Auguste Supper
Holunderduft
Auguste Supper

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Die Dachrinne.

Ich bin nicht abergläubisch. Bin eines Rheinpreußen und einer Schwäbin Sohn. Das ist nicht die Mischung, aus der verdrehte Köpfe stammen. Dazu habe ich Medizin studiert. Es sind allerdings an die dreißig Jahre her; aber ganz schwitzt man das nie mehr durch die Rippen; auch wenn man weit vor der Welt draußen im Schwarzwald praktiziert. Man sieht: Abstammung, Studium und Beruf wären geeignet, einen nüchternen Kerl aus mir zu machen; aber diese verfluchte Dachrinne! – –

Ich wohne im letzten Haus von J. (Namen tun nichts zur Sache.) Ein großer Baumgarten trennt mein Anwesen von allen anderen Wohnstätten des Dorfes.

Ich hause dort mit Donna Anna, meiner sechzigjährigen Haushälterin, und Johann, dem Knecht. 106

Donna Anna ist so kurzsichtig, daß sie kaum ihre Pfannen auf dem Herd sieht. Der Johann aber ist auf weite Stunden im Umkreis der Dümmste. Riegelwände könnte man mit ihm einschlagen, ohne daß er es merken würde. Von der Umwelt sieht er nur den Brotlaib, den Mostkrug und meinen Gaul, den »Rih«.

»Rih« heißt das Tier, seit ich Karl May lese. Früher hat es »Mephisto« geheißen. Die Zeiten ändern sich und die Bücher der Herren und die Namen der Gäule in ihnen. Der Gaul ist zwölfjährig, Fuchsstute. Bei gutem Stall und leichtem Dienst immerhin noch kein Veteran. Nicht weit von meinem Haus fängt der Wald an. Eine weiße Straße führt vor meinem Hoftor vorbei darauf zu.

Wenn ich, den die ärztliche Praxis nicht schwer drückt, auf meinem Fuchs durch diesen Wald reite, beuge ich mich oft nieder, auf den schlanken Gaulshals, wie Karl May das lehrt, und murmle eine Koransure. Und mein ganzes Leben unter den Bauern kommt mir dann vor wie ein Häufchen Asche, das von einem großen, lodernden Brand übrig geblieben ist. Wann und wo aber der Brand loderte, darauf kann ich mich nie besinnen. Wie ein Traum ist alles, 107 wenn der Wald schwarz und still um meinen Weg steht.

Aber ich will ja von der Dachrinne reden.

Von meinem Wohnhaus durch einen schmalen, gepflasterten Ausläufer des großen Hofes getrennt, liegt der Gaulstall, der unter seinem flachen Dach von geteerter Pappe zugleich die kleine Scheune birgt.

An diesem geteerten Dach entlang läuft sie, die †††-Dachrinne.

Sie ist von Weißblech, solid gemacht von einem christlichen Flaschner, der – – – Doch weiter:

Wenn ich, was in sieben Wochentagen sechsmal der Fall ist, abends nach dem Nachtessen allein in meiner großen, vielfensterigen Wohnstube sitze und den Karl May oder den alten Gerstäcker oder sonst ein Buch fürs Herz vor mir habe, dann liegt mir nichts ferner, als auf das zu horchen, was außerhalb der Stube vorgeht.

Viel ist's ja auch nicht. Die Donna Anna schlägt in ihrer Kurzsichtigkeit dann und wann eine Tasse, einen Teller zusammen, der Johann pfeift beim Stiefelputzen das Lied, das kein Ende und keinen Anfang hat und in dem nur immer noch einmal gesagt wird: Schön sein's die Jugendjahr! Vom 108 Dorf herüber hört man des Schulzen Hund bellen, das Rabenaas, das das große Wort führt, grad wie sein – –. Doch weiter: Also ich höre von allen diesen Geräuschen grundsätzlich keines, weil es nicht der Mühe wert ist. Warum habe ich nun schon dreimal das andere gehört? Ich frage: warum??

Jedermann weiß, wie das ist, wenn es regnet und eine weißblecherne Dachrinne ist in der Nähe. Ganz recht. Ich weiß das auch. Da geht erst ein leises Rieseln an und dann ein Glucksen, ein stoßweises und dabei doch gleichförmiges Gurgeln und Raunen, das zuletzt wie ein hoffnungsloses, fassungsloses Weinen klingt.

Ja, so ist's. Trübselig ist das, herzbeklemmend, schon wenn's regnet. Wie aber, meine Verehrten, wenn dieses Teufelsgeräusch laut wird, ohne daß ein Wölkchen am Himmel steht, ein Tröpfchen niederrieselt? Wie ist's dann? Was würdet ihr dann sagen zu dieser Dachrinnenmelodei? Merkt ihr jetzt etwas, – he?

