Auguste Suppper
Leut'
Auguste Suppper

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Wie unsereiner Weihnachten feiert.

Ich will nichts gegen Weihnachten sagen – behüt mich Gott. Weiß ich doch zu genau, daß ich damit jungen und alten, guten und schlechten Christen bös ans Herz greifen würde.

Aber – – ich bin nämlich Junggeselle, und ich rufe sämtliche Junggesellen unseres lieben Vaterlandes auf, mir zu bestätigen, daß für unsereinen neben Weihnachten ein großes, dunkles »Aber« steht. Diesem »Aber«, das mir alljährlich am heiligen Abend und schon die ganze Adventszeit hindurch ungut zu schaffen macht, zu entrinnen, steige ich am 24. Dezember nach dem frühen Bureauschluß in den Zug Nr. X. Y. und fahre bis zur Endstation. Dem Weisen genügt's.

So habe ich's auch das letzte Jahr gemacht. Zwei, drei Stationen weit war der Wagen dritter Klasse, in dem ich saß, dicht besetzt, wie die bekannte Heringstonne. Dann gab es Luft, und 42 schließlich war ich noch mit einer einzigen menschlichen Gestalt im Wagen und bemühte mich, in dem ungewissen Licht herauszubekommen, ob diese Gestalt, von der mich die Länge des Abteils trennte, männlichen oder weiblichen Geschlechts sei. Das plumpe, vermummte, zusammengekauerte Etwas in der Bankecke verharrte reglos, bis der Schaffner kam, die Karten abzunehmen. Jetzt schälte sich ein Kopf und ein Arm aus den Tüchern. Ich sah das welke Gesicht, die magere Hand eines Weibes und wandte mich, da meine Wißbegierde vollauf befriedigt war, wieder meinem Fenster zu, vor dem in seltsamen Gebilden der Rauch der Lokomotive durch die langsam sinkende Nacht sich dahinwälzte.

Was ich dachte – ich weiß es nicht. Ich fühlte nur immer das Aber. Wenn diese eine, besondere Nacht sich senkt, dann sollen Junggesellen, dann sollen einsame Menschen am besten gar nichts denken – gar nichts. Sonst kann es ihnen passieren, daß sie sich vorkommen wie Naturwidrigkeiten, wie Gezeichnete. Der Gedanke macht schwerlich froh. Aber, zum Kuckuck, es ist gar nicht so leicht, nichts zu denken; oder vielmehr mit seinen Gedanken immer um etwas herumzugehen ohne anzustreifen, so ganz scheu und ängstlich wie die Katze um den heißen Brei. Auf einmal war ich denn eben doch mitten drin in all dem, was ich hatte meiden wollen und sollen. 43

Die schneeverhangenen, kümmerlichen Fichten, die ich da draußen unter der Rauchschlange vorübergleiten sah, sie erinnerten mich an andere Fichtenbäumchen, die unter der Mutter Hand ins flimmernde Gewand der Weihnacht schlüpften. Und als es vollends dunkel war da draußen, als die stille Nacht alles einschluckte, sogar die weißliche Rauchschlange, da mußte ich auf das Rattern und Schlagen der eisernen Ungetüme lauschen, und aus dem Lärm der Räder wurden Lieder der Weihnacht, alte, halbverklungene Gesänge, die einen nicht loslassen. Meinen Hund, einen deutschen Hühnerhund echtester Rasse, zog ich am Halsband unter der Bank hervor. Sein triefendes Maul durfte er auf mein Knie legen und das darf er sonst nie, denn ich bin ein reinlicher Mann. Aber heute ist heiliger Abend. Feldmann komm! Sieh mich an, du altes, treues, gutes Vieh! – Ich frage alle Junggesellen im lieben Vaterland, ob ihnen am heiligen Abend ihre Hunde nicht noch lieber sind als sonst!

