Auguste Suppper
Leut'
Auguste Suppper

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Die Wenn und die Aber.

Das war an einem Samstag abend, als es hieß, die Anna sei ins Wasser.

Woher kam denn die Kunde? Wer hatte das Schreckliche zuerst gesagt? Wer wußte Näheres?

Näheres wußte niemand. Und zuerst gesagt hatte auch niemand das von der Anna. Aber es war da, das Ungeheuerliche. Es war da, und alle wußten es, alle glaubten es, alle hatten so etwas geahnt.

Es blieb ihr ja auch gar keine Wahl, der Anna! Wohin sollte sie denn? Die Ärmste war ja verlassen von Gott und der Welt! Ihre eigene Mutter, das hartherzige, bösartige Weib, hatte ihr die Türe gewiesen, als sie »so« kam.

Der Bauer, der an allem schuld war, leugnete und schwur Stein und Bein, daß ihn die Geschichte nichts angehe. Und er jagte das Mädchen 34 fort, als es so weit war, daß sie nicht mehr arbeiten konnte. Da trägt sie nun ihr Elend hin und ersäuft's im Bach.

Der Herbsttag war so schön heut, und der Abend wäre auch so schön, so warm und so lind und so friedvoll, wenn dieses Dunkle nicht da wäre, die Geschichte mit der Anna.

In Gruppen stehen die Weiber beisammen. Jede hätte doch gern ein Stückchen Kindszeug gegeben! Eine alte Windel, ein Kittelchen, ein Kissen! Und einen Schluck Milch für das Kindlein, eine Suppe für die Mutter hätte man doch in Beidingen auftreiben können für so eine! Wenn man nur gewußt hätte! Freilich, – wissen hätte man's eigentlich können. Aber man denkt doch nicht gleich –!

Schad' um die Anna! Sie war gar nicht so! Achtzehn Jahre, daß Gott erbarm! Und von Kind auf unter fremden Leuten. Der Vater tot, die Mutter bitter arm!

Und jetzt liegt sie im Bach unter den Weiden, wo die Ratten nisten.

Die Weiber fahren sich über die Augen. Buben und Mädchen stehen im Kreis, halten der Mütter Schürzen fest, schauen verwundert an den Alten empor und fürchten sich. Ja, sie fürchten sich, und doch freuen sie sich auch, daß etwas los ist in Beidingen. Etwas Gruseliges, von dem man erzählen kann. 35

Und auf einmal gehen Männer mit Stangen vorüber. Der Schultheiß ist darunter und der Polizeidiener.

Schweigend, mit starren Gesichtern stehen die Weiber. Die kleinen Mädchen stecken den Finger in den Mund, die Buben die Hände in die Hosentaschen.

Also jetzt ist's wirklich und wahrhaftig wahr! Bisher war noch eine kleine Möglichkeit da, daß alles nur ein Gerücht sei. Aber der Schultheiß und der Polizeidiener und die Männer mit den Stangen, die drücken das amtliche Siegel auf das Schreckliche.

Langsam gehen die Weiber und die Kinder hinter den Stangenmännern her.

Zuerst wird nicht viel geredet und fast feierlich ausgeschritten. Dann aber, bei beschleunigtem Marschtempo lösen sich die Zungen aufs neue.

Ob ein Mensch die Mutter der Anna begreifen kann?

Wenn das Mädchen ja noch so lüderlich war – es blieb ja doch der Alten ihr Kind! Ein Kind darf man nicht hinausstoßen, nicht von sich tun, und wenn es zehnmal gefallen ist. Nein, nein – da gibt's nichts! Die Moserin ist reinweg die Mörderin ihrer Tochter!

Vom Breitbauern ist's ja auch nicht schön, daß er's der Anna so gemacht hat; aber schließlich – so sind die Mannsleute! Heiraten – ja heiraten 36 hätte er die Anna doch seiner Lebtag nicht können. Er ist der älteste. Der Hof gehört einmal ihm. Und er muß drei Schwestern und zwei Brüder auszahlen. Da gehört Geld her! Geld aber hatte die Anna keines. Hahaha! Kaum den Rock auf dem Leib. Er hätte sollen gescheiter sein, der Bauer; die Anna hätte sollen auch gescheiter sein, aber die war halt jung! Wie ist man, wenn man jung ist! Aber die Mutter, ja die Mutter, die hat all dies auf dem Gewissen: den Sprung zu den Weiden hinab, wo die Ratten nisten, die Stangenmänner da vorne, den düsteren Schatten, der das ganze Dorf füllt und die Behaglichkeit und die Feierabendstimmung scheucht. Ein hartes Weib, die Moserin!

Weit hinab, so weit man nur sehen kann, dehnen sich die Wiesen am Bach entlang.

Ein klares Rot steht am Himmel. Grelle, harte Farbentöne liegen über dem Tal. Wo der tiefe Bach schneller vorwärts eilt, da spiegeln seine Wasser blutig auf. Ruhig, wie reglose Wächter stehen die Weidenstrunke am Ufer. Einige schlechtbelaubte Ruten recken sich wie starre Spieße in den überlohten Himmel. Es sieht so drohend aus, das schweigende Tal, und das Blutrot hoch oben, drohend und anklagend und unheilschwer.

