Auguste Suppper
Leut'
Auguste Suppper

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Vater und Sohn

Jedes Kind hat sie gekannt, die zwei. Der eine war »'s Frieders Michel«, der andere »'s Frieders Michels Bue«.

Wenn man sie ausschreiten sah, die holperigen Wege zwischen den steinigen Äckern dahin, dann wußte man von weitem nie, welches der Frieders Michel und welcher des Frieders Michels Bue war. So sehr ähnelten sie einander, die zwei, an Gestalt, Haltung und Gang.

Auch die Gesichter waren fast gleich. Zwei tiefbraune, eckige Gesichter mit Nasen wie aus hartem Holz geschnitzt, von spärlichen Haaren umstanden. Die Haare waren bei Michels Frieder schneeweiß, beim Bue erst graumeliert, das war der Unterschied.

Dem Vater wie dem Sohne war das Weib im ersten Wochenbett gestorben. Der Alte hatte dazumal den neugeborenen Buben behalten dürfen, 105 beim Jungen hatte man das Kind mit der Mutter fortgetragen. Das war der zweite Unterschied.

Über das alles war schon seit langen Zeiten das Gras gewachsen. Kein Mensch im Dorf dachte mehr daran oder wußte überhaupt davon, daß die zwei auch einmal Weiber gehabt hatten, daß sie nicht immer so einschichtig und für sich allein ihren Weg gegangen waren von einen Taglohn in den andern.

Ob man sie gern hatte im Dorf? Wer will das sagen! Wenn die Arbeit drängte und jede Hand, die ordentlich zulangen konnte, begehrt war, dann standen 's Michels Frieder und 's Michels Frieders Bue in Gunst und Ehren.

Man lief dann den zweien das Haus schier weg.

Dieses kleine, armselige Haus, das hinter dem Gemeindebackhaus stand, winzige, altersgrüne Fensterscheiben und ein Schindeldach hatte, und in das in ruhigen Zeiten selten ein Fuß trat, wenn's nicht der Fuß des Pfarrers war, der von Zeit zu Zeit in jedem Dorfhaus eintrat.

Sonst spielten Vater und Sohn weiter keine Rolle. Man sah keinen von den beiden je im Lamm, dem stattlichen Wirtshaus. Wie konnten sie also eine Rolle spielen? Und in der Kirche übersah man sie, wo doch alle, die irgendwie im Dorfe vorne dran waren, gesehen sein wollten. Nur bei der harten Arbeit auf anderer Leute Feldern 106 gewahrte man stets die zwei aufrechten, dürren, harten Gestalten, die aussahen, als seien ihnen alle lebendigen Säfte eingetrocknet, die aber trotzdem zugriffen, daß es eine Freude war.

Und dann hieß es auf einmal mitten in der drängenden Ernte: 's Frieders Michel will sterbe!

»Au' voll!« schrie erbost der reiche Johannes Pfrommer, »i han 'n doch scho' auf nächste Woch' zum Gersteschneide b'stellt.«

»Domms G'schwätz!« rief ein anderer, »d'r Alt' hot doch gestert no' bei mir Garbe g'lade.«

»Und mir will 'r helfe mei' Kraut hacke.«

»Und mir meine späte Grumbire (Kartoffeln) häufle.«

»Und mir Gülle 'nausführe.«

So klang es durcheinander, und in jeder Stimme lag ernste Mißbilligung, in jedem Wort ein unmutiger Vorwurf für den Mann, der es wagte, jetzt, wo man alle Hände voll zu tun hatte, ans Sterben zu denken.

Es war schon Abend, als die mißliebige Kunde auskam, später, dunkelnder Abend nach einem langen arbeitsreichen Tag. Jedermann war rechtschaffen müd und drängte heimwärts, sonst hätte wohl der eine oder der andere den kleinen Umweg an des Frieders Michels Haus vorbei gemacht und hätte nachgesehen, was an der Geschichte Wahres wäre. So aber verschob man's auf morgen. 107

Über dem kleinen Häuslein von Vater und Sohn lag die schwüle Sommernacht. Die Fenster gegen das Gemeindebackhaus hin standen offen. Und wer darunter vorbeigegangen wäre, der hätte von Zeit zu Zeit ein schweres, stöhnendes Atmen hören können.