Das Weib am anderen Wagenende seufzte jetzt so tief, daß selbst ich in meiner Versunkenheit es hörte. Und weil der Mensch seine eigenen inneren Zustände gerne als Maßstab an die inneren Zustände anderer legt, dachte ich: »Die dort hat auch niemand.« Dieser Gedanke brachte mich mit einemmal der Genossin meiner nächtlichen Fahrt um vieles näher. Sie war mir jetzt nicht mehr ein 44 unförmliches, regloses Etwas in einer entfernten Wagenecke, sie war mir eine gleichgestimmte Seele. Und man mag sagen und glauben was man will – gerade wir Junggesellen halten etwas von gleichgestimmten Seelen! Meinen Feldmann am Halsband schlängelte ich mich zu ihr hin, wie man sich eben schlängelt, wenn der Zug Nr. X. Y. durch den langen Tunnel von C. fährt. Dem Weisen genügt's.

Das Weib schaute auf, als ich angeholpert kam. Ihr gelbliches Gesicht sah aus wie der Hunger von Indien. Schön war das nicht; aber was fragt ein Junggeselle nach Weiberschönheit! »Wo fahren Sie hin, Frau?« fragte ich ohne weiteres. Sie nannte die Endstation, nach der auch ich wollte, um dort durch allerlei ländlichen Wintersport über mein Weihnachtsaber wegzukommen. Die leise, heisere Stimme des Weibes brachte mir zum Bewußtsein, daß ihr Weihnachtsaber nicht durch Sport zu übertäuben sei.

»Schöne, schneereiche Weihnacht diesmal,« sagte ich lauernd. Sie schaute an mir vorüber in das flackernde Licht. Schon meinte ich, sie wolle gar keine Antwort geben, da stieß sie hervor: »Hätt' i' 's doch nemme erlebe müsse!« Der schlechtfedernde, alte Wagen, in dem wir fuhren, stieß in diesem Augenblick so, daß ich dem Weibe gegenüber auf die Bank mehr fiel als niedersaß. Ich 45 hätte mich sonst vielleicht nicht niedergesetzt, denn Leute, die sich gleich den Tod wünschen an Weihnachten, gehen selbst nach meinen Begriffen etwas zu weit. »Wie können Sie nur so reden, Frau?« sagte ich deshalb recht verweisend. Ich glaube, kein Ton gelingt uns Menschen besser als der verweisende.

Unter den Tüchern mir gegenüber sah ich zwei dürre Hände hervorkommen und dann noch etwas, etwas ganz Unvermutetes. Ein blonder, verschlafener Kinderkopf tauchte auf, wurde von den zwei dürren Händen anders gebettet und dann wieder mit den Tüchern zugedeckt. Da war mir ganz seltsam. Kinder hatte ich mir immer vorgestellt als die personifizierte Unruhe, als den verkörperten Lärm und Spektakel – und da lag jetzt eines ganz mäuschenstill, daß man nichts hörte und nichts sah. Ich glaube, ich wollte etwas sagen zum Lobe dieses Wunderkindes, da kam mir die Frau mit ihrer heiseren Stimme zuvor. »O, wenn Sie wisse tätet,« sagte sie, »wenn Sie wisse tätet!« Dazu nickte sie mit dem Kopf, daß ihr das Tuch nach rückwärts rutschte und ihr glatter, ganz ergrauter Scheitel zum Vorschein kam.

Mir war gar nicht behaglich. Dieses ›wenn Sie wisse tätet‹ wollte sich da gegen mich herwälzen und ging mich doch eigentlich gar nichts an. Was man nicht weiß, macht einem nicht heiß! 46 »Ja, ja,« sagte ich kopfnickend, »es gibt viel Elend auf der Welt.« Dabei fiel mir mein Weihnachtsaber ein und das schlechte Essen im Lamm und meine verfilzten Wollhemden, von denen das Stück acht Mark gekostet hatte, und vielleicht auch noch ein paar andere Fälle von Menschenleid, wie sie eben unsereinem unter die Hände kommen vor oder nach den Bureaustunden. In das Hungergesicht vor mir kam ein Zucken. An den Augen, die tief in dunklen Höhlen lagen, fing es an und lief herunter bis zu dem schmalen Mund, ja das Kinn zitterte noch, und auf einmal merkte ich, daß das Weib weinte, ohne Schluchzen, ohne Tränen, ohne Taschentuch, ohne Gestöhn weinte! So etwas hätte ich nicht für möglich gehalten. Mir gab es einen Stoß, den der schlechtfedernde Wagen nicht auf dem Gewissen hatte. Hellsehend kam ich mir vor, denn ich wußte plötzlich: Die da weint so, daß man's nicht hören und sehen soll. Sonst weinen Weiber nicht nur trotzdem man es sieht und hört, sondern damit man es sehe und höre. Die da, wenn sie das Kind nicht auf dem Schoß hätte, würde hinter ihren Tüchern verschwinden und kein Mensch könnte nur ahnen, daß sie weint. Das packte mich.

