Auguste Supper
Holunderduft
Auguste Supper

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Wunderkur.

Wenn der Mensch zum Schäferhannes von Engstlingen geht, während man doch mit studierten Ärzten ganze Straßenzüge pflastern könnte, so mag man das als ein Zeichen höchst mangelhafter Bildung oder als die Begleiterscheinung grober Unwissenheit ansehen, – aber geschmacklos ist es nicht.

Und schließlich: mangelhafte Bildung und grobe Unwissenheit sind doch nur läßliche Sünden, ja mehr als das: es sind schemenhafte, relative, zufällige Begriffe, während eine Geschmacklosigkeit die Sünde wider den Heiligen Geist darstellt.

Welcher Mensch, der ein klein wenig innerlichen Schwung hat, sieht nicht die legale Weisheit der studierten Berufenen elend zu einem Bündel Heu zusammenschrumpfen vor dem Wissen des einen unstudierten Auserwählten, das als ein Strauß von 276 tausend wilden und fremden Blumen in Engstlingen draußen blüht! – Natürlich glaubt man nicht an den Schäferhannes. Man geht nur hin, schaut ihm ins pockennarbige Gesicht mit dem Quäkerbart und hört, was und wie er verordnet. Übrigens gegen Pocken hat er ein vorzügliches Mittel, das ich prophylaktisch schon zweimal mit hervorragendem Erfolg selbst angewendet habe.

Der Schäfer ist keiner jener finsteren und weltfremden Eiferer, die den festen Glauben zum ersten Erfordernis für eine künftige Seligkeit stempeln wollen.

Der Mann ist beim Schafhüten so klug geworden, so lebenserfahren und voll Kenntnis der menschlichen Natur, daß er nun mit lachendem Mund jedem, der Hilfe heischend zu ihm kommt, ausdrücklich die volle Freiheit läßt, zu glauben oder zu zweifeln.

Seine Art, einem Mittel und Maßregeln darzubieten, ist ungemein einfach und ungemein wirkungsvoll. »Da« – kann er etwa sagen – »da ist der Teerbalsam. Wer ihn einreibe' will, soll ihn einreibe'. – Wer net will, soll's bleibe' lasse. Ich sag' net, er hilft, und ich sag' net, er hilft net. Aber wenn er net helfe' tät, des wär' schon grad der Teufel –«

Ist das nicht großzügig, nicht eindrucksvoll? 277

Selbstverständlich reibt man den Teerbalsam ein.

Man weiß ja, daß man ganz unbeeinflußt, aus freier Entschließung vorgeht.

Ein rechter Gaul muß den Zügel spüren, ein rechter Mensch darf keinen Zügel spüren, wenn er auf dem Weg bleiben soll.

Des lieben Herrgotts Fuhrknechte vergessen das immer wieder, so oft es ihnen ihr Herr auch vormacht und einschärft.

Hat nun auch der Schäferhannes die letzte Feinheit im Lenken von Menschenherzen offensichtlich dem lieben Gott abgeguckt, so tut er selbst doch mit Vorliebe, als ob er wer weiß wie eng mit dem Teufel verbunden sei.

Geschäftskniff! – Seine schäferliche Menschenkenntnis sagt ihm, daß korrekte Seelen, die ihr Heil von Gott allein erwarten, in Bedarfsfällen zum studierten Doktor laufen. Wer erst einmal zum Hannes kommt, der schielt sicher mehr oder weniger nach dem geschwänzten Subdirektor dieser Welt. – – –

Der Tag war naßkalt. Mich plagte jenes Reißen, das man dem Wissenden nicht zu beschreiben braucht und seligen Nichtwissenden umsonst beschreibt.

Besonders in meinem rechten Arm schien sich eine 278 Hornissenkolonie angesiedelt zu haben, die bei der geringsten Bewegung meinerseits in zornige Aufregung geriet. Ich war in ärztlicher Behandlung, selbstverständlich.

Zum Schäferhannes kam ich an jenem naßkalten Spätherbsttag aus der gleichen wunschlosen Neugier, die mich in meinen Bubenjahren in die Küche trieb, wenn die Mutter »Küchle« fabrizierte.

Man will doch sehen, wie so etwas gemacht wird. Gibt's dann verwendbare Ausschußware oder brauchbare Abfälle, so kann man sich ja immer wieder besinnen, wie man sich dazu stellen will.

Des Schäferhannes Stube ist an sich schon wert, daß man sie sehe.

Ein breites drei- oder mehrschläferiges Himmelbett füllt sie halb aus. Der Vorhang um dieses Bett ist nie zugezogen. Man sieht die hochgeschichteten Kissen mit den rotgewürfelten Bezügen sauber geordnet unter dem hölzernen Himmel liegen.

Ich habe den Schäferhannes gefragt, zu was er, der ein einsamer und leibarmer Junggeselle ist, das gewaltige Bett brauche? Da hat er mir vertraut, daß ein Bett, in dem der Mensch nicht kreuz und quer und der Länge und der Breite nach liegen könne, 279 nicht wert sei, ein Bett zu heißen. Ja, das enge, gezwungene Wesen der meisten Menschen auf Erden komme nur davon her, daß sie im Schlaf liegen müssen wie die Stockfische.

Der Schäfer hat es behauptet. Daß man es glauben müsse, hat er nicht gesagt.

