas ganz andres.«

Dann denke ich möglichst rasch und möglichst leicht über jenes Mondscheinbeten hinweg und helfe mir dergestalt, wie so viele tun, durch mutige Flucht über das Dilemma hinüber.

Kein Laut klang zwischen die Worte des Mannes hinein. Totenstille herrschte auf dem Gehöft; auch die zwei vor der Tür schienen sich nicht von der Stelle zu rühren.

Dann kam das Amen.

Und mit dem Amen klang ein krachender Schlag 139 durchs Haus, so daß ich deutlich das Gebälk unter meinen Füßen erzittern spürte.

Der Spitzerhund, der uns so stumm umschlichen hatte, heulte im Hof laut und kläglich auf, und im Stall, der unter der Stube zu liegen schien, brüllten die Rinder kurz und jammervoll.

Ich fühlte, wie mir das Unbehagen kalt über den Rücken ging. Es war ein Gefühl, wie man es wohl im Traume hat, wenn man große dunkle Wasserfluten oder einen heulenden Wirbelsturm auf sich zukommen sieht. Es ist nicht einfache, feige Angst, was man da empfindet, es ist ein jähes Sich-seiner-Ohnmacht-bewußt-werden, ein dumpfes Warten auf Unabwendbares. Aber rascher, als ich dies alles erzählen kann, war der jähe Lärm und mein Unbehagen vorüber.

Knecht und Magd stürzten zur Türe herein, letztere hielt die Laterne hoch, als müsse sie dem unbekannten Feind ins Gesicht leuchten.

»O daß Gott!« schrie sie und taumelte vor bis an das Bett.

Ich wollte etwas sagen, etwas von einem plötzlichen Windstoß, der irgend eine schwere Türe zugeschlagen habe. Eine sonderbare Nüchternheit war über mich gekommen, eine Art Reaktion auf das rätselhafte Gefühl von kurz zuvor.

Aber als ich eben den Mund auftun wollte, sah ich den Alten am Bette an und verstummte. 140

Der Mann sah weiß aus wie ein Tuch. Seine immer noch gefalteten Hände zitterten, daß es von weitem zu sehen war. Über die breite Stirne und an der starken Nase entlang lief der Schweiß in hellen Tropfen. Der Mund war so fest zusammengepreßt, daß die Lippen nicht mehr zu sehen waren.

Sekundenlang verharrte er so, dann war es, als ob ein Krampf sich löse. Er ließ die Hände sinken und sah um sich. Ruhig, als sei nichts gewesen, nahm er dann ein großes buntes Tuch aus der Tasche und wischte sich umständlich das Gesicht ab.

»Jesses,« stöhnte die Magd auf, »Jesses, Fritz, was ischt denn des gwe?«

Der Mann hörte auf zu wischen und steckte sein Tuch ein.

»Diesmol ischt's herb hergange,« sagte er halblaut, mehr zu sich selbst, als zu der Magd, dann neigte er sich tief über die bunten Kissen, in denen ich von meinem Platz aus nichts erkennen konnte und von woher noch kein Laut gekommen war.

»Nane,« hörte ich ihn jetzt sagen, »Nane, jetzt hoscht dei Ruh.« Dann richtete er sich auf, legte die Hände wieder ineinander und sagte voll tiefen Ernstes: »Gott sei Lob und Dank, jetzt ischt doch endlich des Weib erlöst.« 141

»Waas?« schrien Knecht und Magd auf, und auch ich trat unwillkürlich einen Schritt vor.

Da schob der Alte den geblümten Vorhang weit zurück. Von einem verirrten Mondstrahl getroffen lag da ein wachsbleiches, tiefvergrämtes, abgezehrtes Gesicht mit geschlossenen Augen. Eine weiße Haube hielt die spärlichen Haare zurück, die spitzgewordene schmale Nase warf einen Schattenstreifen über die eingesunkene rechte Wange, die dürren Hände waren fest gefaltet.

Es war eine Tote, die dalag, und sie sah aus wie eine Totgemarterte.

»Jetzt hot se Ruh!« wiederholte zufrieden mein Begleiter.

Das Mädchen stellte jetzt endlich seine Laterne weg, mitten unter die Bibeln und Predigtbücher. »Aber geltet, Fritz,« bat sie kläglich, »Ihr ganget doch heut nacht nemme heim!«

»Nei, Fritz, sell dürfet Ihr net,« fiel noch kläglicher der Knecht ein.

»Send zfriede, jetzt ischt für e Weile Ruh!« sagte beschwichtigend der Mann, »aber i bleib do, i be au müd. Bäbele, jetzt richtest d' Kammer na, no bleib i und der Herr en d'r Kammer, und e Schlückle ebbes Guets bringst mer au, i ka's brauche.«

Ganz trocken und unbewegt sprach der Mann, nicht als sei eben der Tod und was weiß ich was 142 sonst noch durchs Haus gegangen. Aber es lag keine Spur von Roheit in der Rede. So spricht einer, der stark und reif genug ist, die Dinge zu nehmen, wie sie sind.