»Frau, kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?« fragte ich geradezu, denn ich wußte nicht, was ich sonst hätte sagen sollen. – »Mir ka kei 47 Mensch helfe,« gab sie ganz leise zurück. Das war mir nun wieder genierlich, denn wenn man irgendwo, ohne sich viel zu inkommodieren, helfen kann, macht man nicht nur den andern, sondern hauptsächlich sich selber das Herz leichter. Und jeder Mensch, nicht nur jeder Junggeselle, möchte doch schließlich ein möglichst leichtes Herz haben. Deshalb kam es mir von dem Weib fast etwas rücksichtslos vor, daß sie den Druck, den sie auf mich gelegt, jetzt so ruhig liegen ließ und mir gar keine Gelegenheit gab, etwas davon wieder abzuladen.

»Ach«, sagte ich, »das meinen Sie vielleicht nur, lassen Sie 'mal hören!« Der Klang der eigenen Stimme tat mir wohl, er hatte so gar nichts Sentimentales. Da ist mein Bureaudiener, der Müller dran schuld. Der hat so eine eigentümliche Gehörsstörung. Wenn man mit dem nicht in einer ganz bestimmten Tonlage und ‑stärke spricht, dann versteht er einen nicht.

Ich weiß nicht, was die Frau von meinem Vorschlag dachte. Ehe sie sich darüber aussprechen konnte, hielt der Zug an der Endstation. Mühselig krabbelte das Weib mit ihrer Last vor mir die Tritte hinunter. Ich eilte zum Gepäckwagen, mir dort meinen erprobten Davoser Sportschlitten auszulösen und dann mit meiner elektrischen Taschenlaterne und Feldmann, dem Getreuen, die Schlucht emporzuklimmen, die den Ort von seiner 48 Bahnstation trennt. Oben auf der überschneiten, windbestrichenen Hochebene, abseits vom kleinen Dorf, würde mich im »Goldenen Ochsen« wie alle Jahre ein warmes Zimmer und ein üppiges Nachtmahl erwarten, und ich würde bei einem steifen Grog mein Weihnachten haben ohne Klimbim, jawohl, ohne Klimbim.

Aus den Fenstern im ersten Stock des Stationsgebäudes fiel Kerzenschimmer. Ich hörte Kinderstimmen singen: Tochter Zion freue dich! Ich ärgerte mich. »Tochter«, dachte ich, »warum denn nicht auch Sohn?« In der gleichen Sekunde wußte ich, daß das ein Unsinn sei, was ich dachte; aber wenn der Mensch das Bedürfnis hat, sich zu ärgern, dann ärgert er sich am leichtesten über etwas recht Unsinniges. Neben mir auf dem einsamen Bahnsteig stand das Weib mit dem Kind. Sie sah gleich mir zu den hellen Fenstern empor; aber in dem Hungergesicht stand nichts von Ärger. Manche Leute haben eben kein Talent dazu.

Das Kind schlief weiter auf der Mutter Arm. Mein Feldmann stieß einen kurzen, heulenden Ton aus. Dem ging das Singen da oben auch auf die Nerven. Meinen Schlitten hinter mir herziehend wandte ich mich dem tiefverschneiten Wald zu, durch den der Weg sich emporzieht. Das Weib mit dem Kinde folgte mir. Ich drückte auf den Knopf meiner Laterne. Ein kleiner, runder 49 Lichtschein wanderte vor uns her zwischen den Tannen empor. Ich hörte die schweren, fast keuchenden Atemzüge des Weibes immer hinter mir. Was so ein Kind wohl wiegen mag? Ich schätzte auf zehn bis zwölf Kilo. Das ist schon etwas, wenn man es einen steilen Berg emporschleppt. »Frau,« sagte ich, »lassen Sie mich das da 'mal tragen.« Ich sagte »das da«, weil ich doch nicht wußte, ob es ein Bub oder ein Mädchen war.