Die Kinder schauen sich mit großen Augen um. Sonst war der Bach und das Tal anders! 37

Die Weiber verstummen. Der Schultheiß sagt etwas. Die Stangenmänner treten ans Ufer und fangen mit ihrer Arbeit an.

Drei, vier, fünf tiefe Tümpel suchen sie ab. Man kennt ja die Stellen, wo auch über das höchste Leid das Wasser noch hoch geht.

Algengewirr, grünes, nasses Schlingwerk kommt zutage. Die Kinder drängen nahe ans Ufer her. Ein kleines Mädchen gleitet aus auf den schlüpfrigen Steinen. Fast wäre es in den Bach gestürzt.

Mit lautem Aufschrei reißt eines der Weiber das Kind zurück.

»Da, da, da,« schreien die Buben, und sie deuten mit weit aufgerissenen Augen auf ein dunkles Etwas, das zu Tal schwimmt. Die Stangenmänner fahren darauf los. Es ist ein alter, zerfetzter Kittel, der, durch das Wühlen im Bachesbett losgekommen, davon will.

Der Polizeidiener scheucht jetzt die Buben zurück. Ruhe muß sein bei so etwas.

Langsam verlöscht die Glut hoch über dem Tal. Der Bach leuchtet und glitzert nicht mehr. Dunkel und trüb, vom Schmutz und Geröll durchsetzt, wandern die Wasser dahin. Wer weiß, was sie bergen, wer weiß, was sie davontragen. Die Stangenmänner schwitzen. Einer nach dem anderen trocknet die Stirne mit dem Ärmel.

Und dann sagt der Schultheiß, es werde zu 38 dunkel. Man müsse warten, bis der Mond hochkomme. Oder auch bis morgen.

Tot ist die Anna schon längst.

Gleich nach Mittag muß sie hineingesprungen sein. Dicht zusammengedrängt gehen die Dorfgenossen heim. Der Schultheiß in der Mitte.

Er schüttelt den Kopf. »Ei daß! ei daß! Warum aber au' glei' ins Wasser! D' G'meinde ist doch au' no' do. Bei uns ist doch no' kei ledigs Kindle verhungert.«

»Jo,« schluchzen die Weiber auf, »'s goht doch christlich zu bei uns! Mir send doch keine Heide!«

Der alten Moserin, der Mutter der Anna, muß der Polizeidiener den Mißerfolg vermelden.

Die Weiber bleiben beisammen, bis er zurückkommt. Auf der Rathausstaffel sitzen sie, ihre kleinen schläfrigen Kinder im Schoß. Die größeren spielen am Brunnentrog. Mit langen Gerten wühlen sie das Wasser auf und schreien: »Da, da, da.« Und dann lachen sie laut, wenn ein Blatt vom Lindenbaum oder ein Flöckchen grünen Schlammes emporkommt.

Der Polizeidiener hat die Alte nicht daheim gefunden. Die plagt jetzt ihr Gewissen, die hält's nicht aus in ihrer Stube. Freilich, – wenn man sein eigen Fleisch und Blut ins Wasser getrieben hat. 39

Die Betglocke fängt an zu läuten. Es ist Zeit, daß man heimgeht. Betet Kinder, betet!

Sie werfen die Gerten weg und beten ihr Verslein. Und dann schließen sich mit harten Schlägen die hölzernen Fensterläden. Die Riegel an den Türen knirschen, die Torflügel der Scheunen knarren. Jeder zu Beidingen hat sein warmes Bett, nur die Anna, die hat ein kaltes.

* * *

Habt Ihr's schon gesehen, der Anna ihr Kind? Heut hat's die Moserin auf der Gasse gehabt.

In einer weißen Windel und einem blauen Teppichlein hat sie's herumgetragen. Man könnte, weiß Gott, meinen, es sei ein Prinz. Aber so haben's die Bettelleute! Da ist kein Sparen, und da ist auch keine Scham! O Gott bewahre! Unsereins würde doch so ein Kind in rote Windeln wickeln! So viel wird der Breitbauer nicht bezahlt haben, daß es den ganzen Staat austrägt. Eigentlich hätte er ja auch gar nichts zu zahlen brauchen. Die Anna kennt man ja!

Geht die her und reist in die Stadt und wartet dort ihre Zeit ab! Und die Mutter muß auch noch dabei sein! Weil das alles kein Geld kostet! Und weil die Moserin und ihre Tochter so viel übriges Geld haben! Hahaha! Was nicht langt, das legt die Gemeinde drauf! 40

Aber die Alte ist selber nichts! Die hat in der Tochter den Leichtsinn großgezogen. Immer hat sie sie unter fremden Leuten herumvagieren lassen, und wie's dann soweit war, da hat sie wohl ein Lamento angefangen; aber den rechten Ernst hat sie der Anna nicht gezeigt. Und den Buben, den frißt sie jetzt fast! Man wird ja sehen! Die Alte und die Junge, die denken einfach: »In Beidinge' ist no kei' Kindle verhungert, wenn's au' kein Vater hot!« Daß man auf Zucht und Ordnung hält, wie andere Christenleute, das denken die Zwei nicht. Aber gar nichts wollte man sagen, gar nichts, – wenn die Moserin die weißen Windeln und das blaue Teppichlein wegtäte.

Über das Dorf geht der Klang der Abendglocken. Es könnte so friedvoll sein, so feierabendlich. Aber da sind die weißen Windeln und das blaue Teppichlein. 41



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