Im freien Teil der Stube steht ein viereckiger Tisch, in dessen hartholzene Platte so etwas wie eine Windrose geschnitten ist. Vier lange und dazwischen viele kürzere Linien laufen von einem Mittelpunkt aus nach den Himmelsgegenden. Dort, wo nach meiner Ansicht Süden sein sollte, ist ein Rad eingeschnitten. Im Norden eine Maus oder vielleicht auch ein Ferkel, im Westen eine neunschwänzige Geißel, im Osten ein gekrümmter Regenwurm oder eine Riesenschlange.

Neben diesem Tisch, der übrigens außer diesen, auch einem blöden Auge allenfalls erkennbaren Zeichen, noch eine Menge rätselvoller Kerben trägt, sitzt der Schäferhannes auf einem dreibeinigen Stuhl. Um das eine, vordere Stuhlbein sind seine beiden Menschenbeine geschlungen, solange er spricht.

In der Ecke neben der Türe steht ein eiserner Ofen mit einem rundumlaufenden Kranz. Sommer 280 und Winter ist dieser Kranz mit irdenen, kleinen, zugedeckten Näpfen und Tiegeln vollgestellt.

Die andere Ecke ist durch ein weißlackiertes Schränkchen ausgefüllt, auf dessen gerundeter Türe ein Topf mit zwei blühenden Tulipanen in blauer Farbe gemalt ist. Der Schlüssel zu diesem Schränkchen hat einen Bart in Kreuzesform. Er ist schwer und groß und liegt neben dem Schäfer auf dem Tisch.

Jeder Kunde, der ein Medikament braucht, bekommt den Schlüssel in die Hand. Dann muß er sich mit dem Rücken gegen den Tisch stellen und mit rückwärts gerecktem Arm den Schlüssel niederlegen. Der Schäfer weiß dann, was er aus dem Schränkchen zu holen hat oder nicht zu holen hat.

Er sagt, er finde so mit Leichtigkeit das Richtige. Aber er sagt selbstverständlich nie, daß man das glauben müsse. Also ich stand an dem naßkalten Tag in der Stube und tat gar nicht dergleichen. Vielleicht habe ich meinen rechten Arm etwas weniger frei bewegt als sonst, wenn keine Hornissen darin nisten. Jedenfalls aber habe ich kein Wort von meinen Schmerzen gesprochen.

Meine Mutter konnte nie leiden, wenn man etwa fragte: »Ist bald ein Küchle fertig?« 281

Der Schäferhannes kennt mich gut. Er weiß, daß ich oft nur so zum Zeitvertreib bei den Leuten herumschnüffle. Ich glaube, er hat sogar jene leise Sympathie für mich, die den einen Tagedieb zum andern zieht.

Er schaute mich mit den kleinen, stark und struppig überbrauten Augen eine Zeitlang schweigend an, dann begann er vom Wetter zu reden.

Von den verfluchten Nebeln, die wie Schlangen aus dem Busch kriechen. Dabei ging er um den Tisch herum und tippte auf den gekrümmten Regenwurm oder die Riesenschlange fern im Osten.

Ich weiß nicht, warum sich darüber die Hornissen in meinem Arm so heillos aufregten. Aber ich weiß, daß mir ein leiser Laut entfuhr, den ich beim besten Willen nicht unterdrücken konnte.

»Net, net,« sagte der Schäfer, »nur net glei so wüst fluche. Geduld ist gegen mancherlei – ein besser Mittel denn Arznei.«

Der Schäferhannes dichtet nämlich. Einen Band moderner Lyrik wollte ich ihm auspressen in weniger als Jahresfrist. Aber mir war's an jenem naßkalten Tag nicht nach Literatur.

»Hannes,« sagte ich rauh, »wenn mir's um 282 Geduld zu tun wäre, käme ich nicht zu Euch. Geduld kann mir jeder Esel von Doktor verordnen – und hat's verordnet –.«

Der Schäferhannes grinste mich an. »So so, mer ist also marode, mer doktert also –«

Der Mann sagt ein bißchen oft »also«. Wenn man längere Zeit zuhört, fällt es einem auf; und wenn es einem erst einmal aufgefallen ist, dann muß man immer danach hinhorchen.

Ich vermochte nichts zu erwidern. Eine seltsame Gereiztheit war in mir.

Der Schäfer schritt ein Stückchen weiter um den Tisch, nach Norden zu. Er legte die Hand leicht auf das Ferkel oder auf die Maus, und fragte ganz sanft: »Also, mer ist marode. Mer hot's vielleicht im Arm. 's ist vielleicht, wie wenn zwanzig Mäus also drin nage tätet. –«

Ich zuckte. Es ging mir kalt über den Rücken. Ich wollte eben sagen, daß meine Empfindungen eher etwas Hornissenstichartiges an sich hätten, da spürte ich mit Entsetzen, daß tatsächlich zwanzig Mäuse an dem Muskel- und Nervenwerk in meinem rechten Arm zu nagen schienen. Ich habe einen unbeschreiblichen Ekel vor Mäusen. Man male 283 sich demnach meine körperlichen und seelischen Qualen aus.

Auf die Zähne biß ich, daß sie knirschten, und der Schäferhannes schritt Westen zu und tippte die neunschwänzige Geißel an.