Aber es ging keiner vorbei, außer des Schulzen schwarzem Kater, der die alleinige Befugnis hatte, im Backhaus den Gemeindemäusen aufzulauern. Unhörbar schlich er vorüber, der Schwarze, und 's Frieders Michels Bue, der eben ans Fenster trat, sah die Katzenaugen wie Phosphor durchs Dunkel leuchten.

Der hagere Mann zog den Kopf zurück. Ein jäher Schrecken durchzuckte ihn.

Jetzt glaubte er das, was er bis zu dieser Minute nicht hatte glauben wollen und können: daß es mit dem Alten zu Ende gehe. Er konnte sich nicht klar machen, in welchem Zusammenhang die Feueraugen in der schwarzen Nacht da draußen mit seines Vaters Tod stehen sollten; aber nichtsdestoweniger war ihm soeben die Gewißheit aufgegangen, daß diese Nacht etwas Schlimmes bringen müsse.

Er setzte sich an den Tisch, wo eine Ölampel brannte, ein uraltes qualmendes Ding, das die Luft der niederen Stube dick und übelriechend machte, den offenen Fenstern zum Trotz. 108 Schweigend, die braunen, knochigen Hände auf dem Tisch gefaltet, schaute er hinüber zu seines Vaters Liegerstatt. Das graumelierte Haar fiel ihm auf die Stirne, der große, bartlose Mund war ein wenig geöffnet, scharf und gespannt blickten die tiefliegenden Augen.

»Michele,« murmelte jetzt der Kranke, »Michele, mach's Fensterle uf!«

»'s ischt offe', Vatter,« antwortete leise der Sohn, der auf den gleichen Wunsch heute abend schon so oft die gleiche Antwort gegeben hatte.

»Michele,« klang's nach einer Weile, »morge mueß 's Jörgles Kraut g'hackt werde.«

»Jo, jo,« brummte der Bue am Tisch, und er ließ kein Auge von dem Alten.

Das Atmen wurde schwerer. Dann und wann klang es wie ein Röcheln, dem dann ein kurzer Husten folgte.

»Michele, e weng Milch wenn de mer gebe tätst!«

Der Sohn stand schwerfällig vom Tisch auf und holte die Milch. Langsam trug er sie daher, langsam und ungeschickt reichte er sie dem Alten, der ein weniges verschüttete.

»Schad' drum!« sagte er mühsam.

Es war, als sinke der Kranke jetzt in Schlaf. Schnarchende, kurze Laute kamen vom Bett herüber. Der Bue saß wieder am Tisch. Den Kopf hatte er jetzt aufgestützt. So starrte er vor sich hin 109 auf die schmierige Tischplatte, auf der halbverbrannte Motten und Mücklein rings um die Ampel lagen.

»'s sell wär', 's sell wär'!« (das wäre), murmelte er ein paarmal vor sich hin, als wundere er sich über etwas ganz Unglaubliches. Da rührte sich der Alte drüben wieder.

»Michele,« sagte er, »'s Pfrommers Hannes wurd schö' schelte', wenn i 'm sei' Gerst' net schneide' hilf.«

»I schneid' se scho', Vatter,« murmelte der Sohn am Tisch.

»Und 'em Semme muß mer Gülle führe.«

»Sell tuet's no',« vertröstet der Bue.

Wieder ward's ganz mäuschenstill in der Stube. Aber draußen in der schwarzen, schwülen Nacht hörte man den Wind aufwachen, der vor einem Wetter hergeht.

Der hagere Mann am Tisch hatte auf einmal eine große Unruhe in sich. Es war heute eine ganz andere Nacht als sonst. Es schien ihm, als müsse er irgend etwas tun, irgendwie in den Lauf der Dinge eingreifen.

»Vatter,« sagte er, »so't denn net d'r Doktor noch Euch gucke?«

Der Alte stützt sich fast rasch in seinen Kissen auf.

»Was schwätzst au',« gab er vorwurfsvoll zurück, »morge ist's doch net Mittwoch.« 110

Der am Tisch senkte den Kopf. Freilich, nur Mittwochs kam ja der Doktor ins abgelegene Dorf. Aber dann fiel ihm doch wieder etwas ein. »Ha weißt d', zu 's Schulze Johannes Weib ist 'r doch au e mol bei d'r Nacht komme.«

Der Alte lachte auf, so gut es ging. »Bin i e Kembettere? ha, ha.« Und dann wurde er ernst, hob die welke, lederartige Hand und murmelte: »Bei mei'm Weib, Michele, und bei dei'm Weib, wer isch denn do 'komme? – Narr, e' Doktor bei d'r Nacht, des 'scht nix für de arme Leut!«

Der Sohn schwieg und starrte vor sich hin. Er mochte einsehen, wie töricht sein Plan gewesen war.