Eine Ruhe, die wohltat bis ins Innerste, ging von diesem derbknochigen gehaltenen Menschen aus; kein Wunder, daß der Knecht mit seinem niederrassigen, fast blöden Gesicht sich an ihn heranmachte, etwa wie ein Hund, der vor einer unbekannten, gewitterten Gefahr instinktmäßig bei seinem Herrn Hilfe sucht.

»Fritz,« sagte der Jakob, »o Fritz, bleibet doch uf, lieget doch net na! Wenn Ihr en d' Kammer neiganget, no gang i au mit. Schlofe ka i net, um kei Welt. Älleweil fährt mir's kalt übers Gsicht, wenn i em Bett lieg. Und die ganz Nacht gibt 's Vieh kei Fried!«

Der also Angeflehte zog sich den Lehnstuhl an den Tisch und setzte sich schwerfällig nieder. »Wirscht d' Stalltür net recht zugmacht han,« sagte er kurz.

Da verschwor sich der Knecht, wie er mit Kette und Pflock verriegelt habe, und wie doch keine Ruhe gewesen sei im Stall.

Mein Begleiter wehrte mit beiden Händen ungeduldig ab: »Still jetzt, still – wenn's emol vorbei ist, no schwätzt mer von so Sache nemme! I weiß gwiß, daß 's jetzt uf em kalte Hof für e Weile Ruh hot. Morge früh fahrscht zum Dokter 143 uf Freudeberg und sächscht ihm, daß d' Nane gstorbe sei, und d'r Fritz sei dabei gwe. Wenn er no no ebbes Weiters wisse will, no soll er zu mir komme. Mit 'm Pfarrer schwätz i morge selber und au 's ander will i bsorge.«

Das Mädchen brachte jetzt eine Flasche und zwei kleine Kelchgläser. Ich sah, wie sie einen scheuen Blick zu ihrer toten Herrin hinüberwarf. Da trat ich an das stille Lager und zog die Vorhänge zu.

»So,« sagte der Fritz, »so ischt's recht, 's tut net gut, wenn d'r Mo de Tote ins Gsicht scheint.«

Dann entkorkte er die Flasche und goß die Gläser voll. Der durchdringende Geruch eines Schnapses, den sie dort oben aus der kleinen süßen schwarzen Waldkirsche brennen, füllte merkwürdig belebend die niedere Stube.

»Trinket Se,« sagte der Große, indem er mir ein Glas zuschob, »e Kelch voll ist e Sege und e Flasch voll ist e Sünd.« Er führte langsam, fast feierlich sein Glas an die Lippen und nippte. »Wenn der,« fuhr er dann gedankenvoll fort, »wenn der, wo i vorich nausbetet han, net hinter de Schnaps komme wär bei seine Lebzeite, no wär älles des Dengs net, no wär er net so weit komme.«

»Ischt's d'r lang Christoph gwe?« fragte scheu und rasch der Knecht und riß die Augen angstvoll auf. 144

Der Gefragte schaute unwillig auf und gab keine Antwort.

Das Bäbele versetzte dem Jakob einen Stoß und murmelte unwirsch: »Halt doch du dei Maul und bschrei net immer älles.«

»Jo,« ergänzte der Fritz, »und du, Bäbele, machst für den Herre e Bett zrecht.«

Die aufrüttelnde, belebende Kraft, die in dem scharfen Gebräu steckte, hatte meine Müdigkeit verscheucht. Von Schlaf war ohnedies keine Spur vorhanden.

»Laß nur, Bäbele,« sagte ich und sah nach der Uhr, »es ist gleich Mitternacht, um halb vier ist's hell genug zum Wandern, und so lange leiste ich dem Fritz Gesellschaft.«

Mein Begleiter sah mich an und meinte: »Wenn's wege sellem ischt, daß Sie Angst hänt, Herr – heut nacht kommt nix meh vor.«

Es lag nichts Beleidigendes in der Art, wie der Mann dies sagte. Es schien diesem großen, kraftvollen Alten selbstverständlich zu sein, daß man unter gewissen Umständen Angst habe.

Ich zog mir einen Stuhl an eines der kleinen vielgeteilten Fenster, von denen aus man den Hof sah und die Fichtenhecke und den langsam ansteigenden öden Hang, der zur Höhe hinaufführte.

Verträumt und versunken saß ich da und schaute hinaus in die wunderbare Stille, die so tief war, 145 daß man meinte, den unmeßbaren, unfaßbaren Strom der eilenden Zeit dahinrauschen zu hören durch die Mondnacht.