»Also, 's ist vielleicht au', wie's in der Bibel heißt: Also, ich will euch mit Skorpionen züchtigen. Wie wenn mer mit ere lederne Hetzpeitsch also eins rüberzündet kriege tät. – Net? – Ist's net so –?«

Voll stiller Forschung sah er mir ins Gesicht.

Ich aber war nicht imstande, eine klar formulierte Antwort zu geben. Unwillkürlich deckte ich die linke Hand auf meine rechte Achsel, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn mir das strömende Blut über die Finger gerieselt wäre.

Ohne daß ich ihm Halt gebieten konnte, trat jetzt mein Schäferhannes auf die Südseite seines Tisches und stützte die Rechte wie absichtslos auf das eingekerbte Rad. »Ja,« murmelte er ganz mild und gelassen, »'s kann ein' ploge, des Reiße. Aber's kann komme, daß mer meint, mer lieg' auf em Rad, daß mer also im ganze Leib kein g'sunde Knoche meh spürt, also – –« 284

Ich mußte aufstöhnen. »Herrgott, Hannes, seid still! Ich halt's nicht mehr aus – also –«

Ohne daß ich's wollte, kam mir in meiner Qual das sinnlose »also« auf die Lippen.

Der Schäfer setzte sich auf seinen Stuhl und schlug beide Füße um das vordere Bein. Sein Gesicht war ernst, seine Stirne quer gefurcht, sein Mund etwas eingezogen, so daß der struppige, am Hals hinuntergewachsene Rundbart, der das Vorderkinn freiließ, mehr als sonst hervorstand.

Merkwürdig sah der Mann aus. Halb wie ein Weiser, halb wie ein Schimpanse.

Als mache er eine schwierige Berechnung, so blickte er über den zerschnittenen Tisch hin.

Auf einmal lächelte er und reichte mir den Schlüssel mit dem Kreuz.

Ich mußte mich umwenden und mir wurde befohlen, ihn mit rückwärts ausgerecktem Arm auf den Tisch zu legen.

Vor Jahren habe ich bei einem alten jüdischen Verkäufer, den ich aus reiner Sympathie zuweilen heimsuchte, einen wurmzerfressenen Kommentar zu Kaiser Karls peinlicher Halsgerichtsordnung in die Hände bekommen. Eine Tiroler Ausgabe. 285

Ich weiß noch, wie ich damals, rittlings auf dem Stuhl sitzend, meinem jüdischen Freund etliches vorgelesen habe von der Tortur im ersten und zweiten Grad.

Beim ersten Grad murmelte er: »Gott der Gerechte, was vor Zeite'!«

Beim zweiten Grad ließ er eine Alabasterschale, an der er eben den Fuß unsichtbar festkittete, vor Schreck auf den Boden fallen, so daß mit der Unsichtbarkeit nachher schwerlich mehr etwas zu machen war.

Da ersparte ich ihm und mir den dritten Grad, schlug die alte Scharteke zu und wußte nachher nicht, wie es um den dritten Grad eigentlich beschaffen sei.

An jenem Tag aber, da ich den Schlüssel von des Schäferhannes Arzneikasten mit rückwärts ausgestrecktem Arm auf den Runentisch legen mußte, – an jenem Tag lernte ich den dritten Grad kennen.

Wie für ewige Zeiten gelähmt fiel mir nach der Prozedur der Arm an der Seite hernieder.

Ich fuhr herum, wütend, wie ich mir einen Löwen denke, dem man im Wüstendickicht auf den Schwanz getreten ist. 286

 

Aber der Schäferhannes sah mein Schäumen nicht.

Mit zeigendem Finger fuhr er über die Linien auf dem Tisch, bewegte den Mund, runzelte und entfaltete die Stirne, und zupfte mit der Linken im Quäkerbart.

Sein Anblick war für meine schmerzentflammte Wut, was eine Tonne Öl für brodelndes Wasser ist.

Eine merkwürdige Stille griff in mir Platz. In Herz und Hirn sowohl als auch in jeglichem Muskelbündel. Nach einiger Zeit schaute der Schäfer auf mit Augen, die wie aus der Ferne herkamen.

»So,« sagte er, »also fürs erst': Sie hänt kein Arzneimage'. 's gibt so Leut'. Also mei' Mutter selig hätt' au' eher en Korb voll Schuhnägel vertrage' als en einzige' Fingerhut voll Arznei. Und also fürs zweit': Salbe' oder schmiere' battet bei Ihne' au' net. Und au' d' Wärme allei' tut's net –« Er stockte und schaute mich eindringlich an, und ich hatte schon das Gefühl, als ob ich aus der Küche gewiesen würde, ohne etwas vom Küchlebacken erwischt zu haben, da legte er mir die Hand auf den Arm und stand auf. 287

»Herr,« sagte er geheimnisvoll, »bei Ihne' hilft der Strom. Also bloß der Strom hilft bei Ihne', des han i scho' g'merkt. Oder net, ist's Ihne' net scho' besser?«

Ich hätte der Wahrheit entsprechend sagen müssen, daß es mir sei, als ob eine Tonne Öl auf brodelndes Wasser gegossen worden wäre. Aber ich nickte stumm, weil meine Gedanken an dem »Strom« herumschnüffelten, der mir allein sollte helfen können, beziehungsweise schon in etwas sollte geholfen haben.