Sie wollte erst nicht; aber dann gab sie den Kerl doch her. Es war nämlich ein Bub, der Schorschle. Sie nahm mir dafür den Schlitten ab und die Laterne. Der Schorschle wog mehr als zehn bis zwölf Kilo. Ich kam mir nachgerade vor wie der heilige Christophorus. Unsereiner ist das nicht gewöhnt und hat den rechten Griff nicht. Das letztere schien auch der Schorschle zu merken, denn alle Augenblicke zuckte und ruckte es auf meinem langsam erstarrenden Arm. Ein paarmal ruckte und zuckte ich dagegen, da wachte der Schorschle auf, hob den Kopf und fing an zu heulen. Das Weib mit der Laterne trat heran und leuchtete dem Buben ins Gesicht, daß er blinzelte.

»Ei, gute Morge,« sagte sie in einer Tonlage und ‑stärke, daß sie mein Müller ganz gewiß nicht verstanden hätte, »ei gute Morge, Schorschle, Büeble, host ausg'schläferlet?« Mich packte mein Ärger wieder. 50 Ich bin sonst auch für Dialekt; aber »ausg'schläferlet« – – und dieser Ton dazu! Ich sah dem Weib ins Gesicht. Ja, war denn das das gleiche Gesicht, das im Eisenbahnwagen ohne Tränen geweint hatte? War diese Frau, die vor einer halben Stunde vom Sterben und von unstillbarem Jammer gesprochen hatte, eine abgefeimte Heuchlerin? Die Augen in den tiefen Höhlen leuchteten, der Mund lächelte den verschlafenen Schorschle an.

»Jetzt darfst schlittefahre, Schorschle; aber no mußst nemme schlofe,« sagte sie und nahm mir den Buben vom Arm mit einer Hand. Ich atmete auf und dehnte die Arme. So etwas von Erleichterung habe ich nicht mehr verspürt, seit ich nach meinem zweiten Examen die zwei B. schwarz auf weiß hatte. Ich half den Schorschle auf meinen Davoser packen. Er saß so stramm und so sattelfest, daß ich unwillkürlich nach seinem Alter fragte. Drei war er. Wir zogen jetzt zu zweit am Strick, der Schorschle schrie hinten »hü«, und der Feldmann bellte vor Wonne. So hatte der seinen Herrn noch nie gesehen.

»Sie send gut, Herr,« sagte ganz unvermittelt das Weib. Das brachte mich in Verlegenheit, denn im gleichen Augenblick hatte ich gedacht, was wohl der Dr. Sauer und der Amtsrichter und der kleine Halder sagen würden, wenn sie mich jetzt sehen könnten. »I sag Ehne vielmol vergelts Gott!« 51 begann das Weib von neuem, »i weiß net, wie i heut heimkomme wär mit meim Schorschle.«

»Wo waren Sie denn mit dem Buben?« fragte ich in Verlegenheit. Das Weib blieb stehen, drehte das Licht der Laterne, die sie immer noch trug, seitwärts und sagte ganz leise, daß ich es kaum verstand: »Bei ehm bin i gwe', bei meim Ma, bei dem Büeble sei'm Vatter.«

»Ja, wo ist denn der?« fragte ich, denn man kann doch so etwas nicht wissen. Das Weib ließ den Strick des Schlittens los und deckte die Hand übers Gesicht. Ich hörte etwas wie ein Schluchzen und dann ein Stammeln. »Eig'sperrt ischt er doch. I be doch 's Postfrieders Weib. Zeh' Monat hot er doch kriegt. Jetzt sitzt er acht.« Mir lief ganz gewiß und wahrhaftig ein Schauder über den Leib. Zehn Monate! O, das hatte ich schon oft selbst für einen beantragt, und mich dabei den Teufel gekümmert, ob so einer ein Weib und einen Schorschle hatte. Das ist ja auch gar nicht unsere Sache. Wenn ein schlechter Kerl nicht selber an sein Weib und an seine Kinder denkt, der Richter und der Staatsanwalt, die haben wahrhaftig keinen Grund, daran zu denken. Der Postfrieder hätte an dieses keuchende Weib, an den blonden Buben denken sollen.