»Vatter,« sagte er dann nach einer langen Zeit, »oder soll i' am End' de Pfarrer hole'?«

Der Alte schien erst nicht zu hören. Schwer atmend lag er da, dann hustete er ein paarmal und murmelte. »Noi weger, Michele! laß 'n schlofe, de Pfarrer, 'r mueß sich au untertags ploge genueg.«

Wieder wurde es still. Der Bue ließ die Hände sinken, als sei er mit allem guten Rat zu Ende, und der Alte schlummerte. Ein ferner Blitz leuchtete auf hinter dem Dach des Backhauses, und die Blätter des nahen Nußbaumes rauschten stärker im anschwellenden Wind. 111

Langsam schritt jetzt der Sohn über den lautknirschenden Stubensand an seines Vaters Bett. Er wußte nicht, was er eigentlich da wollte. Er war's nur so gewöhnt, immer an des Alten Seite zu sein. Tagsüber bei der Arbeit in Feld und Acker, nachts in dem Doppelbett, das jetzt der Vater allein brauchte.

Dröhnend rollte ein ferner, dumpfer Donner durch die Nacht herüber.

»Läßt denn d'r Schultes scho' wieder Holz schlage'?« murmelte aus halber Bewußtlosigkeit heraus der Michels Frieder, den das Geräusch an das dröhnende Stürzen und Rollen gefällter Tannen im winterlichen Wald gemahnen mochte.

»'s ischt e Wetter,« antwortete kurz der Sohn.

Der Alte machte die weißbewimperten Augen weit auf. »'s wurd doch net schloße, – 's ischt no' so viel Frucht drusse, und des schö' Obst – –« stieß er angstvoll hervor.

»Mir hänt 's unser deheim!« sagte der Sohn, und um den großen Mund zuckte der Anfang eines spärlichen Lächelns, das der bitteren Armut galt, der nichts verhagelt werden konnte.

»Schwätzst du au',« entgegnete vorwurfsvoll der Alte und sank zurück, »gang, hol dei' Büechle!«

Aber dem Sohn lag es heute nacht wie Blei in den eckigen Gliedern. Er mochte nicht nach 112 dem alten, zerlesenen Büchlein laufen, in dem die Wettergebete standen.

»'s kommt no' net so glei',« murmelte er, und er wußte selber nicht, meinte er damit das ferne Gewitter oder etwas anderes.

»Vatter,« sagte er auf einmal. und er beugte sich über den Alten hin, »Vatter, mir zwei send emter beienander g'we – – –«

Sonst nichts.

Dem Alten in seinem schweren, heißen Bett trat der Schweiß auf die breite, eckige Stirne. Bis in die schneeweißen Haare hinauf standen klare Tropfen, die ihm keiner abwischte.

Seiner Lebtag hatte sich 's Michels Frieder den Schweiß selbst abgewischt.

»Bue, Bue,« sagte er mühsam, »beim Saie mußt kleinere Schritt mache, und beim Dresche' net so arg obe'runter haue', und ins Pfrommers Hannese' Hopfe'garte' mußt obe' a'fange mit 'm hacke', und auf 's Jörgles Äckerle muß 's nächst' Johr d'r Pferch und – – –«

Ein quälender Husten unterbrach des Alten Rede, so daß er die Verhaltungsmaßregeln für seinen Buben verschlucken und nach Atem ringen mußte.

Hilflos stand der Sohn und sah der schweren 113 Mühsal zu. Zwei-, dreimal zuckten seine braunen Hände, als wollten sie zulangen; aber wo denn? wo? – Gehustet hatte 's Michels Frieder seiner Lebtag auch allein.

Reglos lag nach dem Anfall der Alte in seinen vollen Kissen.

Das Wetter zog jetzt schnell herauf. Ununterbrochen rollten die Donnerschläge, daß die grünen Fensterlein in ihren morschen Rahmen klirrten.

In klatschenden Strömen rauschte der Regen aufs Schindeldach.

Der Alte rührte sich nicht.

Mit müden Schritten holte der Sohn das schmierige Büchlein herbei, in dem die Wettergebete standen. Er blättere lange neben der qualmenden Ampel, und dann fand er doch etwas anderes: »Worte, die man einem Sterbenden zurufen kann,« stand da.