»Herr,« fuhr der Schäfer fort, und er rückte mir noch näher. »Ganget Se heim über de alte' Kreuzweg. Jo net am Bach vorbei. Und ganget Se heut' net ins Bett, eh' Se net drei Guttate do hänt. Rechte Guttate mit de Händ', net bloß mit 'm Geldbeutel. Die helfet nix. Mir kann's ja eins sei', ob Se mir folge' wöllet oder net. I han 's Reiße net. Aber i sag' bloß, Ihne' hilft der Strom!«

»Was ist denn das: der Strom?« fragte ich, und ich hatte das prickelnde Gefühl in mir, das mich jedesmal packt, wenn ich an irgendeinem Werk die verborgene Mechanik zu finden glaube. 288

Der Schäfer gab nicht sogleich Antwort. In seinem Gesicht tauchten ein paar neue Runzeln auf. Dann fuhr er sich über den Kopf und sagte langsam: »Der Strom, des ist des, wo hilft, wenn d'Arzneie und d'Salbe' net helfe. Also wenn Se 's net glaube' wöllet – i han's Reiße net. Mir kann's eins sei'. Aber drei Guttate to und über de alte Kreuzweg heimlaufe – – soviel sag' i –«

Ich drückte mich noch eine Zeitlang in des Schäfers Stube herum. Ist es doch ein elementares Gebot des guten Tones, nicht sogleich davonzulaufen, wenn man etwas bekommen hat. Wenn ich in Mutters Küche ein Küchle erwischt und die Überzeugung erlangt hatte, daß es das letzte sein werde, machte ich auch immer noch ein paar Redensarten, ehe ich davonging.

Der kürzeste Weg von des Schäferhannes Stube bis zu meiner Behausung führt am Bache hin. Ich gehe ihn oft und gern, denn die Weidenstrünke stehen in der abendlichen Dämmerung oder im Nebel des Morgens oder auch in der grellen Hitze des Mittags so fremd und dickköpfig am ausgefressenen Bachufer, daß mir der Gang eigentlich jedesmal ein Abenteuer bedeutet. Ein Abenteuer mit diesen 289 totenstillen, festgebannten Mißgeburten, die sich recken und grinsen und tausend Gesichter schneiden und nie mit dem Fuß aus der Erde dürfen.

Ich habe sie schon verhöhnt und ihnen die Zunge herausgereckt, um sie zu reizen. Oft aber haben sie mich erbarmt in tiefster Seele, so daß ich stehen blieb und mit Tränen in die sinkende Dämmerung sah, aus der heraus sie schwarz und verzweifelt sich reckten. Heute durfte ich diesen Weg nicht gehen.

Nicht die Redensarten des Schäferhannes verboten mir ihn – lächerlich. Nein, meine eigenen Erwägungen, daß an einem naßkalten Tag der Bach für mein Reißen Gift sein müsse, führten mich den weiteren Weg über den Berg und den Kreuzweg.

Auch da oben ist's schön. Ein bißchen kahl zwar, weil der Föhrenwald, der früher die Bergnase deckte, teils im Windbruch gefallen, teils gefällt worden ist. Er war vom försterlichen Standpunkt aus nicht viel nutz, der Wald. Aber ist der försterliche Standpunkt der einzig maßgebende? Ich möchte die Nußhäher und die wilden Tauben fragen, die früher in der Gegend um den Kreuzweg genistet und mich immer mit ihrem grellen Schrei, ihrem tiefen Gurren begrüßt haben. Für sie war der Wald mit 290 seinem heißen Harzduft in langen Sommertagen ein Paradies.

Und wenn der Himmel glasig blau über den schwarzgrünen Föhrenwipfeln stand, dann bin ich manche liebe Stunde im dürren Waldgras gelegen, die Arme unter dem Kopf, die Augen starr offen und die Seele auf tausend wirren Wegen droben in der flimmernden Unendlichkeit. Aber was fragt da ein Förster danach!

Kahl wie ein Geierkopf ist jetzt der Berg. Strahlenförmig laufen die Pfade drüber und schneiden sich am Kreuzweg. Nüchtern ist alles geworden, aufgedeckt, reizlos gegen früher. Dafür wachsen nun die Himbeeren und die Weidenröschen auf der Blöße und hochaufgeklaftert steht numeriertes Holz an den Wegen.

Ich bin behutsam gegangen an jenem Tag. Zum ersten waren die steilen Pfade glatt vom nassen Nebel, zum zweiten hatte ich die leise Furcht, eine ungestüme Bewegung könne die geglätteten Wogen meiner Schmerzen wieder anstoßen und zu neuem Wallen bringen.

Die Hände auf dem Rücken, schritt ich bergan. Meine Gedanken waren beim Schäferhannes und bei seinem »Strom«, der besser als Salben und Arzneien auf mich wirken sollte. 291

Und die verordneten drei Guttaten fielen mir ein. Drei? Warum nicht gleich ein Dutzend!? Guttaten liegen doch nicht nur so am Weg wie die Straßensteine. Schon manchmal, wenn ich recht gut oder recht schlecht bei Kasse war, bin ich mit der ausdrücklichen Absicht aus dem Haus gegangen, irgendeine Guttat zu vollbringen. Entweder um den Neid der Götter auf meinen vollen Geldbeutel zu versöhnen, oder um ihr Mitleid mit meiner Abgebranntheit wachzurufen.