Ich weiß nicht, habe ich das laut gesagt oder nur für mich gedacht. Ich weiß nur, daß die Frau 52 neben dem Schlitten in den Schnee hinkauerte, das Laternchen weglegte und dann plötzlich so maßlos weinte, so über alle Grenze hinaus, wie ich noch nie etwas gehört hatte. Der Bub legte die kleinen Arme über der Mutter Kopf und Rücken und weinte mit in lauten, gellenden Tönen. Der Feldmann stand neben mir, wedelte mit der Rute und hob das triefende Maul, und durch die Nacht über die Tannen her kam das dünne Läuten der Glocken. Ich ließ die Frau knien und weinen, weinen und knien, denn mir schwante so dunkel, daß von meiner Seite in solchem Fall nichts Klügeres zu tun sei.

Das Weinen wurde leiser, und das Glockenläuten dauerte an. Mir war das lieb, denn mir schien, als sagten die Glocken alles das, was ich jetzt von Rechts wegen hätte sagen sollen, und wozu ich doch viel zu unbeholfen war. Das Weib schien die ehernen Stimmen zu verstehen. Langsam stand sie auf, schüttelte sich den Schnee von den Röcken, faßte nach Strick und Laterne und zog wieder an. Ich hätte gerne etwas gesagt; aber ich wußte nicht was. Ich war wie auf den Mund geschlagen. Die Lichter des Dorfes tauchten auf und links drüben das einsame Licht im Goldenen Ochsen an der Landstraße. Über die Höhe her kam der Wind, der herbe, reine Wind, dem man es anfühlte, daß er über den glitzernden Schnee 53 gegangen. Noch ein Stück weit gingen wir auf der Hochebene zusammen, dann schieden wir. Das Weib mit ihrem Schorschle strebte rechts dem Dorf, ich links dem »Goldenen Ochsen« zu.

Freudig, wie jedes Jahr, wurde ich in meinem Weihnachtsstandquartier willkommen geheißen. Mein Zimmer war gut durchwärmt und im »Herrestüble« neben der großen, sauberen Wirtsstube war für mich allein der Tisch gedeckt, oben vor dem Sofaplatz, wie ich es liebte. Ich rieb mir die Hände, knöpfte die Joppe auf und war überzeugt, daß ich jetzt sehr vergnügt und zufrieden sei. Sie trugen mir die heiße, vorzügliche Suppe herzu, zu der mir die Frau Ochsenwirtin schon wiederholt das Rezept gegeben hatte, damit ich es der Frau Lammwirtin, bei der ich in der Stadt speiste, übermitteln sollte.

Das Rezept habe ich übermittelt; aber das Lamm verstand den Ochsen nicht – die Suppe gedieh nur hier oben. Ich ließ mir's schmecken und war wiederum überzeugt. daß ich jetzt sehr vergnügt und zufrieden sei.

Aber dem Postfrieder seinem Weib und dem Schorschle würde ein Teller voll von dieser Suppe auch gut tun. Mit strahlendem, lobheischendem Gesicht tischte die Frau Ochsenwirtin dann ein gebratenes Federvieh auf. Ich weiß nicht, war es ein Huhn oder ein Hahn. Ich kenne mich da nie 54 aus. Aber das weiß ich, daß es groß war und zart, und daß es auch noch für des Postfrieders Weib und den Schorschle gereicht hätte, wenn die Zwei dagewesen wären. Ich aß darauf los; aber dann ging es auf einmal nicht mehr. Ich weiß nicht, wie das kam. Sonst, im Lamm, bei den dürren Vögeln, die es da gibt, trage ich immer peinliche Sorge, daß gewiß mir ein verhältnismäßig nettes Bruststück zukomme. Natürlich – man wird doch nicht dem gefräßigen Amtsrichter oder dem faden Dr. Sauer oder dem kleinen Halder mit seinem Leckermaul alles Gute überlassen! Aber da, bei dem schönen Braten der Ochsenwirtin, schämte ich mich wahrhaftig, alle die saftigen Teile für mich herauszuschneiden. Wenn man so denkt, daß des Postfrieders Weib und der Schorschle – – – Zum Donnerwetter, jetzt wird mir das aber zu dumm. Ich will die Wirtsleute rufen, will fragen, was denn eigentlich los ist mit dem Postfrieder usw. In der Wirtsstube draußen geht jetzt die Türe. »'n Obed, Michel,« höre ich die Ochsenwirtin sagen.