Und wenn dann nach diesem gurgelnden Weinen oder weinenden Gurgeln das einemal der – –

Aber ich will der Ordnung nach erzählen. 109

Es war im Hochsommer. Ich war müd von einer weiten Fahrt zu einer Wöchnerin und zu zwei Schoppen Hessigheimer im »Hirsch« in Dingelsberg heimgekommen. Ich sage das ausdrücklich von den zwei Schoppen, sonst könnten gewisse Leute sich mit einem Augurenlächeln in die Augen blicken. Zwei Schoppen waren's. Nicht mehr und nicht weniger.

Da sitze ich also an meinem Tisch, strecke die Füße in den Hausschuhen von mir, ziehe die Hängelampe tiefer und schiebe das Nachtessensgerät auf die Seite. Die Fenster stehen weit offen, obgleich Donna Anna darüber schimpft, weil sie behauptet, dadurch bekomme man das Haus voller Motten und in meiner alten Jagdjoppe fangen sieben Katzen keine Maus mehr vor lauter Mottenlöchern. Ich gestehe: mir liegt an meiner alten Jagdjoppe nicht viel und am Schimpfen der andern Alten erst recht nicht. Aber daran liegt mir, daß ich teilhaben darf, wenn der Wald nach einem langen, heißen Tag Atem holt aus der Tiefe seiner grünen Brust heraus. Solch eine Schwarzwaldnacht durch weit offene Fenster herein, das ist wie ein Bad in Quellen, die von drüben herüber kommen. 110

Die Anna trägt das Geschirr hinaus, der Johann schließt drunten Stall und Hoftor, und alles wird still. – Da auf einmal gluckst's in der Dachrinne.

Ich sehe erst nicht auf von meinem Buch. Bei Bagdad drinnen stecke ich irgendwo, und mein Hadschi Halef mit dem langen Namen hat eben einen Streich geliefert, den der Johann nicht halb so genial fertig brächte. – Nur ein leises, mehr unbewußtes Unbehagen ist in mir, daß es draußen regnen soll, da doch heute solch ein prachtvoller Tag und glühendroter Abend war.

Sie schluchzt und gurgelt fort, die Dachrinne. Ins Weinen kommt sie, ins hoffnungslose Weinen.

Ich schaue auf wie verträumt und verschlafen. Regnet's denn? Die Beine ziehe ich an und horche. Regnet's denn?

Müd und schwerfällig stehe ich auf und trete ans Fenster, ob vielleicht ein Gewitter vorüberstreife.

Ich höre nichts mehr und sehe nichts. In nächtlicher Bläue, glashart gewölbt, mit wenig Sternen steht der Himmel über den Wäldern, und aus dem Küchenfenster, wo Donna Anna Geschirr abwäscht, fällt genug Lichtschein auf das Dach des Pferdestalles, 111 um erkennen zu lassen, daß die Pappe stumpf und trocken ist.

Wieder setze ich mich an mein Buch. Und wieder fängt in der Dachrinne das Raunen, das Glucksen, das Weinen an. Ich weiß, daß meine Augen sich weiten wollen, und drücke sie hart zusammen. Und dann schließe ich sie ganz, daß sie von innen heraus den Ohren helfen sollen. Wie man die eine Stellfalle schließt, wenn man ein geteiltes Wässerlein nur noch durch einen einzigen Graben leiten will.

Unendlich deutlich, so, daß eine Täuschung absolut ausgeschlossen ist, höre ich die Dachrinne. Durch das winselnde Weinen klingen zuweilen schwere, einzelne Tropfen in hartem Fall. Mir geht langsam ein Gefühl von Kühle über den Rücken. Ich stehe auf und recke mich und sehe mich um wie einer, der etwas gegen sich ankommen fühlt und nicht weiß was und nicht woher.

Aber außer der glotzäugigen Nacht und dem schluchzenden Gewinsel kommt nichts durch die gähnend offenen Fenster. Da schreite ich zur Türe und rufe die Anna.

Den nassen Schürzenzipfel über das beträchtliche Bäuchlein gesteckt, kommt sie angewatschelt, und in 112 ihren roten, immer etwas entzündeten Augen loht flammender Groll. »Mei' Spülwasser wird kalt«, faucht sie mich an.

Ich aber fasse sie am Arm, führe sie mitten in die Stube und befehle ihr, zu horchen.