Wie schwer war's dann immer, eine richtige Gelegenheit zu finden! Zwar mein Geld konnte ich stets losbringen; aber es gelang mir fast nie, hinterher das Gefühl zu haben, ich hätte etwas Gutes getan.

Und wenn ich ohne Geld mein Herz zeigen wollte, dann wurde mir ins Gesicht gelacht oder ins Gesicht geschimpft.

Und der Schäferhannes verlangte ausdrücklich drei Guttaten mit den Händen, bei denen der Geldbeutel keine Rolle spielen dürfe. Wo nun die hernehmen?

Ich würde höchstwahrscheinlich heute abend ein Salizylpülverchen nehmen, wie mir's mein Hausarzt verschrieben hatte, würde Watte um meinen Arm packen und mich in Geduld fassen. 292

»In Geduld fassen«, hatte er ausdrücklich gesagt.

Ich glaube, mir haftet ein Fluch an, daß alles, was ich höre oder denke, es mag so abstrakt sein als es will, sich sofort in ein Bild umsetzt.

So umschwebte mich bei des Doktors Redensart die Vorstellung, ich mit meinem Gliederreißen sei eine Mücke im Bernstein, und die Geduld sei der goldene Reif mit der Öse, daran mich der Doktor an seine Uhrkette hänge.

Ich kann nicht sagen, wie unbeschreiblich ungeduldig mich diese Vorstellung machte. Hätte der Doktor nichts von »in Geduld fassen« gesprochen, mir wär's an jenem naßkalten Tage nicht eingefallen, den Hannes heimzusuchen.

Zwei Dritteile des trübseligen Weges war ich emporgestiegen. Etliche zwanzig Schritte vor mir stand quer über den Weg ein Handwagen, vollgeschichtet mit aufgelesenem Holz, wie es ringsum lag.

Ein paar gute Scheite waren darunter, doch nicht mehr, als man benötigt hatte, um der Ladung Halt und Festigkeit zu geben.

Hinter einem der Holzstöße am Wegrand kam ein alter Mann hervor, schaute mir entgegen und grüßte. Es war ein leibarmes Kerlchen in zerrissenem 293 Kittel. Seine manchesternen Hosen steckten in Stiefeln, die ihm viel zu groß waren und deren Schäfte rötlich schimmerten. Nichts redet eindringlicher von menschlicher Armseligkeit, als ein alter, zerrissener Stiefel, der zu groß ist, und dessen zerschundene, leere Spitze sich aufbäumt gegen ein unverdientes Schicksal.

Ich weiß nicht, dauerte mich mit einemmal der alte Mann, oder dauerten mich die heruntergekommenen Stiefel, die zweifelsohne einst an so viel stattlicheren Beinen gesessen hatten.

Kurzum, ich zog den Alten ins Gespräch.

Er schaute von unten auf, als sei sein Hals steif.

Sein grauer, hängender Schnauzbart war unter der Nase braungelb, wie bei alten Schnupfern. Das knochige Gesicht und die dürren Hände mochten lange sich nach Wasser gesehnt und diese Sehnsucht jetzt aufgegeben haben. Die Schmutzschicht darauf sah nicht mehr aus wie etwas Zufälliges und Angeflogenes, sie hatte vielmehr durchaus den Anstrich des Organischen und Hergehörigen.

»Habt Ihr Holz gesammelt, Alter?« fragte ich leutselig, und ich freute mich selbst über den warmen Klang meiner Worte.

Er schaute auf den hochgeschichteten Wagen und 294 machte plötzlich ein weinerliches Gesicht. Ja, sogar der Schnauzbart zuckte.

»Ich – nein – Ich hab' ja nicht einmal einen Ofen, wo ich's drin verbrennen könnte. Das Holz gehört dem Nachtwächter Säuerle. Für den soll ich's holen, weil er schlafen muß über Mittag.«

Er rückte an seiner Kappe und schüttelte den Kopf, wie in Mißbilligung.

»Herrgott,« murmelte er, »mir wird 's Angst, wenn ich sehe, wie der Nachtwächter geladen hat. Ich bin doch kein heuriger Hase mehr.«

Ganz fern draußen auf einer Woge meines Bewußtseins tauchte etwas Gestaltloses auf und tanzte wieder nieder in ein Wellental.

»Ja, Alter,« sagte ich bedenklich, »das wäre eine Ladung für einen starken Mann.«

Er schaute mich an von oben bis unten. Und unter seinem Blick kam jene ferne Woge näher, und ich sah wohl, was das war, was sie auf ihrem Kamme mit sich trug.

Aber ich tat vorläufig nicht dergleichen.

»Ihr müßt eben abladen und zweimal fahren, Mann. Nur ein fauler Knecht schleppt sich zu Tod.« 295 Die Worte kamen mir so glatt und leicht vom Munde, wie nur je ein guter Rat.

Der Alte nickte vor sich hin. »Ja,« murmelte er, »zweimal den weiten Weg für fünfzig Pfennig.«

Da warf mit einem leisen Schäumen jene Woge ihre Bürde so hart vor meine Füße, daß ich nicht mehr anders konnte, als sie vom Boden aufzunehmen.