»'n Obed, Ochsewirte,« gibt eine mir bekannte Stimme zurück. Der Angekommene ist der Brunnenmichel, ein Brunnenmacher von 82 Jahren, der Anno 70 seinen Sohn verloren hat, Anno 80 sein Weib, Anno 90 seine ledige Tochter und Anno 1900 seine zweite, verheiratete. Er hat mir das 55 alles so oft erzählt. Viel anderes weiß er nicht. Von der Politik, der hohen oder der sozialen z. B., hat er keine Ahnung. Er sagt immer, das gehe ihn nichts an. So sind sie da hinten. Wenn ihnen alles wegstirbt, alles, daß sie ganz allein sind, dann haben sie genug. Die Jahreszahlen, an denen der Tod ins Haus kam, die merken sie sich, die andern alle lassen sie verrauschen im Strom, der fern von ihnen vorübergeht. Der Brunnenmichel raucht wie ein Fabrikschlot. Ei, ei, ei – da fällt mir jetzt ein, daß ich dem Alten diesmal ganz gewiß ein Pfund ›Trompeter von Säkkingen‹ mitbringen wollte! Das ist seine Marke. Schon voriges Jahr wollte ich das, und habe es damals und heute wieder vergessen. Unsereiner hat eben soviel zu denken. Aber nächstes Jahr sicher!

Der Brunnenmichel ist in der äußeren Wirtsstube der einzige Gast, wie ich in der innern. Am heiligen Abend bleiben die rechten Leute zu Haus. Ich schiebe die Speisen weit von mir und stülpe den Kopf in die Hand. Wenn ich erst einmal zweiundachtzig bin! – – Ich muß lächeln, ganz profitlich. – Mir kann nicht alle zehn Jahre eines sterben. Ich habe ja niemand. Mein Feldmann legt sein triefendes Maul auf mein Knie. Das darf er sonst nie, denn ich bin ein reinlicher Mann. Der Feldmann ist auch schon alt, so zehn, zwölf Jahre. Sei es noch um ein paar Jährchen, 56 dann geht er ein. Ich stoße mein Weinglas auf den Tisch, daß es klirrt. Ich weiß nicht, warum ich so wütend bin. Jawohl, wütend! Flasche und Glas nehme ich, pfeife meinem Hund und setze mich zum Brunnenmichel. Der Alte grinst, daß man seinen einzigen, gelben Zahn steht. Ganz wehmütig sieht dieser einzige Zahn aus. Mach deinen Mund zu, Alter! Ich kann einmal heute nichts Einsames sehen!

Eine neue Flasche bestelle ich mir, schiebe des Brunnenmichels halbleeres Bierglas zur Seite und schenke ein. Trinken kann der Brunnenmacher, das liegt im Metier. Aber betrunken ist er nie. Bei Anno 70 fängt er jetzt an. Ich wehre ihm: »Laßt das, Alter! heute ist Weihnacht, da wollen wir von etwas Lustigem reden.« Er sieht mir lange ins Gesicht. Seine alten Augen schwimmen. Er denkt gewiß, es gebe gar nichts Lustiges in der Welt. Aber wenn ich erst erzähle von des Amtsrichters letzter Blamage, damals mit dem – –

Der Brunnenmacher fällt mir ins Wort. »Ei, weil mer jetzt grad vo 'me G'richtsherre schwätzet, hättet jetzt die Herre em Postfrieder net ebbes weniger gä' könne?« Mir bleibt meine Leibgeschichte von des Amtsrichters Blamage im Hals stecken. »Was ist's denn eigentlich mit dem Postfrieder?« frage ich rauh.