Und sie horcht. Sie hat eine gottsjämmerliche Angst vor Mäusen, und diese Angst macht sie so feinhörig wie sie kurzsichtig ist.

Ich höre immerzu das Weinen, immer das Weinen. Die Alte dreht den Kopf links und rechts wie eine verliebte Blaumeise. Der Ausdruck angespanntesten, ängstlichen Lauschens ist in ihrem Gesicht.

Dann schüttelt sie plötzlich den Kopf und stampft mit dem Fuß auf. »Narrheite',« sagt sie zornig, »i' hör' nix; was soll denn sei'?«

Ich gebe ihr einen Puff. »Die Dachrinne plätschert doch.« Sie horcht noch einmal, noch angestrengter. Dann schreitet sie einfach zur Tür. »Sie plätscheret au',« brummt sie grob zurück, »Sie werdet z' lang beim Hessigheimer g'sesse' sei', jetzt saust's Ihne' in de' Ohre'.«

Was soll man da sagen! – Ich sage nichts und rufe den Johann. Einen von meinen Stiefeln über 113 dem linken Arm, die Bürste in der Rechten, tritt er ein. Er weiß nicht, daß man so etwas auch abstellen und weglegen kann. Sein Fleisch ist willig; aber sein Geist gar schwach. »Johann,« sage ich, »horch einmal!«

Er sperrt sofort das Maul auf, denn so horcht der unbefangene Mensch, an dem die Kultur noch nichts verrenkt und verzerrt hat.

Stumm sehe ich in sein Gesicht, ob ich darin nicht entdecken möchte, wie das rätselvolle Geräusch auf den Naturmenschen wirkt.

Aber außer der gewohnten abgrundtiefen Dummheit lese ich nichts in diesen Mienen.

»Was soll sei'?« fragt er schließlich langgedehnt.

»Hörst du die Dachrinne nicht?«

Er schleicht sich mit der Gelenkigkeit eines hundertjährigen Nilpferdes zum Fenster und reckt den Hals in die Sommernacht.

»Noi, Herr Doktor,« sagt er bestimmt, »'s regnet net.« Ich kann einen Seufzer nicht unterdrücken und schicke den Burschen fort.

Unter der Türe schon fängt er an zu pfeifen: »Drum sag' ich's noch einmal, schön sein's die Jugendjahr!« 114

Ich setze mich wieder an den Tisch und versuche von neuem zu lesen. Aber da draußen in der schwarzen Nacht weint es und weint, und ich muß darauf horchen als gelte es mir allein.

Und plötzlich höre ich Hufschlag auf der Straße. Den Hufschlag eines schweren Bauerngauls, wie ihn etwa ein Feuerreitergalopp aus den harten Steinen der frischeingeworfenen Straße lockt.

Ich springe empor. Ich weiß, – der Hufschlag gilt mir.

Ich fühle, daß in meinen Händen, in meinen Beinen ein jähes Zittern ist, das ich hinausdrücke aus meinen Gliedern mit zusammengebissenen Zähnen.

Und dann ein Klopfen, ein Rütteln, ein Schreien am Tor.

Das war aber in jener schweigenden Hochsommernacht, als das Auto mit den vier Franzosen unten an unserem Berg über die hohe Mauer aus Werksteinen unter die schwarzen, ragenden Tannen rannte.

Der graue Morgen ist über die Höhe gestiegen, als ich vom Gang in jener Nacht heimkam.

Die weißblecherne Dachrinne hat mir seltsam fahl entgegengeschimmert, und wenn sie Wasser gehabt 115 hätte, viel Wasser, dann hätte ich mir unter ihr die blutigen Kleider waschen können.

Aber sie war trocken . . .

Und dann wieder im April damals.

Der Schnee war fort. Fort bis auf den letzten Fetzen. Sogar im Fuchsloch, wo er oft noch am Sommerjohanne liegt, war keine Handvoll mehr zu sehen.

Schwarz, wie frisch aus der Tinte gezogen, standen unsere Wälder, und das Moos quietschte, wenn ich in meinen schweren Stiefeln durch die Tannen schritt.

Überall war endlich die quellende Vorfrühlingsnässe, die die übrige Welt wohl schon im Februar hat, und die mir von meinem medizinischen Standpunkt aus vorkommt wie ein guter, reichlicher, neunmalgesegneter Schweiß, mit dem das alte Weiblein Erde die letzten Butzen harten Winterübels hinausschwitzt.

Heller Tag war's. Ich stand in meiner Stube und putzte meine Flinte. Hessigheimer hatte ich keinen getrunken.