»Hört, guter Freund,« sagte ich, »mir ist eben eingefallen, wie es zu machen wäre: Ihr geht an die Deichsel und ich schiebe hinten. So bringen wir den Karren auf die Höhe, und drüben hinunter läuft er von selbst –«

Der Alte spuckte in die Hände und sagte nichts. Er trat nur an die Wagendeichsel und drehte das ächzende Vehikel.

Ich stemmte die Arme gegen den Wagen, die Füße gegen den glitschigen Weg. Ich spürte, wie in meinen Gelenken, in meinen Muskeln etwas zu brodeln begann, wie wenn Kohlensäure in Wasser frei würde und aufwärts zu perlen begänne.

Es war kein Schmerz. Es war nur eine Erinnerung an Schmerz.

Die Stirne wurde mir heiß und das Herz klopfte gewaltig. Ich lauschte hin auf das Brodeln und 296 Perlen, und in schlecht verhehlter Angst rang sich meinem Innersten der Schrei ab: »Heiliger Strom des Schäferhannes, hilf!«

Und jetzt erst, ganz sicher jetzt erst, kam mir auch der Gedanke, daß dies mein keuchendes Schieben an des Nachtwächter Säuerles Holzwagen eine Guttat sei mit den Händen. –

Wir erreichten den Gipfel und standen am Kreuzweg still, dort, wo ich einstmals im Waldgras lag und in den glasblauen Himmel starrte.

Es war keine Ader an mir, die nicht klopfte, kein Puls, der nicht flog.

Der Alte fuhr sich mit dem Ärmel über die schmutzbronzene Stirn und sagte ohne merkliche Atemnot: »Ja, ja, wenn so Herren nichts Rechtes gewohnt sind –«

Mir kam flüchtig der Gedanke, daß ich vielleicht besser getan hätte, an der Deichsel zu gehen; aber das waren ja so müßige Erwägungen, nachdem der Karren oben war. Links in der Tiefe lag das Wiesental mit seinen Weidenungetümen am kleinen Bach und den paar Dächern des Weilers, zu dem das Häuslein des Schäferhannes gehörte. Rechts draußen drückte sich die kleine Stadt unter dem grauen 297 Himmel zusammen, die kleine Stadt, in der ich und andere Gerechte des Nachts unter der Obhut Meister Säuerles schlafen.

Es war noch ein steiler Abstieg und dann ein weiter ebener Weg bis dahin. Man sah ihn deutlich sich hinüberziehen. Ich dachte heute gar nicht an die vielen schönen Geschichten, die ich von dem Kreuzweg auf der Bergnase weiß. Geschichten, die, der Länge nach gemessen, von Anno dazumal bis in den Sankt Nimmerleinstag gehen, und in der Breite hüben und drüben noch zwei Schattenlängen weit in die Ewigkeit hineinragen.

Ein naßkalter Tag ist nichts für diese Geschichten.

Ich sah nur den steilen Weg und dachte, wie wohl das Männlein, das soeben sorglos eine Prise nahm, mit seinem Wagen, der zudem weder Bremse noch Radschuh hatte, da hinunter kommen werde.

Denn meine Behauptung, der Wagen laufe bergab von selbst, hatte jene Hyperwahrhaftigkeit an sich, die das sichere Kennzeichen der wertlosen Phrase ist.

Das Männlein spuckte jetzt von neuem in die Hände und reckte die Achseln, als ob er ein Kummet trüge, das er zurechtrücken müßte. 298

»So,« sagte er, »einmal wär's geschehen, jetzt kommt der zweite Teil. –«

Wie er das sagte, strich mir von hinten her der kalte Wind ins erhitzte Genick. Es schauderte mich ein wenig, wie das so geht, wenn das Blut übermäßig rasch durch den Körper gejagt wird.

Ich schlug den Kragen hoch und dachte, daß ich nicht länger auf der zugigen Höhe stehen bleiben dürfte. Und wie ich das dachte, legte ich auch schon, ohne daß ich's eigentlich wollte, die Hand an den Holzwagen. Der Alte lachte. Sein graubraungelber Schnauzbart zuckte. »Vergelt's Gott, Herr,« sagte er warm, »aber wenn der Herr vielleicht lieber vorne hin an die Deichsel wollte –?«

Selbstverständlich an die Deichsel. Ich hatte das ja vorhin selbst gedacht.

Eine sonderbare Glätte war an dem Deichselkreuz.

Mir fiel ein, daß der Alte naturbronzene Hände hatte, in die er zu spucken pflegte. Unwillkürlich zuckte ich zurück.

Aber – weiß Gott – in der gleichen Sekunde zückte auch eine der schlafenden Hornissen in meinem Arm ihren Stachel. 299

Da gab ich all der Zimperlichkeit in mir einen Fußtritt und spuckte kräftig in die Hände.

Und wir kamen den Berg hinunter.

Wie es ging, das weiß ich nicht. Es ist mir in der Erinnerung, als sei ich wirbelnd wie ein dürres Blatt vor dem Wind geflogen.

Als ich unten war, war ich nicht nur unten, sondern auch noch über dem Brückchen am Bach und an der alten Schafscheuer vorbei und drüben an den zwei Pappeln, die halbwegs zwischen Berg und Städtchen stehen.

An einem kleinen Hügel endlich tat ich langsam, so daß auch sofort der Wagen langsam tun konnte. Vielleicht war's auch umgekehrt. Ich kann mich nicht darauf besinnen. Mit zitternden Armen ließ ich die Deichsel los und taumelte auf einen Steinhaufen am Weg.