Der Alte wirft den Kopf hin und her. »'s 57 ischt ja freilich net recht g'we von ehm«, sagt er, vor sich auf den Tisch blickend, das Weinglas in der blauroten Hand, »recht ischt's net g'we! Aber wer weiß, was unsereiner tät, wenn er acht Kender hätt' und e kränklichs Weib und fufzig Mark em Monat. 's heißt ja wohl en der Bibel: Du sollst nicht stehlen! aber der Herrgott hot gut schwätze, der hot kein Hunger.« Mir gab's wieder einen Stoß wie im Eisenbahnwagen. Ja, ja, das gibt den großen Mißklang in der Welt, wenn der, der Gebote erläßt, satt ist, und der, für den sie erlassen sind, Hunger hat. Bei den zehn Geboten ist das so und bei den andern auch und das Bürgerliche Gesetzbuch und das Strafgesetzbuch – – – mir stieg ein ganz klein wenig des Ochsenwirts Kappelrodecker zu Kopf; aber nur ein ganz klein wenig. »So so,« sagte ich laut, »der Postfrieder hat also gestohlen.«

»Sscht – Herr Doktor!« rief die Ochsenwirtin vom Schank her. »G'stohle hot er net. Amol vierhundert Mark für sich b'halte, wo n'er hätt solle eem Talbaure bringe. Er wird denkt han: Der Talbaur sitzt em Fett und i em Elend. Er hot g'sait, er häbs wölle ganz g'wiß e mol wieder heimzahle. Aber se hent ehm net glaubt vor G'richt oder was weiß i –«

Ich mußte laut lachen. Was man doch nicht alles verlangt von den »Gerichtsherre«. Jetzt sollen 58 die auch noch glauben, daß ein Postbote mit fünfzig Mark Monatsgehalt, acht Kindern und einem kränklichen Weib vierhundert unterschlagene Mark heimzahle. Nein, so naiv ist einer nicht mehr, der seine zehn, zwölf Semester Jus studiert hat. Überhaupt das Studium beider Rechte, das putzt den Kopf aus! Der Kappelrodecker, der tut das konträre Gegenteil. Mir ist's in diesem Augenblick gerade, als gäbe es noch ein drittes Recht. Aber nein, es heißt ausdrücklich: utriusque juris. »Prost, Michel! und was weiter?«

Der Alte hebt sein Glas. »Prost, Herr Doktor! Weiter – ha weiter ischt nix. Se hent ehn halt jetzt zeh' Monat heute nom do, ond 's Weib ond d' Kender hent sechs Fasttäg en der Woch ond am siebete nix z'esse. – – Wisset Se was, Herr Doktor? I, wenn e reicher Ma' wär, i tät der Annemei a Wurscht kaufe, so lang als Essringe ond acht Laib Brot dazu ond en Kübel voll Kaffee! O, beim Blitz, des müßt e Christtag sei – – –! Daß doch die reiche Leut net wisset, was schee ischt!«

Der Brunnenmacher rutschte auf dem Stuhl hin und her, seine wässerigen Äuglein funkelten, sein einziger Zahn grinste, sein Stoppelkinn wackelte. Wahrhaftig, der Alte spürte auch den Kappelrodecker. Mir war, als müsse ich die reichen Leute in Schutz nehmen. Gerade an Weihnachten wenden 59 die ja allen Scharfsinn auf, um alles, was »schee« ist, sich einzuhandeln. Aber ehe ich noch etwas sagen konnte, brachte die Ochsenwirtin einen kleinen Baum im Stockscherben daher. Eine Fichte war's mit Papierrosen und Wachslichtchen. »Scheußlich«, wollte ich schreien, denn die Papierrosen waren blau; aber da kam mir etwas in den Hals. Und wütend war ich auch, denn nun war der Klimbim doch da. – – Ich schluckte und schluckte und hob doch mein Glas nicht. Ich weiß gar nicht, was ich eigentlich schluckte. Ich glaube, es waren die Lieder, die ich als kleiner Bub mit der Mutter sang.