Die Sonne schien auf den blanken Flintenlauf, als ich ihn hochhob und hindurchsah. 116

Und da fing die Dachrinne an zu rieseln und zu glucksen. Mir sank der Arm. Ich spürte, wie mir das Blut gegen den Kopf stieg.

Das Fenster machte ich auf und ich sah die trockene Dachpappe. Am Frühlingshimmel aber glitten weiße, federige Wölkchen lautlos über die Wälder.

Still schloß ich mein Fenster. Den Johann und Donna Anna rief ich nicht.

Meine Flinte habe ich zusammengesetzt und das Putzzeug weggeräumt.

Dann machte ich meine Instrumente in Ordnung, zog meine Reitstiefel an und wartete.

Ja, ich wartete. Draußen war immer das rieselnde, gurgelnde Weinen.

Und dann kam der lange Metzgerfritz von N. (Namen tun nichts zur Sache), der Beine hat wie ein Storch und laufen kann wie ein Patagonier.

Heute aber war er gerannt wie des Teufels Botengänger. Der Schweiß stand ihm auf dem verzerrten Gesicht. Eine Mütze trug er nicht.

Er stammelte etwas, und dann schrie er und sah plötzlich grauweiß aus wie das leibhaftige Entsetzen.

Dort drunten in jenem Tal, über dem der blaue Fernendunst des Frühlings lag, war ein Haus 117 eingestürzt. Ein Wirtshaus, das kunstvoll in die Höhe gehoben werden sollte und das aus diesem Anlaß voll fröhlicher Gäste war.

Und nun lagen sie alle unter den Trümmern. – Den Menschen fing es an zu schütteln, als er mir das erzählte; die Augen quollen ihm vor.

Ich aber habe meinen Gaul aus dem Stall gerissen.

Weite Kehren muß die Straße machen, um hinabzukommen in den Wiesengrund.

Eine steile Bergschrunde, von abgefallenen Tannennadeln so glatt wie die Haut des Erzvaters Jakob, schneidet die Windungen ab.

In dieser Schrunde ist der Metzgerfritz abgefahren auf seinen guten Lederhosen.

Ich aber lag auf meinem Gaul, jagte durch den Wald und fühlte etwas auf den Lippen brennen, was keine Koransure war.

Hinter den Felsen hervor und unter den Tannen hin hörte ich es gellen: »Meinest du, die Achtzehn, auf die der Turm von Siloah fiel und erschlug sie, seien Sünder gewesen vor andern?«

Feueräugig glotzte etwas in mein gemächliches Leben, in die weltfernen Wälder herein, was nicht im Karl May stand und nicht im Gerstäcker . . . 118

Und nun das dritte und bis heute letzte Mal.

Seit vielen Jahren haben wir es so gehalten, mein Freund, der Knallbaron, und ich: Wir nahmen am Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezember die Flinten über und streiften bis zur Dämmerung im Wald umher. Ein Wiesel schossen wir oder einen Raben, und danach ließen wir uns das eine Jahr bei mir, das andere Jahr beim Knallbaron häuslich nieder, um so gut es ging den heiligen Abend zu feiern.

Der Knallbaron wohnte ein Stündchen von mir auf einem Gut, an dem etwa zwanzig Familienzweige ausdauernd sangen. Er war Junggeselle wie ich, hatte eine alte Haushälterin wie ich, wußte nicht recht, zu was der liebe Herrgott sich die Mühe mit der Erschaffung des Menschen gemacht hatte, genau wie ich, und feierte im übrigen die Feste wie sie fielen.

Ich glaube, er hat nie im Leben jemand ein Leid getan außer denen, die durch sein bloßes Erscheinen in der Welt um das Majorat kamen.

Seinen Spitznamen trug er, weil er es liebte, das Einerlei des Lebens in unseren Wäldern durch knallende Pfropfen zu durchbrechen.

In meiner Stube saßen wir, hatten ein Fläschlein neben uns stehen und spielten das königliche Spiel. 119

Draußen pfiff ein höllisch spitziger Wind über ganz trockenes Erdreich. Es hatte noch keine Flocke geschneit den ganzen Winter, und mancher Acker auf der Höhe war nicht wie sonst bestellt, weil der Pflug die Scholle nicht meisterte.

Ich sehe es noch, wie der Knallbaron mit seiner weißen Königin einen Zug quer übers ganze Feld tat.

Sein rundes, rotes Vollmondgesicht schmunzelte. »Die da ist das einzige Frauenzimmer, das sich vernünftig dirigieren läßt«, sagte er.