Dem Michels Frieders Buben gab's einen Ruck, langsam weiteten sich seine Augen. Als weiche der dumpfe Druck, der ihn gequält hatte, so war's ihm.

Mit nachzeigendem Finger und leise sich bewegenden Lippen las er. Er wollte die Stelle suchen, die er dem Vater zurufen konnte. Es war ihm wirr im Kopf, wie einem, der ungewohnte, harte Geistesarbeit tut. Wo sollte er anfangen?

Hart und spröd kam's aus seiner trockenen 114 Kehle heraus: »O Gott, ich schäme mich vor dir wegen meines geführten Lebens. Viel Böses habe ich getan, viel Gutes verabsäumt.« – – Er hielt an. Es war ihm, als sei er nicht an der richtigen Stelle. Weiter glitt sein suchender Finger, und jetzt hieß es: »Ach Gott Vater, ich bin ein großer Sünder und habe nicht den Himmel, sondern die Hölle verdient.« –

»Michele,« klang es ganz schwach vom Doppelbett herüber, »wen mei'sch denn? –«

Der Lesende verlor den Faden. Sein tastender Finger glitt vom Buch herab. Ja, wen meinte er denn?

»Do stoht's« – sagte er leise und betroffen.

Der Alte hob den müden Kopf ein wenig.

»Des ischt bloß fürs Wetter,« murmelte er heiser.

»Ja, aber was no?« fragte hilflos der Michele.

Ein letztes flüchtiges Lächeln glitt über das fahle, verfallene Gesicht im Doppelbett. »Nix anders als meiner Mueter ihr Versle: ›Üb' immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab‹ –«

Der Alte sprach nicht fertig. Das Wort war ihm im Mund erstorben. 115

* * *

In aller Gottesfrühe, als man sah, daß der neue Tag ein Tag zu guter Arbeit werden würde, kamen aus drei, vier Bauernhöfen die Boten, die sich den Michels Frieder und 's Michels Frieders Bue für den Taglohn sichern wollten. Aber der Michels Frieder tat nicht mehr mit. Er streikte, der Alte. Lang, steif, eckig lag er im Doppelbett und ließ am hellen Werktag die lederharten Hände feiern. Und auch der Bue konnte heute nicht.

Der mußte auf den Pfarrer warten.

Der Pfarrer sah lange über den Alten hin. Ungewöhnlich lange.

»Wie ist er denn gestorben?« fragte er dann leise.

Der Michele kratzte sich im graumelierten Haar und sagte nichts.

»Ich meine: ist er ruhig gestorben?« drängte der Pfarrer.

»Jo, jo,« murmelte der Michele.

Wieder betrachtete der geistliche Herr den steifen Alten.

»Warum habt Ihr denn mich nicht geholt?« fragte er dann, ohne den Blick von dem starren Gesicht zu wenden.

's Michels Frieders Bue war froh, daß er wenigstens hierauf eine Antwort hatte.

»Er hot's net wölle han. Er hot g'meint, Sie seiet übertags au plogt genueg – mer soll Sie schlofa lasse.« 116

Der Pfarrer strich ganz leise über die lederartigen Hände.

»Hat er noch beten wollen?« fragte er nach langer Zeit und sah immerzu in das Totengesicht.

»Sell grad net,« entgegnete langsam und ungern der Michele, »bloß des Versle hot 'r no' herg'sait vo' sei're Mueter her: ›Üb' immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab‹.«

Der Pfarrer drehte sich zum Michele um; aber sagen tat er nichts.

* * *

Eine große und eine schöne Leiche hatte 's Michels Frieder. Sie fiel auf einen Sonntag.

Sogar der reiche Johannes Pfrommer in Person war dabei, und er sagte, daß man's hören konnte: »Recht wär' mir's gwä', wenn mei' Gerst' no' g'schnitte g'wä wär'; aber d' Leich fallt wenigstens uf 'n Sonntich.«

Der Pfarrer sprach viel und lang, das muß wahr sein; aber eines wunderte den Michele doch: daß er sagte, der Tote sei mit dem schönsten Gebet auf den Lippen zur Ruhe des Volkes Gottes entschlafen.

Und der Michele hatte es dem Pfarrer doch so deutlich erzählt, daß der Vater nur ein altes Verslein hergesagt hatte. 117



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