Da kauerte ich und fing schnappend meinen verlorenen Atem wieder ein.

Und als ich diesen schon längst wieder hatte, kam mit seinen gottverlassenen Stiefeln mein Alter den Weg dahergeschlurft.

Noch war ich mir nicht klar darüber, ob ich mich 300 des Wiedersehens freuen sollte, da trat er her und schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Herr,« sagte er, »so hätt's nicht pressiert. Der Nachtwächter wartet, bis ich ihm sein Holz bringe.«

Das Grinsen in dem Schmutzgesicht berührte mich kitzlig, als ob sich eine Fliege mitten auf meiner Nase die Flügel umständlich putzen würde und dabei mit den Füßen scharren, wie es die Fliegen bekanntlich im Brauch haben.

»Der Teufel hol's,« fuhr ich auf, »statt daß Ihr Euch hinten hinhängt und Eure zwei Spazierhölzer mit den Wasserstiefeln dran als Bremsblöcke einlegt, – statt dessen torkelt Ihr hinterher, und ich kann mir die Knochen brechen.«

Der Schmutzfink schüttelte gemächlich den Kopf. »Herr, ich hab' es gleich gemerkt, daß Sie gut allein herunterkommen. Die Knochen bricht man nicht so schnell. Überhaupt, wenn der Mensch eine Guttat tut, dann führt ihn der Herrgott selber an der Hand, da gibt's nichts –«

Ich konnte nicht widersprechen. Es war ganz leicht möglich, daß mich der liebe Herrgott selber an der Hand geführt hatte. Das Tempo war jedenfalls 301 frei von Erdenschwere gewesen, und die Engel hatte ich auch singen hören.

Sicherlich nicht, um den Alten an seine Dankespflicht zu mahnen, sondern nur um mir von ihm gewissermaßen eine Bestätigung, einen Ausweis vor mir selbst geben zu lassen, fragte ich: »Also Ihr haltet es für eine Guttat, daß ich Euch den Karren führte? –«

Er spuckte wieder einmal in die Hände. »Nicht nur eine Guttat. Zwei sind's. Zuerst den Berg hinauf und dann den Berg hinunter. Gott soll's Ihnen vergelten, Herr! Ich weiß nicht, wie mir's gegangen wäre, heut –« Er legte die Hände an die Deichsel und zog an.

Da fuhr mir's durch den Kopf, daß des Weges dritter Teil vielleicht als die dritte Guttat für mich armen Sterblichen gedacht sei. Ein mildes und versöhnendes Finale nach der Schwere des Largo und dem wilden Wirbel des Allegro con fuoco.

Aber als ich mich still und dienstbar dem Deichselkreuz näherte, da wehrte das Männlein ab mit einer Lebendigkeit und Entschiedenheit, die ich ihm nimmermehr zugetraut hätte.

Nicht schlafen würde er können heute nacht, wenn 302 ich auch das noch täte. Ums Leben dulde er das nicht. Da gab ich nach, denn es ist nicht meine Art, etwas zu erzwingen, was offenbar nicht sein soll. Ich lasse mich tragen von der Welle; aber ich teile sie nicht mit brutalen Stößen.

Einsam stand ich noch auf der grauen Straße, als des Nachtwächters Holz und sein Begleiter schon ganz in der Ferne verschwunden waren.

Ich stand und schaute mich um, als hätten mir die Gänse mein Brot gestohlen.

Wo sollte ich jetzt meine dritte Guttat hernehmen? Weit und breit kein Mensch. Und wahrscheinlich würde doch der Mensch allein das richtige Objekt sein für eine vollgültige Guttat, wie sie der Schäferhannes verordnet hatte.

Gedankenvoll, den Blick gesenkt, schritt ich fürbaß. Da sah ich eine Blindschleiche sich blutend winden in dem Gleis, das der Holzwagen gelassen hatte. Ich stand lange da und sah hernieder auf den stahlblanken, jetzt so beschmutzten und so zerrissenen Schlangenleib.

Ich habe keinen Laut gehört. Und doch hat deutlich die Luft gezittert von Jammertönen. 303

Eine einzige Gebärde der Qual war dieses Tier in Blut und Schmutz.

Da sah ich einen Stein liegen am Weg.

Ich habe mich hingebückt und habe laut gesagt: »Schlange, ich will tun an dir, was ich nur tun kann. Ich bin ja leider auch nur ein Geschöpf. Ich will deiner Qual ein Ende machen, und du sollst glauben, daß ich dich lieb habe.«

Sie hat sich ein letztes Mal aufgeringelt, und ich habe zugeschlagen.

Da verstummte um mich der unhörbare Lärm. Der Stein fiel mir aus der Hand, und ich stand taumelnd auf und reckte meine Arme; ich weiß nicht, warum. Eilends bin ich dann meinen Weg gegangen. Der Abend sank und in seinen grauen Fängen trägt er etwas mit, was nicht gut ist für die, die irgendwo ein verstecktes Übel sitzen haben.

Eine Stimme in mir sagte, daß die Zahl der Guttaten voll sei. Aber eine andere wisperte dagegen: »Vielleicht doch nicht –«

Diese Wisperstimme trage ich in mir, wie ein Hecht den Angelhaken, den er losgerissen hat. Er geht nicht daran zugrunde. Aber in jeder Stunde 304 mahnt ein leiser Stich. Er mahnt und dämpft jegliches Überschäumen.