Und mein alter Brunnenmacher saß und ließ das Wasser aus den Augen laufen. Vier Tränen zählte ich, dann sah ich weg. Der Kopf war mir so voll, so wirr; so gar nicht, als hätte auch ihn das Studium beider Rechte einst ausgeputzt. Dann brachte die Ochsenwirtin Grog. Verachtet mich nicht, ihr Mitchristen, daß ich auch diesen Grog noch trank. Ich fordere alle Junggesellen im lieben Vaterlande auf, mir zu bestätigen, daß der Grog schon manchen guten, lichten Gedanken gezeitigt hat. Und er tat auch hier seine Schuldigkeit.

»Frau Ochsenwirtin,« rief ich, »bringen Sie die längste Wurst, die aufzutreiben ist.« Die Wurst war lang, wenn auch nicht ganz so lang als Effringen. – »Und jetzt alles Brot, was im Hause 60 ist.« – Es war viel Brot im Hause. »Und jetzt Kaffee und Zucker und Mehl und Schmalz.« Es gab eine nette Portion zusammen. »Und jetzt einen Sack.«

Auch der Sack ward gefunden und noch ein Fäßchen. Da gingen wir. Der Brunnenmacher war dabei und die Ochsenwirtin und des Ochsenwirts Knecht mit dem Schiebkarren. Und ich trug das Bäumchen mit den blauen Rosen. Aber die Lichter löschte ich vorläufig aus. Weithin durchs Dorf ging's. Kein Mensch begegnete uns. Hinter den Fenstern brannten die Bäume, der herbe Wind kam über den Schnee her und des Schulzen Hund heulte. Dann waren wir da.

Der Schorschle schlief schon wieder; aber den weckte ich. Zu dem hatte ich noch am meisten Zutrauen. Die anderen waren mir noch nicht vorgestellt. Wie der Schorschle schrie, als er die blauen Rosen sah und die Lichtchen, die wieder brannten! Wegen der Wurst schrie er auch; überhaupt, wegen der Wurst schrien sie alle. Die Ochsenwirtin sagte, das machten alle Kinder so. Die Annemei saß auf der Bank am Ofen und weinte. Die Ochsenwirtin sagte, das machten alle Weiber so.

Ich tat auch etwas; aber ich weiß nicht was. Der Brunnenmichel ließ seinen Zahn sehen. Ich glaube, der Kerl bildet sich was ein auf den Solitär. 61 Der Feldmann stand unfern vom Schmalzhafen, und das Wasser lief ihm vom Maul auf den Boden. Das ist nun mal so bei dieser Rasse. Als wir gingen, stand des Postfrieders Weib vor mir, hielt meine Hand und schluchzte auf: »Er hot's jo no für uns do, no wege uns, mei Ma!«

Ich nickte. Sage ich es nicht immer: Die schlechten Kerle sollen selber an ihre Weiber, an ihre Kinder denken! Die Sache von unsereinem ist das nicht!

* * *

Selbstverständlich ist der Postfrieder nicht wieder angestellt worden. Man wird doch nicht den Bock zum Gärtner machen. Er hat jetzt eine Holzsäge und Hackmaschine neuesten Systems. Damit fährt er der Kundschaft vors Haus, stundenweit im Umkreis. Seine beiden Ältesten helfen beim Geschäft und die drei miteinander sägen und spalten den Raummeter zu zwei Mark und dazu singen und pfeifen sie noch. Es heißt, es habe einer dem Frieder das Geld geliehen zur Anschaffung der Maschine. Hoffentlich hat er dann nicht wieder vom Heimzahlen gesprochen, wie dazumal bei der Zwangsanleihe beim Talbauern, als ihm die Gerichtsherren nicht glaubten. 62

Die Annemei sieht jetzt satter aus. Und was der Schorschle macht, wenn er den neuen Schlitten sieht, das bin ich begierig. 's soll nur recht schneien die nächsten acht Tage! Und daß ich dem Brunnenmichel seinen »Trompeter von Säkkingen« nicht wieder vergesse! Ich will gewiß nichts gegen Weihnachten sagen! – Aber – – –! 63



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