Da fing die Dachrinne an. – – –

Ich nahm die Hand vom Brett. Nach unserer Flasche sah ich, die neben den Gläsern stand. Sie war noch fast voll. Der Baron blickte nicht auf. Er dachte über seinen nächsten Zug nach.

»Du,« sagte er nach einiger Zeit ungeduldig, »du bist am Zug.«

Aber ich konnte mich nicht rühren. Wie ein Bann lag es auf mir.

»Horch,« sagte ich, »horch doch!«

Er hob den Kopf. Das Schmunzeln lag noch auf seinem Gesicht. Und dann, als er mich anblickte, richtete er sich auf und fragte: »Was gibt's denn?« 120

Ich flüsterte. Um die Welt hätte ich nicht laut reden können. Wie wenn eine Hand an meiner Kehle läge, war mir's. »Hör' doch, wie es in der Dachrinne tut – – –«

Er schob seinen Stuhl etwas zurück. Mit vorgeneigten Köpfen saßen wir beide – –

»Dir träumt –« sagte er dann laut nach langer Zeit. Ich glaube, ich bin zusammengezuckt beim Klang seiner Stimme. Wie ein schriller Ton schnitt sie in das leise, gleichförmige Weinen herein, das ich hörte.

Ich trank hastig mein Glas aus, weil mich fror, wie wenn ich in nassen Kleidern steckte.

Der Baron hob sein Glas. »Prost, Alter! Du hast Nerven.«

Da spielten wir weiter und weiter und ich verlor viermal hintereinander. Dann ging mein Partner.

Ich aber saß, und der Abend ging seinen Gang, der heilige Abend, der die goldenen Funken streut ins dunkle Land der Irdischen.

Die Anna steckte den Kopf zur Tür herein. »I' geh jetzt zu meiner Schwester. I' will au' mein' christliche' Weihnachtsobed. Gut' Nacht!« 121

Der Johann kam: »Herr Doktor, könnt' i' net zu's Webers Christine auf e Stündle oder zwei?«

Doch, er könnte. 's Webers Christine ist eine Taglöhnerin von achtzig Lenzen. Aber sie hat eine Enkelin bei sich, die zwanzig zählt. So dumm ist der Johann hoffentlich nicht, daß er die beiden verwechselt.

Ich saß allein. Der eisige Wind pfiff ums Haus. Leer war die Flasche, leer die Gläser. Das des Knallbarons stand neben dem meinen.

Ich weiß nicht, warum ich es auf einmal in die Höhe nahm, umdrehte und wegstellte.

Dann stand ich auf. Es litt mich nicht mehr. Langsam schritt ich im Zimmer auf und ab und – – Ja gewiß, ich wartete.

Kein Bote kam. Kein Klopfen.

Ich trat ans Fenster und sah sie über den Wäldern liegen, die heilige Nacht, von der die Kinder jubelnd und die Alten mit erstickten Tränen singen.

Als ein weißlicher Streif verlief die Straße da draußen. Mir kam es vor, als verlaufe sie endlos und zwecklos ins Endlose und Zwecklose. Kein Laut war zu hören, als der ein, – der eine. 122

Da sagte eine Stimme in mir: »Tu etwas, bleibe nicht so stehen und starre in die Nacht, sonst wirst du ein Narr!«

Ich kenne sie gut, diese Stimme. Sie hat mir seinerzeit, als ich noch nicht lange hier oben war, geraten, das Jagen anzufangen. Den Karl May und den Gerstäcker hat sie mir für einsame Abende empfohlen. Das andere Buch, in dem die Geschichte vom Turm zu Siloah steht, drückt sie mir zuweilen in die Hand.

Meinen dicken Weichselstock nahm ich aus der Ecke und löschte die Lampe.

Zwecklos gedachte ich auf der Straße hinzuschreiten, die mir ins Zwecklose zu verlaufen schien. Wie Höhlenmolche sind wir, wie blinde Maulwürfe. –

Am Wegzeiger nach Schwarzenbach lag mein Freund, der Knallbaron. Er schlug die Augen noch einmal auf unter meinen Händen und sagte: »Schach und matt!« Hirnschlag. Keine lange Sache.

Meinen Johann habe ich bei Webers Christine geholt.

Wir haben meinen Freund durch den Wald getragen. Über den Tannen standen die Sterne wie zitternde Funken, die hinausgestiebt sind ins All. 123

Der Johann sprach kein Wort auf dem ganzen Weg.

Die Liebe und der Tod machen Weise zu Narren und Narren zu Weisen.

Mir lief der Schweiß in Strömen von der Stirne.

Es war eine heilige Nacht.

Abergläubisch bin ich nicht. Nur die Dachrinne – –



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