Näher und näher kam ich meinem kleinen Haus. Nirgends war eine Lücke zu sehen, die ich der Sicherheit halber mit einer weiteren Guttat hätte ausfüllen können, so, wie auf dem Markt die Weiber eine Handvoll Beeren auf das gekaufte Quantum häufen.

Der siebenjährige Immanuel, der jüngste Sprößling meiner Nachbarin, stand an meinem Gartenzaun und bemühte sich, die Latten locker zu machen.

Der kleine Kerl mit seinem frommen Namen ist die fleischgewordene Vorspiegelung falscher Tatsachen. Sein Stimmchen hat Silberglockenklang, sein Gesicht ist das eines etwas schmutzigen Seraphs, sein Haar weich, lang, seidig, wie ich mir Engelshaar denke, wenn es im Himmelsfrühling frisch geschnitten ist.

Dabei aber hat der Bub mehr Fensterscheiben, mehr zertrampelte Erdbeerbeete, mehr gestohlene Birnen auf dem Gewissen als sonst landesüblich ist.

Auch an Frechheit tut er mehr, als Bubenpflicht erfordert. »Immanuel,« sagte ich gehalten, »laß das, du ruinierst den Zaun!« 305

Er schaute mich an mit seinen Engelsaugen, und das seidene Haar fiel ihm auf die weiße Stirne.

Und alsdann reckte er breit und lang und bis zur Wurzel die rosige Zunge.

War's, daß das Engelhafte an dem Buben zu meiner suchenden Seele sprach, war's eine ganz unmittelbare Inspiration – ich weiß es nicht.

Aber ich weiß, daß mir plötzlich, ja blitzartig klar wurde, wo und wie meine ersehnte Ergänzungsguttat zu finden sei.

Ehe ich wußte, wie mir vom Geist geschah, hatte ich den frommen Immanuel am Stehkragen, hatte ihn übers Knie gelegt und walkte darauf los, was mein im Dienst okkulter Heilkunde und nachtwächterlichen Holzführens gestählter Arm hergeben wollte.

Und ein jämmerliches Gebrüll belehrte mich und alle Interessenten, daß nicht jegliche Kreatur stumm leiden muß.

Das war meine letzte Guttat mit den Händen, ehe ich an jenem Abend mein Lager suchte.

Ich schlief herrlich in jener Nacht. Kein Reißen weckte mich auf, kein Stechen trieb mir den Schweiß aus. Alle die Höllengeister verflossener Nächte hatte offenbar »der Strom« ausgetrieben. Dieser Strom, 306 der durch drei Guttaten – aber gerüttelt und geschüttelt Maß – in den Körper geleitet wird.

Am nächsten Morgen kam zur gewöhnlichen Stunde mein Arzt.

»Na,« meinte er, »Ihnen scheints's ja gut zu gehen. Ich sagte es ja: nur sich in Geduld fassen bei solchen Sachen. – Was haben Sie denn dieser Tage getrieben?«

Ich mußte auf meine Lippen beißen.

»Danke, danke, Herr Sanitätsrat. Es geht mir sehr gut. Ich habe gestern einen Bummel gemacht über den Engstlinger Berg; habe einen schweren Karren Holz drüben hinauf und hüben herunter gefahren, habe eine Blindschleiche totgeschlagen und dem Immanuel von drüben das Lederwerk angestrichen; aber kräftig. –«

Der würdige Herr lachte: »Gut so, alles gut! Ein bißchen gewaltsam; aber desto wirksamer. Nur die Blindschleiche hätten Sie können leben lassen. Alles andere war vortreffliche Muskelgymnastik –«

Er ging, und man wird verstehen, wie froh ich war, daß auch die Schulmedizin, wenn auch erst 307 nachträglich, des Schäferhannes Verordnungen guthieß.

Auch das freute mich, daß der Sanitätsrat mir aus freien Stücken und ungefragt bestätigte, was mein Gefühl oder jene leise oppositionelle Stimme in mir gesagt hatte: daß die Blindschleichenaffäre nicht für vollwichtig zu nehmen sei.

Bis heute hat die Kur von damals vorgehalten. Nur einmal spürte ich ein kurzes Zwicken und Reißen. Das war damals, als ich vom Nachtwächter Säuerle hören mußte, daß ihm oben am Engstlinger Berg eine schöne Ladung Holz, an der fast zwei Männer zu führen gehabt hätten, von einem frechen Lumpen weggestohlen worden sei.

Der leere Wagen sei spät abends vor der Haustüre gestanden und zwei große, zerlumpte Stiefel dabei, die in die Spuren droben auf der Höhe paßten.

Ich wollte etwas sagen. Aber an der Ecke, wo ich mit dem Nachtwächter stand, zog es so scheußlich, daß ich fürchten mußte, alle schlummernden Teufel zu wecken.

Still und mit flüchtigem Gruß ging ich davon.

Ich begriff, warum jener Alte mich die dritte Guttat abseits von seinen eigenen Pfaden suchen hieß. 308

Je älter man wird, je deutlicher sieht man die Fäden im Gespinst des Geschehens laufen.

Nur was »der Strom« ist und wie er wirkt und waltet, das bleibt dunkel und wunderbar.

 


 


 << zurück