Die drei andern saßen am Tisch. Das Bäbele hatte die Lampe vom Schränkchen herübergeholt und zwischen die Bücher gestellt. Mit aufgestützten Köpfen starrten die zwei Jungen in ein großes Predigtbuch, das sie zwischen sich liegen hatten. Die gefalteten Hände des Geisterbeschwörers aber lagen auf einer zugeschlagenen Bibel. So saßen wir stumm und hielten der, die hinter dem buntgeblümten Vorhang lag, vierfache Totenwacht.

Der Mond ging seinen Weg. Er stand jetzt hinter dem Haus. Das Giebeldach warf einen spitzen Schatten, der den seltsamen Schatten des Brunnens im Hof langsam auffraß.

Das war alles so wunderbar lautlos, so losgelöst vom schweren Alltag, daß es mir ward, als stünde ich jetzt weit abseits vom müde machenden, ewig hetzenden Leben.

»'s ischt mir eins,« sagte da aus der großen heiligen Stille heraus der alte Mann am Tisch, »'s ischt mir eins, d'r Tod ischt ebbes Schös.«

Das klang wie ein Amen auf das, was ich eben gedacht hatte.

Der Jakob aber zog seine nur fingerbreite Stirn in Falten und sagte: »Schwätzet net raus, Fritz!« 146

Dann ward's wieder still in der Stube und die Nacht schritt weiter.

Zuletzt schlief ich ein und wanderte wieder im Sonnenschein über Höhen und Täler.

Am Herrgottsbühl stand ein Weib, den Beerenkorb am Arm, die trug die eingefallenen, vergrämten Züge der toten Nane. Und sie nahm mich, trotz meines Widerstrebens, an der Hand und führte mich vom Weg ab. Ich wollte ihr meine Karte zeigen, da schüttelte sie den Kopf. Ich wollte ein Vaterunser beten, da hatte ich die alten Worte vergessen. Eine quälende Angst schnürte mir die Brust zusammen, da hörte ich wie aus weiter Ferne, aber doch laut und kraftvoll die Stimme meines nächtlichen Begleiters: »Unser Vater in dem Himmel.«

Mit einem Seufzer der Erleichterung wachte ich auf. Die Lampe auf dem Tisch war ausgelöscht, der grauende Tag füllte die Stube.

Die drei standen am Tisch und hatten die Hände gefaltet. Der Fritz sprach laut das Vaterunser.

Danach verließen Knecht und Magd die Stube. Ich hörte ein Pferd aus dem Stall führen und den Spitzer kläffen.

All das Wundersame der Nacht war wie weggewischt. Nur der Mann mit den langen Haaren, der jetzt, ohne zu mir herzublicken, an der Nane letztes Lager trat, war wie ein Überrest dieses 147 Wundersamen. Ich sah, wie er dem Weib wortlos und väterlich über die gefalteten Hände strich und dabei dreinschaute wie ein zufriedener Mann, wie einer, der zu der großen, wunderlichen Weisheit durchgedrungen ist: D'r Tod ischt ebbes Schös.«

Ich stand auf und streckte dem Mann beide Hände hin. Gegen weise Menschen muß man dankbar sein, denn sie sind's, welche die Quellen am Weg, aus denen jeder gedankenlos trinkt, mit blutenden Händen aus der Tiefe gruben.

* * *

Auf weiten, aber diesmal gewollten Unwegen bin ich danach nach Freudenberg gewandert in der stillen, grauen Kühle des frühen Morgens.

Der Knecht, der zum »Doktor« fuhr, wollte mich mitnehmen; aber ich lehnte ab. Ich hatte eine Scheu, mit diesem Jakob stundenlang im Tete-a-tete zu sein. Mir war, als würde er das, was im stillen blassen Mondlicht bodenständig und heimatberechtigt war, plump herauszerren an Lärm und Licht des grellen Tages, wo es häßlich entarten, häßlich in geile Triebe schießen müßte.

In einem Dörflein auf meinem Wege erfuhr ich im Gespräch vom Ochsenwirt, daß der Fritz ein Halbnarr sei. Ein Steinklopfer, der am Wege saß, und der über seine Drahtbrille hinweg ernst prüfend den Frager musterte, ehe er Antwort gab, vertraute 148 mir dagegen, daß der Fritz einer sei, »wie's no meh gebe sot, no wär d' Welt net so liederlich«.

Und der Pfarrer von Freudenberg, den ich andern Tags traf, der sagte mir auf meine Frage. »Der Fritz ist ein Außenseiter, jawohl; aber Respekt vor ihm, dreimal Respekt!«

Und dabei sah der geistliche Herr gerade aus wie einer, der mit einer Sache noch nicht ganz fertig geworden ist. 149



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